2 plus 1 = 1: Coda für Frau Monssen-Engberding

Seite 2: Der Tod hat keine Balken

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Typische Bundesprüfstellenprosa ist auch das hier: "Jack richtet den Mann mit folgenden Worten hin: ‚Ich weiß, dass du ihn (gemeint ist der Bruder) nicht umgebracht hast.’ Trotzdem ersticht er diesen mit einem Messer." Keine Angst. Jack ersticht seinen gemeinten Bruder nur in dieser Inhaltsangabe; im Film ist Frank da schon tot und begraben. Erstochen wird vielmehr Albert Swift, der Freund aus Kindertagen, und zwar, weil er Jacks Nichte in dem Pornofilm missbraucht hat, um den sich alles dreht. Und wie geht es dann weiter? Laut Inhaltsangabe wie folgt: "Das nächste Opfer von Jack ist ein Mann, der mit seiner Nichte Sexualverkehr ausgeübt hat. Auch diesen bringt Jack um, in dem [sic] er ihn zunächst zusammen schlägt [sic] und von dem Balken [sic] eines Hauses in die Tiefe stürzt." Der Mann hat weder mit seiner eigenen noch mit Jacks Nichte Sexualverkehr ausgeübt, weil die BPjM Albert Swift mit Cliff Brumby verwechselt, der in Newcastle die Spielautomaten betreibt und die Nichte nur aus besagtem Pornofilm kennt, vom Zuschauen.

Beim "Balken" hat sich die Bundesprüfstelle vertippt. Es ist nicht wirklich ein Balkon, sondern die Außentreppe eines im Bau befindlichen (und nie eröffneten) Parkhauses. Brumby, der Emporkömmling, möchte ganz oben ein Luxusrestaurant einrichten lassen, in dem er die Honoratioren von Newcastle begrüßen kann, nachdem er sein Schwarzgeld gewaschen hat. Doch ich will da weder zu genau sein noch auf den explizit politischen Gehalt der Szene (der König wird von seiner Burg gestürzt) eingehen, weil das zu lange dauern würde. Für die BPjM jedenfalls ist Brumby (oder sein toter Körper) ein wichtiger Zeuge, weil ein Film laut Jugendschutz zu indizieren ist, wenn er "durch die Art der Gewaltdarstellung in erheblichem Maße verrohend wirkt". Und wie geht das mit der Verrohung? Ganz einfach: "Verrohend wirkende Medien sind solche, die geeignet sind, auf Kinder und Jugendliche […] einen verrohenden Einfluss auszuüben." Exakt. Warum trifft das auf Get Carter zu? Wegen Swift und Brumby: "Bezüglich der verrohenden Szenen hat das 3er-Gremium auf folgende Szenen verwiesen: In aller Ausführlichkeit ist zu sehen, wie Jack den Informanten, der vor ihm auf den Knien liegt, ersticht. Ebenso gilt dies für die Szene, in der Jack den Konkurrenten Fletchers vom Balkon wirft, so dass dieser zerschmettert auf einem demolierten Auto liegt. Deutlich wird die entstellte Leiche des Opfers dargeboten."

