100 Tage US-Regierung unter Biden: Progressive haben nichts mitzureden

Anti-Trump-Demonstrantin mit Sonett von Emma Lazarus aus dem Jahr 1883 über US-Immigranten. Was hat sich unter Biden geändert? Bild: Geoff Livingston, CC BY-NC-ND 2.0

Infrastruktur- und Bildungsprogramme im Inneren, Frontstellung nach außen. Warum selbst Progressive die 753 Milliarden US-Dollar für Militär und Krieg abgesegnet haben

"Amerika ist wieder in Bewegung", sagte US-Präsident Joe Biden am Mittwochabend (Ortszeit) in seiner ersten Rede vor dem Washingtoner Kongress. Er habe "eine Nation in der Krise" geerbt: "die schlimmste Pandemie in einem Jahrhundert, die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression, der schlimmste Angriff auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrieg." Die oppositionellen Republikaner rief er in der einstündigen Rede zur Zusammenarbeit für seine gigantischen innenpolitischen Reformvorhaben auf.

Sein Infrastrukturpaket namens "American Jobs Plan" im Umfang von zwei Billionen US-Dollar werde Millionen "gut bezahlter Arbeitsplätze schaffen" und den Kampf gegen den Klimawandel forcieren. Es soll noch vor dem Unabhängigkeitstag am 4. Juli vom Kongress verabschiedet werden. Sein 1,8 Billionen umfassender "American Family Plan" für Vorschulunterricht, Hochschulbildung und Steuererleichterungen für Familien werde die USA nach vorne katapultieren.

Bezahlt werden sollen die massiven Pakete durch Steuererhöhungen für Reiche und Unternehmen, mit Spitzensteuersätzen von bis zu 43,3 Prozent. Biden warb darüber hinaus für umfassende Polizeireform und für Gleichstellungsmaßnahmen für Frauen. "Wir arbeiten wieder, träumen erneut, entdecken wieder, führen die Welt neu an", sagte er mit Verweis auf die Erfolge im Kampf gegen die Corona-Pandemie.

Mehr als die Hälfte der Erwachsenen hat bereits eine Impfdosis erhalten. Schon im März hatte der von den Demokraten knapp dominierte Kongress den "American Rescue Plan" mit einem Umfang von zwei Billionen US-Dollar verabschiedet, der die sozialen Härten der Corona-Pandemie abfedert.

Wer hätte das von dem als "Sleepy Joe" (Trump) und als wegen seines Alters auch von Linken für unzurechnungsfähig erklärten 78-Jährigen noch vor einem Jahr gedacht? "Überraschend", "erfrischend", "eine angenehme Überraschung" - so beurteilen progressive und linke Gruppierungen und Prominente heute in weiten Teilen übereinstimmend die ersten 100 Tage der Biden-Regierung.

Weder das Ausmaß noch die Geschwindigkeit, mit denen die neue Regierung nach Trump ihre innenpolitischen Reformvorschläge vorträgt, war erwartet worden. So manche Linken attestieren Biden und seinem Regierungsteam heute sogar allzu enthusiastisch, er habe sich von der neoliberalen Doktrin der Vorgängerregierungen abgewendet.

Außenpolitisch äußerte sich Biden bei seiner Kongressrede nur im Exkurs. Dabei machte er allerdings deutlich, wer unter seiner Regie der Hauptkonkurrent und -gegner ist: China. Das war keine Überraschung.

Entsprechend sieht die Bewertung der Biden'schen Außen- und Militärpolitik von links her aus. Die vor 19 Jahren gegen den Irakkrieg gegründete feministische Aktionsgruppe "Code Pink" erklärte beispielsweise in ihrem jüngsten Mitgliederrundbrief, von der Pandemiebekämpfung über Infrastrukturpläne bis hin zur Klimapolitik seien die Biden'schen Initiativen vielversprechend. Aber jenseits davon, in der Außenpolitik, sei der Regierung die Note "mangelhaft" auszustellen. Denn geändert habe sich dort substanziell nichts.

Lichtblicke und Fortführung der Trump'schen Außenpolitik

Es gebe zwar mit der Abkehr von einigen der schlimmsten Maßnahmen der Trump-Regierung Lichtblicke, etwa die Ankündigung, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, die Verlängerung des Start-Abkommens mit Russland, den Wiederbeitritt zum Pariser Klimaabkommen, die Rücknahme der Sanktionen gegen den Internationalen Gerichtshof und die Wiederaufnahme von Hilfeleistungen an Palästinenser:innen.

