30 Jahre Live-TV-Berichterstattung: Kein Grund zum Feiern

Aus Terror entstanden und heute bereits beim Terror mit einkalkuliert

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Spätestens am 11. September 2001 wurde klar, dass immer und überall mit Kameras zu rechnen ist. Besonders deutlich wurde dies angesichts der zweiten Passagiermaschine, die vor laufenden Kameras in den Südturm gelenkt wurde. Die Täter konnten davon ausgehen, dass 18 Minuten nach dem Einschlag der ersten Maschine in den Nordturm zahlreiche Kameras auf die Twin Towers und damit auch auf den Südturm gerichtet sind und hatten es darauf angelegt.

Die Allgegenwärtigkeit von Kameras, die sendefähiges Material liefern, ist eine Entwicklung, die sich bereits in den 60er Jahren anbahnte und am 17. Mai 1974 zur ersten veritablen Live-Übertragung der Fernsehgeschichte führte. Ein Jubiläum, das nur begrenzt Anlass gibt zur Freude. War doch der Auslöser eine Schießerei sondergleichen, bei der über 400 Polizisten stundenlang ein Versteck der Symbionese Liberation Army (SLA] unter Beschuss nahmen. Rechtzeitig vor Ort waren die Kamerateams, weil sie – wie in den USA bis heute üblich – den Polizeifunk abhörten und mitbekamen, dass sich etwas zusammenbraute. Außerdem waren sie vorgewarnt: Bereits am Vortag war es in einem anderen Stadtteil von Los Angeles zu einer Schießerei gekommen, als Sicherheitskräfte zwei SLA-Mitglieder festnehmen wollten.

Patty Hearst alias Tania – der Name soll an die Gefährtin von Che Guevara erinnern: Mit diesem Foto dokumentiert die Millionenerbin ihren Eintritt in die "Symbionesische Befreiungsarmee". (Bild aus dem Film "Guerrilla: The Taking of Patty Hearst")

Schauplatz des Geschehens war das Haus Nummer 1466 in der 54. Straße. Es stand mitten in Los Angeles in einem Wohnviertel, das nur zum Teil geräumt werden konnte, weil die Bewohner sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen. Wie durch ein Wunder kamen nur jene sechs Terroristen ums Leben, die sich verbarrikadiert hatten. Der Rest der Nation erlebte den Kugelhagel sowie das Feuer, in dem das Haus in Grund und Boden brannte, vor dem Bildschirm: Das rund zweistündige Feuergefecht wurde von allen großen Sendern übertragen, und zwar ohne Werbepausen und andere Unterbrechungen. Eine einschneidende Seh-Erfahrung für die Fernsehnation, die bis dahin nur sorgfältig geplante Live-Bilder zu sehen bekommen hatte.

Unter den Zuschauern befand sich auch die Verleger-Tochter Patricia Hearst, die am 4. Februar 1974 von der SLA entführt worden war. Das Pikante an ihrer Situation: Die damals 19-Jährige nannte sich zum Zeitpunkt der Schießerei längst "Tania" und war Teil der Symbionesischen Befreiungsarmee geworden, die sich in der Rolle von Robin Hood gefiel und aus diesem Grund von Medienmogul Randolph Hearst kein Lösegeld, sondern vielmehr Essensspenden für Arme im Wert von mehreren Millionen Dollar forderte. Obwohl es bei der ersten Ausgabe der Essensspenden in San Francisco zu Gewaltausbrüchen kam, sammelte die SLA mit dieser Aktion Sympathiepunkte in der Öffentlichkeit.

Anfangs hatte die SLA Sympathien in der Bevölkerung

Die Geschichte der SLA ist recht kurz: Nur rund zwei Jahre lang war die selbst ernannte Befreiungsarmee aktiv und hatte kaum mehr als ein Dutzend Mitglieder. Umso gewalttätiger waren die Aktionen der gemischtrassigen Truppe mit dem Motto "Tod dem faschistischen Insekt, das sich vom Leben des Volkes ernährt".

Gegründet wurde die SLA im August 1973 von Polit-Aktivisten und Berkeley-Studenten. Anführer der Gruppe war Donald "Cinque" DeFreeze, der angeblich als Informant für diverse Behörden in Kalifornien arbeitete. Einige Monate zuvor war er aus dem Gefängnis geflohen und bei den Berkeley-Studenten William Wolfe und Russell Little untergetaucht.