Get Carter

Swift ist kein Informant, sondern der Mann, der in einem von Kinnear produzierten Pornofilm Carters minderjährige Nichte (oder Tochter) Doreen penetriert, und das Erstechen ist weniger ausführlich als erschreckend professionell. Das ist das Schockierende daran. Mit Carter sehen wir einen Verbrecher in Aktion, der mit Gewalt sein Geld verdient. Wir werden Zeuge, wie schnell er einen Menschen töten kann. Zwei Stiche, und Swift haucht sein Leben aus (im Hintergrund hören wir das furchtbar traurige Nebelhorn eines Schiffes). Die Art von Gewalt, die das 3er-Gremium zu sehen glaubte, kann man in den Prügelszenen des Remakes mit Stallone finden, nicht im Original. Bei Hodges dringt Carters Messer mit derselben Professionalität in Swifts Körper ein wie Swifts Penis - im Pornofilm und unterhalb des Bildausschnitts - in den Körper von Doreen. Hodges stellt so eine Verbindung her zwischen der sexuellen Gewalt und der mit Messern und Pistolen - nicht um ein alttestamentarisches "Auge um Auge" zu propagieren, sondern um a) ganz klar zu machen, dass dieser Geschlechtsverkehr im Porno eine brutale Vergewaltigung ist (unabhängig davon, ob Doreen vorher zugestimmt hat oder nicht) und weil es b) eines der Themen von Get Carter ist, dass sich die durch Gangster und eine kriminelle Unterwelt repräsentierte Gewalt immer weiter ausbreitet, dass die Korruption nach und nach alle Bereiche der Gesellschaft erfasst.

Hier kommt Beweisstück Nr. 2 ins Spiel, Cliff Brumby. Das ist der Herr, der sein durch illegales Glücksspiel erworbenes Vermögen in Immobilien investiert und sich beim Polizeiball als Biedermann geriert. Wer den Film mit offenen Augen sieht wird sofort bemerken, dass die Leiche eine ganz andere Funktion hat, als "entstellt dargeboten" zu werden. Interessanterweise hält das 3er-Gremium nur das demolierte Auto für erwähnenswert. Ist das Beschädigen eines PKW ein Indizierungsgrund, im Land der Autobauer? Wo kam er her, der Wagen? In dem Auto fuhr eine Mutter mit ihren beiden Töchtern am Parkhaus vorbei, als Brumby ihr aufs Dach fiel. Jetzt sehen wir, wie zwei verletzte Kinder aus dem PKW geholt werden, die Mutter scheint unter dem Aufprall des Körpers gestorben zu sein (mit "wir" meine ich alle, die nicht so auf eine bestimmte, notfalls herbeiphantasierte Art der Gewaltdarstellung fixiert sind wie die Bundesprüfstelle). Im Audiokommentar der DVD, die - folgt man dem "Jugendschutz" - bei uns nicht beworben und nur unter dem Ladentisch verkauft werden darf, sagt Michael Caine, was diese Szene zeigt: dass es ein Irrtum ist zu glauben, man könne die von kriminellen Aktivitäten ausgehende Gewalt auf bestimmte Bereiche der Gesellschaft begrenzen.

Jeder kann ganz schnell betroffen sein. In Get Carter kommt es wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Nicht um das Vorzeigen einer Leiche geht es hier oder um ein kaputtes Auto, sondern um die unschuldigen Opfer, die in dem Auto saßen. An dieser Stelle könnte man sich an Glenda erinnern, die Geliebte von Kinnear und auch die von Brumby, der ihr den Sportwagen geschenkt hat, in dessen Kofferraum sie kurz zuvor gestorben ist - im Wasser des Tyne, der in Get Carter zum Styx wird, dem Fluss der Unterwelt (unverkennbar, wenn man schon mal was von griechischer Mythologie gehört hat - darum auch die Fähre, an deren Anlegeplatz Carter den Wagen parkt). Glenda ist nicht so unschuldig wie die Mutter mit ihren Kindern, aber wie diese das Opfer einer Mischung aus krimineller Gewalt (Carter sperrt sie in den Kofferraum) und im falschen Moment am falschen Ort sein (Carters Widersacher wissen nicht, dass Glenda in dem Kofferraum steckt, als sie das Auto in den Fluss schieben).

Alles Fletcher oder was?