Aber es handele sich nur um ein paar Lichtblicke, die für sich genommen dürftig seien. Der große Rest bestehe aus Unterlassungsleistungen, das heißt einer Verlängerung der Trump'schen Außenpolitik, gekoppelt mit der Fortführung der althergebrachten imperialen US-Hegemonialpolitik.

Nicht nur "Code Pink", sondern viele weitere progressive Initiativen verweisen dabei auf den US-Militärhaushalt, der seit Jahrzehnten wächst, beziehungsweise dessen Wachstum bewusst gefördert wird. Etwa schlug Joe Biden Anfang April neben der Erhöhung nicht-militärischer Ausgaben auf 769 Milliarden US-Dollar für das Fiskaljahr 2022 (das diesen Oktober beginnt) auch 753 Milliarden US-Dollar für das Verteidigungsministerium vor.

Falls der Kongress zustimmt, wären das 12,3 Milliarden US-Dollar mehr fürs Militär als im laufenden Jahr und ein neuer Rekord. Der demokratische Sozialist Bernie Sanders, der den Haushaltsausschuss des Senats leitet, äußerte demgegenüber "schwere Bedenken". Die USA gäben bereits mehr für das Militär aus als die nächsten zwölf Staaten zusammengenommen. Es sei überreif, sich die "massiven Kostenüberschreitungen, Verschwendung und Betrug vorzunehmen, die im Pentagon herrschen", sagte er.

Sanders bezog sich dabei auf eine Studie des Internationalen Instituts für Strategische Studien. Danach gaben die USA im Jahr 2020 knapp dreimal so viel Geld für Verteidigung aus als die Rivalen China und Russland zusammen.

Das US-Budget fast viermal höher als das von China (193,3 Mrd. US-Dollar) und mehr als zwölfmal höher als das von Russland (60,6 Mrd. US-Dollar). Zum Vergleich: Nato-Spitzenreiter in Europa waren Großbritannien mit Militärausgaben in Höhe von 61,5 Milliarden US-Dollar, gefolgt von Frankreich und Deutschland.

Die Finanzierung des Militär-Industrie-Komplexes durch den Kongress erfolgt seit 75 Jahren nach dem Schema einer "aufsteigenden Treppe", wie die linke Haushalts- und Rüstungsexpertin Lindsay Koshgarian gegenüber Telepolis erläuterte. Bei jedem militärischen Konflikt werde das Budget weiter erhöht. In "Friedensphasen" gehe es mitunter zwar noch einmal leicht zurück, "aber es fällt nie wieder auf das Niveau zurück, auf dem es sich dem jeweiligen Konflikt befand."

Dieser Trend stoße dabei unabhängig von der jeweiligen Regierung auf die überwältigende Unterstützung in beiden Parteien und sei "geradezu sakrosankt". Die Art und Weise, wie die Haushaltsgesetze Jahr für Jahr zustande kommen, ist dabei den Interessen des Militärs und der Rüstungsindustrie angepasst.

So befinden sich Ausgabenerhöhungen für das Militär meist im selben Entwurf wie innenpolitische Ausgabenerhöhungen, was militärkritische Abgeordnete und Senatoren bei Abstimmungen vor ein Dilemma stellt.

Massive US-Rüstungsausgaben stellen progressive Abgeordnete vor ein Dilemma

Offiziell beginnt die Haushaltsplanung jedes Jahr, wenn der Präsident im US-Kongress eine Budgetanfrage für die gesamte US-Bundesregierung einreicht, inklusive des Militärs. Diese Anfrage ist nicht rechtskräftig und wird auch nie zum Gesetz, sondern ist der Beginn der Haushaltsverhandlungen.

Der Kongress bearbeitet das restliche Verfahren komplett allein. Der formelle Prozess läuft dann so ab, dass der Kongress zwölf verschiedene Gesetzesentwürfe erlässt, die zusammen den gesamten US-Bundeshaushalt finanzieren.