Im November 1973 erschießt die SLA den schwarzen Schulleiter Marcus Foster - angeblich weil er Ausweise einführen wollte, die die Schüler von Oakland zu Identifikationszwecken stets bei sich tragen sollten. Tatsächlich war Foster jedoch dagegen und entschärfte die Umsetzung. Die umstrittene Aktion rückte die SLA ins Visier der Fahnder. International berühmt wurde die Terrorgruppe allerdings erst durch die Entführung der Verleger-Tochter Patty Hearst aus ihrem Appartment in Berkeley am 4. Februar.

Überfall auf die Hibernia Bank bei San Francisco am 15.04.1974 - unter Beteiligung von Patty Hearst (ihr erster "öffentlicher" Auftritt als "Tania"). Aufgezeichnet von einer Überwachungskamera. (Bild aus dem Film "Guerrilla: The Taking of Patty Hearst")

Die Millionenerbin wird zunächst 50 Tage lang in einem Kleiderschrank gefangen gehalten und vom Anführer der Gruppe, Donald "Cinque" DeFreeze, als Vertreterin der Ausbeuterklasse beschimpft. Später bekommt sie mehr Freiheiten – und wird die Geliebte von SLA-Mitgründer William Wolfe.

Am 3. April 1974 ist ihre Transformation komplett: Auf einem Tonband gibt Patty Hearst alias Tania ihren Eintritt in die SLA bekannt. Um der Öffentlichkeit das neue Ich zu präsentieren, posiert sie mit schwarzem Käppi und Maschinenpistole vor dem Logo der SLA, einer siebenköpfigen, gewundenen Schlange. Zwölf Tage später nimmt sie an einem Überfall auf die Hibernia Bank in San Francisco teil. Auf den Bildern der Überwachungskamera ist die bewaffnete Patricia Hearst deutlich zu erkennen. Vor Gericht wird sie behaupten, sie sei einer Gehirnwäsche unterzogen worden.

Unklar ist, ob Patricia Hearst freiwillig oder gezwungen mitmachte

Bis heute rätseln Experten darüber, ob es sich bei Patricia Hearsts Verwandlung in Tania um freien Willen oder aber um einen extremen Fall des so genannten "Stockholm-Syndroms" handelt. Benannt wurde das Phänomen nach einem Banküberfall in Stockholm im Jahre 1973, wo die Geiseln nach einer Weile nicht nur freundschaftliche Gefühle für die Täter hegten, sondern sich darüber hinaus auch mit deren Zielen identifizierten. Schließlich hätte Patricia Hearst jederzeit nach Hause gehen dürfen, nachdem ihre Eltern die Forderungen der Entführer erfüllt hatten. Auch beschränkten sich die Aktivitäten von Patty Hearst nicht auf den Banküberfall vom 15. April.

So ist es letztlich der Schießfreudigkeit von Patricia Hearst zu verdanken, dass William und Emily Harris am 16. Mai nicht verhaftet werden konnten. Die beiden hatten sich in einem Sportgeschäft in Inglewood, einem Stadtteil von L.A., des Ladendiebstahls verdächtig gemacht und sollten abgeführt werden. Patricia Hearst, die vor dem Laden im Auto wartete, feuerte mehrere Salven aus ihrer Maschinenpistole und brachte sich und das Ehepaar Harris in Sicherheit. Aus Angst, die Fahnder auf ihre Fährte zu locken, kehrten sie nicht in den gemeinsamen Unterschlupf zurück, sondern mieteten sich in einem Motel bei Disneyland ein, wo sie am folgenden Tag live im Fernesehen verfolgen konnten, wie ihre Kameraden umkamen. Unter den Toten waren DeFreeze und Wolfe, der Geliebte von Patty Hearst.

Rückblickend sagt der Reporter Tim Findley, der bereits in den 70er Jahren über die SLA berichtete, die SLA habe leider nicht begriffen, dass sie am 17. Mai die Chance ihres kurzen Lebens hatte:

Du lieber Gott! […] Wenn die SLA nachgedacht hätte, hätten sie gewonnen. Sie hätten aufgeben und an Ort und Stelle eine Rede halten können. Die ganze Welt hörte ihnen in diesem Moment zu. Aber sie haben sich dafür entschieden, die Sache auszukämpfen.