Natürlich gibt es viel Gewalt in Get Carter - nicht verglichen mit bestimmten Tatort-Folgen der vergangenen zehn Jahre oder den Ballerserien bei RTL, aber für einen Film von 1971, den ein großer amerikanischer Verleih (MGM) in die Kinos brachte. Bei der Lektüre des Drehbuchs fiel das auch Bryan Mosley auf, dem Darsteller des Cliff Brumby. Mosley wusste nicht genau, ob es sich für einen gläubigen Katholiken wie ihn schickte, in so einem Film mitzuwirken. Also reichte er das Skript an seinen Beichtvater weiter, mit der Bitte um eine Stellungnahme. Ein paar Tage später meldete sich der Priester wieder. "Ich war ganz schön erstaunt", so Mosley, "als er sagte, dass es sich um eine sehr gute Geschichte mit einer Moral handle. Der Ton des Stücks, obwohl von Gewalt geprägt, billige solche Handlungen nicht - verurteile sie vielmehr. Ich war erleichtert und mit mir selbst im Reinen, als ich die Rolle annahm."

Die Moral, die der geistliche Herr der Geschichte attestierte und die im fertigen Film noch deutlicher ist als im Drehbuch, hat mit der Vorlage von Ted Lewis zu tun, mit der Haltung des Regisseurs Mike Hodges (auch mit der seines Hauptdarstellers und seines Kameramanns) und damit, dass der Film so präzise gearbeitet ist, sich jede Szene mindestens in einer anderen spiegelt und die Geschehnisse auf eine Weise kommentiert, an der Mosleys Beichtvater nichts auszusetzen hatte. Man muss schon - mit Verlaub - einen ordentlichen Tunnelblick haben, um davon so gar nichts mitzukriegen und stattdessen wirre Sätze hinzuschreiben wie diesen: "Die Geliebte Fletchers lässt er von Fletchers Helfern in einem Hafenbecken versenken, wobei beide Männer nicht wussten, dass sich die Frau in einem Auto befunden hat, welches sie in das Hafenbecken gestoßen haben." Ich glaube fast, das 3er-Gremium hat Get Carter schlicht nicht verstanden. Nein, schlimmer: Das 3er-Gremium von 1984 (erste Indizierung) hat den Film nicht verstanden, und das 3er-Gremium von 2009 (Folgeindizierung) noch weniger.

Um Irrtümern vorzubeugen: Get Carter ist ein enorm vielschichtiger Gangsterfilm, kein avantgardistisches Experimentalstück. Erzählt wird - mit einem Drive, der sogar den von Lewis’ Roman noch übertrifft - eine sehr geradlinige Geschichte. Man muss weder studiert haben noch ein Filmexperte oder ein Kunstprofessor sein, um zu kapieren, was da vor sich geht. Man muss nur Hinschauen und Hinhören wollen. Das reicht völlig aus. Bei der Bundesprüfstelle hapert es schon beim Verstehen der Figurenkonstellation. Cliff Brumby wird mit Albert Swift verwechselt und Glenda, "die Geliebte Fletchers", ist gar nicht Fletchers Geliebte, weil das eine ziemlich anstrengende Fernbeziehung wäre. Gangsterbosse halten sich gern eine Geliebte, die im selben Ort wohnt. In dem Fall ist das Newcastle. Darum ist Glenda die Geliebte von Cyril Kinnear, dem König der dortigen Unterwelt. Als Kinnear ist übrigens John Osborne zu sehen. Dieser Mensch war entweder bereit, für Geld auch in einem jugendgefährdenden Machwerk mitzuspielen oder er entdeckte ähnliche Qualitäten an Get Carter wie Mosleys Pfarrer. Als einer der bedeutendsten britischen Dramatiker seiner Generation müsste er zum Lesen und Verstehen des Drehbuchs in der Lage gewesen sein (John Osborne, Frau Monssen-Engberding: Autor des Stücks Look Back in Anger, nach dem die Angry Young Men benannt sind, eine Schriftstellergruppe; für die britische Literatur ganz wichtig; nimmt man bei uns in der Schule durch).

