20 Jahre Zerstörung der gesetzlichen Rente
Seite 2: Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente als Verfassungsbruch
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Die "Rentenreform" von 2001 mit der Einführung der neuen Erwerbsminderungsrenten anstelle der früheren Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten hat zu einem Abbau von sozialen Rechten bei der großen Mehrheit der abhängig Beschäftigten geführt.
So ist in Deutschland davon auszugehen, dass rund 60 Prozent der gesetzlich Rentenversicherten einen Berufsabschluss und rund zwölf Prozent einen Fachhochschul- bzw. Universitätsabschluss besitzen, nur circa zehn Prozent sind ohne abgeschlossene Ausbildung.
Für die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten war deshalb die Einführung der neuen Erwerbsminderungsrenten und die damit verbundene Abschaffung der früheren Berufsunfähigkeitsrente eine groß angelegte Enteignung im Bereich der Daseinsfürsorge und der bis dahin geltenden sozialen Rechte. Das ist aber bis heute in der medialen Öffentlichkeit kein Thema.
Diese Enteignung konnte nur deshalb ohne größere Widerstände von Seiten der Betroffenen durchgesetzt werden, weil die Gesetze unter Leitung eines sozialdemokratischen Ministers (Walter Riester) erarbeitet und von der damaligen rot-grünen Koalition beschlossen wurden. Sie finden bis heute uneingeschränkt Beifall bei den übrigen neoliberalen Parteien wie CDU/CSU und FDP.
Der Versicherungswissenschaftler Hans-Peter Schwintowski hat 2015 in einem Interview auf nachdenkseiten.de die Auffassung vertreten, die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit sei ein Verfassungsbruch gewesen. Er schlug daher eine Verfassungsbeschwerde vor.
Nach seinem Urteil hat die damalige Regierung beim Zerfleddern der gesetzlichen Rente Verfassungsbruch begangen, denn das Sozialstaatsprinzip, das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist, wurde verletzt. Außerdem hat der Staat als Rechtsstaat auch seine - ebenfalls aus Artikel 20 resultierende - Gewährleistungsverantwortung verletzt.
Im Gewerkschaftsforum heißt es dazu:
Wenn der Staat es unterlässt, die Grundabsicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit wieder in die gesetzliche Renten- respektive Krankenversicherung zu integrieren, muss schnellstens geprüft werden, ob im Wege einer Verfassungsbeschwerde eines berufsunfähig gewordenen Menschen, der nun keine Sozialleistung bekommt, der Staat zum Handeln verpflichtet werden kann.
Gewerkschaftsforum.de, 29.1.2020
Wenn man das liest, fragt man sich natürlich, warum das nicht schon längst passiert ist.
In einem "Sozialstaat", wie die Gesellschaft, in der wir leben, auch heute bei uns noch genannt wird, gilt der Grundsatz, dass der Staat für eine hinreichende Grundversorgung im Bereich der Kranken-, Renten-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung zu sorgen hat. Zu den Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung gehört es, das Risiko, berufsunfähig zu werden, abzusichern. Denn die Berufsunfähigkeit bedeutet genau genommen eine langanhaltende, dauerhafte Erkrankung eines Menschen, durch die er seinen Beruf nicht mehr ausüben kann.
Schussfolgerungen
Seit Jahren wird von den Sozialverbänden und Gewerkschaften eine gesetzliche Neuorientierung und Novellierung bei Erwerbsminderungsrenten vorgeschlagen.
Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass ältere Versicherte, die nur noch leichte Arbeiten sechs Stunden und mehr täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten können, bei denen vielfältige gesundheitliche Einschränkungen bestehen und denen in einer angemessenen Frist kein ihrem Leistungsvermögen entsprechender konkret vorhandener Arbeitsplatz nachgewiesen werden kann, einen erleichterten Zugang zur Erwerbsminderungsrente erhalten sollten.
Außerdem wird die Abschaffung der Rentenabschläge bei Erwerbsminderungsrenten durch z. B. Verlängerung der Zurechnungszeiten, wie das bei Arbeitsunfällen und Kriegsopfern der Fall ist, gefordert.
Eine zentrale Forderung ist auch die Wiedereinführung der Berufsunfähigkeitsrente, wie sie vor 2001 bestanden hat, zumal die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit nach Auffassung von Wissenschaftlern ein Verfassungsbruch gewesen ist.
Da die niedrige durchschnittliche Zahlbetrag der vollen Erwerbsminderungsrente auch mit der seit 2000 erfolgten Absenkung des Rentenniveaus zusammenhängt, muss diese Absenkung gestoppt und schrittweise rückgängig werden.
Bis dahin sollte auch für Erwerbsgeminderte eine deutlich angehobene Mindestrente in Betracht gezogen werden. Dass diese Vorschläge nicht utopisch sind, zeigen die Verhältnisse in unserem Nachbarland Österreich. Dort liegt das Rentenniveau bei etwa 90 Prozent des durchschnittlichen jährlichen Nettoverdienstes.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin-Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. Email: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
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