20 verlorene Jahre

Seite 2: Vorschläge für einen Gesprächsbalance

Aber dem Westen ist keine Verleumdung zu blöd. Mit einer in der diplomatischen Geschichte beispiellosen Frechheit wird Putin persönlich der Verbrechen bezichtigt, was jüngst in Bidens Äußerung (obwohl von einem Propagandisten in den Mund gelegt) gipfelte, er halte ihn für einen "Mörder".

Wenn man Putin etwas vorhalten kann, dann, dass er zu gutmütig auf solche Unverschämtheiten reagiert und es bei feiner Ironie belässt ("ich wünsche ihm Gesundheit"). Dem durchschnittlichen US-Fernsehkonsumenten entgeht diese wahrscheinlich und die hysterischen Kommentatoren sind zu stumpfsinnig, die folgenden Anspielungen zu verstehen, die ein paar Relativsätze enthalten.

Putin sollte solche Lümmel mit Mikrofon vor die Tür setzen oder eine Gegenfrage der Art stellen: "Mörder? Darf ich das als Jobangebot in ihrer Regierung mit den Kollegen Mike Pompeo, Donald Rumsfeld, Gina Haspel auffassen?" Anstatt eine Tagesordnung von Gipfeltreffen zu akzeptieren, in der "über die Krim und über Nawalny gesprochen werden muss", sollte die russische Delegation vielleicht entgegnen: "Gerne, dann finden wir sicher auch Zeit für die Themen Assange, Snowden, Manning, Guantánamo und die letzten paar Kriege; und wie wäre es eigentlich mal mit einer unabhängigen internationalen Untersuchung von 9/11?"

Das mögen Wunschträume sein. Realität ist aber, dass Russland in den letzten beiden Jahrzehnten eine weitgehend friedliche, deeskalierende und in vielen Konflikten vermittelnde Politik verfolgt hat. Putin zitiert zurecht Einstein, der sagte, der Vierte Weltkrieg werde mit Steinen und Stöcken geführt; bei den letzten vier US-Präsidenten will man nicht darauf wetten, dass ihnen der Name überhaupt bekannt ist.

Mit einem Einmarsch in der Ukraine hätte Putin 2014 der russischsprachigen Bevölkerung zu Hilfe eilen können, nicht nur im Donbass. Allein das Massaker von Odessa hätte Anlass geboten. Er tat es nicht, weil er die Menschen in der Ukraine nicht für das Zündeln des Westens bestrafen das Verhältnis dem "Brudervolk" nicht zerstören wollte.

Zurückhaltend reagierte Putin auch auf die Raketenangriffe auf Syrien, wo seine eigenen Truppen unter Beschuss kamen. Im Übrigen hatte erst deren Eingreifen den IS gestoppt, der vom Westen gezüchtet und von diesem in geheuchelter Hilflosigkeit nicht bekämpft worden war. Ereignisse wie den Abschuss eines Kampfjets durch die Türkei oder den Tod von 20 russischen Soldaten, für den mittelbar Israel verantwortlich war, hätten andere als Kriegsgrund benutzt.

Putin blieb moderat bis zur Grenze dessen, was seine eigene Regierung noch tolerierte. Während die USA in China, Venezuela oder im Iran Konflikte schüren, manchmal mit dreisten Mordanschlägen, tritt Russland oft als Vermittler auf - z.B. in Berg-Karabach und sogar im Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, wobei Putin das kleine Wunder gelingt, gleichzeitig zu Israel gute Beziehungen zu unterhalten.

Zar Putin der Schreckliche

Einer der dümmsten küchenpsychologischen Vorwürfe ist, Putin wolle die Sowjetunion, wahlweise das Zarenreich, wiederherstellen. Die Distanzierung von den stalinistischen Verbrechen und dem totalitären System, inklusive der Öffnung aller Archive, sogar Ehrungen von sowjetischen Dissidenten, lassen nichts zu wünschen übrig.

Nichtsdestotrotz war der Zerfall der Sowjetunion für viele ethnische Russen, die sich nun zu Millionen in anderen Staaten wiederfanden, ein Albtraum. In den baltischen Ländern wird die russischsprachige Bevölkerung bis heute diskriminiert, ganz zu schweigen von der Ukraine, in der im Moment russische Sprache, Medien, Parteien und Kultur im Allgemeinen unterdrückt werden.

Die dortigen totalitären Entwicklungen, nicht selten gepaart mit der Sympathie für Nazi-affine Nationalisten, sind ein besonders bizarres Beispiel der doppelten Maßstäbe in Politik und Medien. Trotzdem hat Putin nie auch nur anklingen lassen, die existierenden Ungerechtigkeiten gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung im Ausland mit Gewalt lösen zu wollen.

Dennoch fantasiert sich der Westen Bedrohungen herbei, während seine eigenen Militärmanöver immer aggressiver werden. Er behält sich sogar vor, jederzeit einen Kriegsgrund durch einen Hackerangriff zu erfinden.

Man muss heute im Grunde dankbar sein, dass es gegenüber dem globalen Machtanspruch der USA, die gerne alle Konflikte mit Gewalt lösen, noch ein signifikantes militärisches Gegengewicht gibt, welches Verrücktheiten auf der globalen Skala in Schach hält. Obwohl die Militärausgaben des Westens 20 bis 30 mal so hoch sind wie die von Russland, sind dessen Hyperschallwaffen zur Zeit technologisch führend.

Man kann die Frage aufwerfen, wie dies mit so viel weniger Mitteln erreicht wird. Eine plausible Antwort wäre meines Erachtens, dass die technische Intelligenz dieses Landes ihr Bestes gibt, weil ihr bewusst ist, dass es der Verteidigung wert ist.

Umgekehrt muss man fragen, welcher kluge Ingenieur, sofern er nicht moralisch verrottet ist und einen Blick für die Realitäten der Welt behalten hat, bereit ist, seine Geisteskraft für ein korruptes Konglomerat von Rüstungsindustrie und politischem Abenteurertum einzusetzen, selbst wenn ihm seine Bemühungen vergoldet werden.