Wenn das jeweilige 3er-Gremium wenigstens die Inhaltsangabe auf der Verpackung der indizierten Videokassette gelesen hätte wäre den Jugendschützern vielleicht aufgefallen, dass der Pate von Newcastle Kinnear heißt und nicht Fletcher. Das steht da nämlich: "Über die Exfreundin seines Bruders kommt er [Carter] an Cyril Kinnear heran. Er ist der Mann, der hier im Norden die Fäden zusammenhält." Bei der BPjM kommt Kinnear gar nicht vor. Kein Wunder, dass sich die Fäden da verwirren. Anzeichen für ein sinnerfassendes Sehen kann ich in den zur Indizierung führenden Inhaltsangaben nicht erkennen. Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach. Es gibt drei Gangsterbosse in Get Carter: 2 Fletchers (in Worten: zwei) in London, die Brüder Sid und Gerald, für die Jack Carter arbeitet und 1 Gangsterboss (eins) in Newcastle, Cyril Kinnear. 2 und 1 macht zusammen 3 (drei). Bei der Bundesprüfstelle kommt 1 dabei heraus. Da ist alles Fletcher.

In der Inhaltsangabe von 1984 gibt es den "Verbrecher Fletcher" [Kinnear]; "die Geliebte Fletchers" [Glenda, die Geliebte von Kinnear und Brumby]; einen "Helfer" Fletchers [Kinnears]; "einen weiteren Helfer Fletchers" [durch Zufall richtig und doch irgendwie auch falsch: gemeint ist Peter the Dutchman, von den Brüdern Fletcher nach Newcastle geschickt, wo er Kinnear helfen soll, der beim 3er-Gremium Fletcher heißt]; einen "Konkurrenten" Fletchers [Brumby, dessen Spielautomaten Kinnear übernehmen will]; einen Fletcher [Kinnear], dem Carter den Mord an der "verräterischen [?] Freundin seines Bruders" in die Schuhe schiebt; und einen "von Fletcher [Kinnear] bestellten Killer". Wer jetzt denkt, dass da eben ein Name mit einem anderen verwechselt wurde, was sonst nichts ändert: Falsch. Der Film entwirft ein Netzwerk aus geschäftlichen, familiären und sexuellen Beziehungen, das eine korrupte, hierarchisch organisierte Gesellschaft durchdringt. Davon bleibt nicht viel, wenn man alle Gangsterbosse unter "Fletcher" ablegt. Man versteht dann die Geschichte nicht und schreibt wirre Inhaltsangaben. Das 3er-Gremium von 2009 hat den Film auch nicht verstanden und den "Fletcher" des 3er-Gremiums von 1984 kommentarlos übernommen. 25 Jahre später und nichts dazugelernt. Sinnerfassendes Sehen von Filmen: Leider Fehlanzeige.

Pokerrunde bei Kinnear

Der Fairness halber muss ich anfügen, dass die beiden Fletcher-Brüder in der deutschen Fassung auf der indizierten Videokassette nicht zu sehen sind. Der Verleih, nehme ich an, wollte Konflikte mit dem Jugendschutz vermeiden, entfernte darum die erste Szene mit dem Porno-Diaabend im Penthouse der Londoner Gangster und fing lieber direkt mit dem Vorspann an (Carter im Zug nach Newcastle). Ich habe es den Mitgliedern des 3er-Gremiums gleichgetan und mir "den Videofilm in voller Länge und bei normaler Laufgeschwindigkeit angesehen", um festzustellen, ob aus Get Carter ein unverständlicher Film geworden ist, weil ein Pfuscher neun Minuten herausgeschnitten hat. Resultat: Auch bei Jack rechnet ab muss der Zuschauer weder Vorwissen mitbringen noch eine Intelligenzbestie sein, um zu verstehen, dass Carter in London für zwei Gangsterbosse namens Fletcher arbeitet, dass die Fletchers von ihrem Geschäftspartner Kinnear in Newcastle mit Pornofilmen beliefert werden, dass sie Carter zwei Männer hinterherschicken, weil seine Nachforschungen den Geschäften schaden könnten und so weiter. Alles leicht verständlich.