Einer dieser Entwürfe ist dann auf das gesamte Verteidigungssystem zugeschnitten, also das Verteidigungsministerium, die Atomwaffen unter dem Energieministerium und den Rest des US-Militärs. Diese zwölf Gesetzesentwürfe müssen dann vom Repräsentantenhaus und dem Senat, und allen weiteren Instanzen des Gesetzgebungssystems bearbeitet werden.

Die Realität sieht laut Koshgarian aber anders aus.

In Wirklichkeit verabschiedet der Kongress Gesetze in großen Stücken, in sogenannten Omnibus-Gesetzen. Da wird oft der gesamte Haushalt, also fast anderthalb Billionen US-Dollar, in einem Gesetz allein verabschiedet. Es wurden schon lange keine einzelnen Gesetze für die verschiedenen Haushalte mehr implementiert.

Die Verhandlungen finden zwischen militaristischen Fraktionen, die die Militärausgaben vergrößern wollen, und nicht unbedingt friedfertigen, aber weniger militaristisch geneigten Vertretern statt.

Es gibt also Kongressabgeordnete, die sich für höhere Militärausgaben einsetzen, und solche, die Inlandsausgaben priorisieren. Die letzteren müssen oft höheren Militärausgaben zustimmen, um mehr Geld für Sozialausgaben, Bildung oder andere innenpolitische Prioritäten zu bekommen. Dadurch sind selbst progressive Kongressabgeordnete, die eigentlich gegen hohe Militärausgaben sind, dazu gezwungen, für diese großen Haushalte zu stimmen. Ebene deshalb, weil diese nun mal auch höhere innenpolitische Ausgaben beinhalten.

Die globale Militärmacht der USA stützt sich auf fast 800 Stützpunkte in über 70 Ländern. US-Spezialeinheiten operierten 2016 in 138 Ländern. Der Außenpolitikexperte John Feffer warnt davor, hinter dem geplanten Abzug aus Afghanistan den Anfang vom Ende "immerwährender US-Kriege" zu sehen. Der "institutionelle Apparat", so Feffer, bleibe unangetastet.

Die Biden-Regierung sei innenpolitisch reformorientiert und setze auf wirtschaftliche Expansion. Gleichzeitig richte sie ihre militärischen Kapazitäten "auf die Herausforderung aus, die China darstellt, und in einem geringeren Ausmaß auf Russland".

Außen- und militärpolitisch haben Progressive in der Biden-Regierung nichts mitzureden. Mit freundlichen Gesten gegenüber Verbündeten und einer erklärten Konfrontationsbereitschaft gegenüber China und Russland herrscht ein anderer Ton als unter Trump. Aber in der Substanz handelt es sich um die Weiterführung der altgewohnten internationalen Politik, einzuordnen "zwischen Obama und Trump", wie es jüngst in der Washington Post hieß.

Neben dem Militärhaushalt und der Konfrontationsstellung mit China und Russland nannte "Code Pink" das außenpolitische Erbe aus der Trump-Ära, die Biden wohl nicht rückgängig machen wird: Sanktionen gegen Länder wie Iran, Venezuela, Nicaragua, Nordkorea und Syrien, massive Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die bedingungslose Unterstützung Israels.

Schließlich sieht die Biden-Regierung keinen Gewinn darin, die Sanktionsverschärfungen und die Blockade von Kuba aufzuheben. Den Bogen zwischen den erfreulich reformorientierten innenpolitischen Vorschlägen der Biden-Regierung und der globalen Hegemonie des US-Imperiums zog die Herausgeberin der linksliberalen Zeitschrift The Nation Katrina van den Heuvel. Eine fortgesetzte imperiale US-Außen- und Aufrüstungspolitik drohe Reformvorhaben im Inneren der USA aufzuweichen und zunichtezumachen, warnte sie.

Ein wirklich wegweisender Präsident würde die Militäroperationen, die ablenken und ins Leere laufen, einstellen. Die USA können es sich schlichtweg nicht leisten, auf dem gesamten Globus die Rolle der "unverzichtbaren Nation" zu spielen und gleichzeitig für den Wiederaufbau einer lebendigen Demokratie und vitalen Wirtschaft zu sorgen.

Große Nationen und Staaten fallen in sich zusammen, wenn sie sich diesen Realitäten versperren. In Bidens Innenpolitik scheint diese Erkenntnis eingeflossen zu sein. Die Frage ist aber, ob seine Politik der nationalen Sicherheit davon einen Schimmer hat.

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