Get Carter

Trotzdem gibt es diese konfusen "Fletcher"-Inhaltsangaben der BPjM. Wieso? Stellen wir uns vor, rein hypothetisch, dass wir da sitzen und nicht ganz bei der Sache sind, weil wir, beispielsweise, gezwungen sind, uns schon wieder einen dieser Schundfilme anzuschauen, ohne Vorspulen und in voller Länge, und weil wir ungeduldig auf die verrohenden Gewaltdarstellungen warten, die wir in unserem Protokoll vermerken werden, weil Filme mit solchen Darstellungen geeignet sind, auf Kinder und Jugendliche einen verrohenden Einfluss auszuüben und folglich zu indizieren. Was wäre dann? In so einem Fall - das Verrohende kommt erst, wenn man da schon seit über einer Stunde sitzt - könnte ich mir vorstellen, dass man, geistig nun doch etwas ermüdet, Kinnear mit einem Fletcher verwechselt, von dem mehrfach die Rede ist, obwohl man ihn nie gesehen hat.

Ich denke da an die Pokerrunde bei Kinnear, in die Carter im ersten Viertel des Films platzt. Jack sagt "Mr. Kinnear" zu Mr. Kinnear, weil das eben Mr. Kinnear ist, der Geschäftspartner seiner beiden Chefs, aber das hat man schnell mal überhört, und dann will auch schon Glenda von Jack wissen, ob er vielleicht Fletcher kennt und Jack sagt, dass er in London für Fletcher arbeitet. Glenda ist angetrunken und beide, sie und Jack, wirken irgendwie amüsiert. Wenn man vorher - sagen wir - etwas abgelenkt war, könnte man das so deuten, dass sie sich einen Spaß daraus machen, über einen Fletcher zu sprechen, als ob das eine in London wohnende Person wäre, obwohl Fletcher (alias Kinnear) gegenüber auf dem Sofa sitzt. Beim Gehen sagt Jack wieder "Mr. Kinnear" zu Kinnear, und dann sagt er gleich noch einmal "Mr. Kinnear", und noch ein drittes Mal, bevor er das Haus verlassen hat, aber solche englischen Namen klingen irgendwie recht fremd, wenn man sich - rein hypothetisch - gerade darüber ärgert, dass man bei diesen Dialogpassagen nicht vorspulen darf, weil man das in der Indizierungsentscheidung so vermerken wird, und überhaupt ist der Name "Fletcher" viel einprägsamer, zumal die deutschen Synchronsprecher ihre Probleme mit "Kinnear" haben. Mit dieser Pokerrunde könnte die Verwechslung von Kinnear mit Fletcher angefangen haben, und wenn man jetzt noch meint, dass das einer dieser blöden Gewaltverherrlichungsfilme ist, in denen sowieso nichts stimmt, weil die Handlung nur der Ummäntelung der Verrohungsszenen dient - dann könnte sich so ein Fehler wie die Verwechslung von Fletcher und Kinnear bis zum Schluss und bis zur Inhaltsangabe fortsetzen, obwohl es keinen Sinn ergibt.

So könnte es gewesen sein. Wie aber ist es zu erklären, dass dem 3er-Gremium Nr. 2, in einem Abstand von 25 Jahren, exakt derselbe, zu konfusen Inhaltsangaben führende Verständnisfehler unterlief? Das 3er-Gremium nimmt sich nach einem Vierteljahrhundert die alte Videokassette nochmal vor, weil das eben sein muss. So sind die Regeln. Zuerst liest man die Inhaltsangabe in der Indizierungsentscheidung von 1984: "Jack untersucht den Tod seines Bruders und findet heraus, dass der Verbrecher Fletcher die Tötung des Bruders durch Eric befohlen hatte, da Jacks Bruder die Verbrecher auffliegen lassen wollte, die seine - des Bruders - junge Tochter für einen Pornofilm benutzt hatten." Aha, denkt man sich: Fletcher heißt der Mann im Hintergrund. Dann geht der Film los. Ein Mann fährt mit dem Zug, nimmt sich ein Zimmer, man sieht die aufgebahrte Leiche dieses Bruders. Verrohend ist das noch nicht. Endlich schlägt der Bösewicht einen Mann nieder, dringt in ein Haus ein - und dann sitzen alle auf Sofamöbeln rum, spielen Poker und unterhalten sich.

Allmählich verliert man die Geduld. Da spult man doch mal vor, oder man geht auf die Toilette, blickt auch mal aus dem Fenster, um zu sehen, wie das Wetter ist. Normalerweise funktioniert die Überprüfung auch ohne Ton, weil viel zu verstehen gibt’s bei diesem Schund sowieso nicht, aber in dieser gekürzten Fassung sieht man die Londoner Gangsterbosse nicht im Bild. Wenn man dann nicht zuhört kann es schon mal passieren, dass man bei der Figurenkonstellation daneben liegt. Merkt man nur nicht, und abschließend setzt man sich erleichtert hin und schreibt die neue Inhaltsangabe: "Wie bereits im Sachverhalt dargelegt, untersucht Jack den Tod seines Bruders und findet heraus, dass Fletcher der Hauptverantwortliche ist …" So hätte es sein können, war es aber natürlich nicht, weil man bei einer gewissenhaften Prüfung, zu der das 3er-Gremium verpflichtet ist, ganz einfach merken muss, dass Kinnear nicht Fletcher ist. Und vorgespult wurde selbstredend auch nicht. Steht so im Protokoll: "Die Mitglieder des 3er-Gremiums haben sich den Videofilm in voller Länge und bei normaler Laufgeschwindigkeit angesehen und die Entscheidung sowie die Entscheidungsbegründung in vorliegender Fassung einstimmig beschlossen und gebilligt." Ein Schuft wer denkt, dass hier gelogen wurde! Eine deutsche Bundesoberbehörde - zumal eine, die mit dem hohen moralischen Anspruch antritt, die Jugend vor Schund und Schmutz zu schützen - würde das nie tun. Dieser Fletcher wird ein Rätsel bleiben.

Freddie Mercury trifft Frau Monssen-Engberding

Möglicherweise hätte die "Verfahrensbeteiligte" (der Anbieter der indizierten Videokassette) die Vorsitzende des 3er-Gremiums, Frau Monssen-Engberding, darüber aufklären können, dass Kinnear nicht Fletcher ist und auch sonst in den beiden Inhaltsangaben nicht viel stimmt. Dieser Anbieter war scheinbar schon im Orwell-Jahr 1984 nicht zu ermitteln und 2009 auch nicht: "Die Verfahrensbeteiligte konnte nicht form- und fristgerecht über die Absicht der Bundesprüfstelle, über eine Folgeindizierung im vereinfachten Verfahren gemäß § 23 Abs. 1 JuSchG zu entscheiden, unterrichtet werden. Da trotz umfangreicher Recherchen eine ladungsfähige Anschrift einer Verfahrensbeteiligten nicht ermittelt werden konnte." Wieder mal typisch, kann man da nur sagen. Die Anbieter solcher jugendgefährdender Schmuddelware bleiben lieber im Verborgenen, wechseln dauernd Name und Anschrift, damit man ihrer nicht habhaft werden kann.

Es ist nicht so, dass Frau Monssen-Engberding und ihre Leute es nicht versucht hätten. Laut Bundesprüfstelle ist die Verfahrensbeteiligte die "IMV Vertriebs GmbH, Anschrift unbekannt". Wer umfangreich recherchiert kann nicht auch noch die vielen Buchstaben lesen, die auf der zu indizierenden Videokassette und der zugehörigen Verpackung stehen. Dafür muss man Verständnis haben. Ich andererseits will es immer ganz genau wissen. "Im Vertrieb der IMV aus dem Hause EuroVideo" steht da. Die trotz umfangreicher Recherchen nicht zu ermittelnde Anschrift der Firma EuroVideo ist: Oskar-Messter-Strasse 15, D-85737 Ismaning. Das ist ein Vorort von München. EuroVideo gehört zur Hälfte der Bavaria und zur Hälfte (seit letztem Jahr) der Telepool GmbH, die auf ihrer Website freundlicherweise ein Organigramm zur Verfügung stellt.

Diese neuen, von mir mit bis zu drei Mausklicks ermittelten Informationen werden Jack Carter nichts mehr nützen. Wahrscheinlich hätte die Firma EuroVideo schon 2009 müde abgewinkt, wenn die BPjM sie damals geladen hätte. Wer bezahlt schon 25 Jahre lang Lizenzgebühren für einen Film, den er nicht verkaufen kann, weil er verboten ist? Die indizierte Videokassette war 1984 von der MGM lizensiert, die 2010 Insolvenz anmelden musste. Vermutlich liegen die Rechte an Get Carter inzwischen auch für Deutschland bei der Firma Warner Bros., die den Film in Ländern ohne Bundesprüfstelle auf DVD vertreibt. Macht nichts. Die Indizierung gilt für alles, mit Fletcher oder ohne, nämlich auch für "Trägermedien, die mit einem Trägermedium, dessen Aufnahme in die Liste bekannt gemacht ist, ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind". Einfacher gesagt: Für die DVDs, die in den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Australien usw. erschienen sind. Durch die Indizierung der alten Videokassette (Jack rechnet ab - Ein Mann wird zur Bestie) sind das alles "jugendgefährdende Trägermedien" und dürfen laut Gesetz "nicht im Wege des Versandhandels eingeführt werden". Die Videokassette existiert praktisch nicht mehr. Auf DVD, außer als Bootleg, ist Get Carter in Deutschland nie erschienen (das macht kein kommerziell denkender Anbieter, weil es im besten Falle Geld kostet und sich nicht rechnet). Einführen darf man den Film nicht. Damit gibt es für volljährige Bewohner dieses Landes keine legale Möglichkeit, Get Carter zu erwerben (es sei denn, sie kaufen im Ausland und bringen den Film mit zurück, was auch wieder problematisch ist). Dass sich daran so gut wie keiner hält, steht auf einem anderen Blatt. Das Ganze nennt sich "Jugendschutz".

Was sagt nun Mike Hodges dazu, der Regisseur des Films? Ich habe ihn gefragt. Hodges hatte keine Ahnung, dass es in Europa noch ein Land mit einem Index gibt und folglich auch nicht, dass sein Film, der überall als Meisterwerk gefeiert wird, mit auf der Liste steht. Wenn schon, dann würde er gern mit Othello von Orson Welles und mit Polanskis Macbeth auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Außerdem lässt er ausrichten, dass er Mitte der 1960er eine Sendung über R. D. Laing und seine Versuche mit LSD produzierte, die nie im britischen Fernsehen gezeigt werden dufte und dass er der Regisseur des ersten Musikvideos ist, dessen Ausstrahlung von MTV verweigert wurde (Body Language mit Freddie Mercury). Jetzt kann er noch einen verbotenen Spielfilm in seinen Lebenslauf schreiben, weil sich das Land der Dichter und Denker eine Bundesprüfstelle leistet, die schon bei ihrer Gründung 1954 ein Anachronismus war. Der Jugendverderber Hodges hat auch einen Roman veröffentlicht, einen zweiten stellt er gerade fertig. Sollten diese Bücher je auf Deutsch erscheinen: Frau Monssen-Engberding - Sie wissen, was zu tun ist!

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.