"Guerrilla: The Taking of Patty Hearst", Dokumentarfilm über die SLA von Robert Stone

Nach der Polizeiaktion vom 17. Mai 1974 verstecken sich die überlebenden SLA-Mitglieder an wechselnden Orten. Im Juni 1974 veröffentlichen die überlebenden Mitglieder ihre letzten Mitteilungen auf Tonband – Loblieder auf die sechs verstorbenen Mitglieder. In Berkeley finden Sympathiekundgebungen für die SLA statt, Kathleen Soliah, Mike Bortin und andere stoßen zur SLA. Bis auf einen Banküberfall im April 1975, bei dem die Bankkundin Myrna Opsahl erschossen wird, wird es ruhig um die SLA. Erst im September 1975 wird Patty Hearst zusammen mit dem Ehepaar Harris verhaftet. Das Gericht verurteilt Hearst zu sieben Jahren Gefängnis.

Knapp zwei Jahre später kommt sie auf Betreiben des damaligen Präsidenten Jimmy Carter frei. Im Januar 2001 wird sie von Bill Clinton vollständig begnadigt, kurz vor Ende seiner Amtszeit. Für die restlichen Mitglieder der SLA verlaufen die Dinge weniger günstig. Das Ehepaar Harris zum Beispiel verbringt acht Jahre im Gefängnis und wird im Februar 2003 zusammen mit weiteren ehemaligen SLA-Mitgliedern erneut verurteilt, diesmal wegen des Mordes an Myrna Opsahl beim Banküberfall im April 1975.

Bei der Schießerei am 17.05.1974 kommen nicht nur die Polizei von Los Angeles zum Einsatz, sondern auch diverse SWAT-Teams. Gleich zu Beginn setzten die Spezialeinheiten Tränengas ein. (Bild aus dem Film "Guerrilla: The Taking of Patty Hearst")

Dass die Akten wieder geöffnet wurden, lag nicht zuletzt an den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Bis zum heutigen Tag hat Amerika die Bedrohung von innen nicht ganz verwunden und nach den Anschlägen auf das World Trade Center brachen die alten Wunden wieder auf. Besonders hart bestraft wurde Kathleen Soliah, die bis zu ihrer Ergreifung im Jahre 1999 unter dem Namen Sara Jane Olson ein Leben als Hausfrau und Mutter führte. Im Februar 2003 wird sie zu insgesamt 20 Jahren Haft verurteilt.

Aufstieg und Niedergang der SLA haben den Filmemacher Robert Stone schon seit Jahren fasziniert. Doch erst, als er auf bislang unbekanntes Filmmaterial stieß, wagte er sich an das Projekt. In seinem Dokumentarfilm "Guerrilla: The Taking of Patty Hearst", der auf der Berlinale 2004 zu sehen war und Ende des Jahres im US-amerikanischen Kino anläuft, lässt Stone einige der Protagonisten von damals zu Wort kommen und zeichnet mit einer Fülle an Material die Entwicklung der SLA nach. Obwohl Stone keinerlei Sympathien für die Terroristen hegt, gelingt es ihm, die Menschen hinter den Taten greifbar zu machen. Ursprünglich sollte der Film "Neverland: The Rise And Fall Of The Symbionese Liberation Army" heißen, wobei "Neverland" auf die naiven Träume der Rebellen anspielt, ist doch Neverland das Traumland, in dem Peter Pan auf immer ein kleiner Junge sein kann. Um jedoch Verwechslungen mit der Neuverfilmung des Kinderbuch-Klassikers zu vermeiden, wurde der Titel abgeändert.

Am 17. Mai 1974 war die erste ungeplante Live-Berichterstattung

Eine der Schlüsselszenen im Film ist die Schießerei vom 17. Mai 1974. Ermöglicht wurden die ungewohnten Bilder seinerzeit durch tragbare Fernsehkameras, die den Reportern größere Freiheiten vor Ort einräumten. Zusätzlich wurde wie damals üblich auf 16 mm gedreht. Dieses Material jedoch musste vor der Ausstrahlung entwickelt werden, so dass es – wenn überhaupt – erst bei späteren Ausstrahlungen zum Einsatz kam. Ein Großteil dieser Filme wurde vernichtet, als die Sender auf Video umstiegen und ihre Archive entrümpelten. Robert Stone kombiniert in seiner Dokumentation Video- und bislang unbekanntes 16 mm-Material, das er an unterschiedlichsten Orten aufgespürt hat.

Natürlich gab es schon vor dem 17. Mai 1974 Live-Berichte. Allerdings waren diese weit im Voraus geplant – wie etwa anlässlich der Landung auf dem Mond im Juni 1969. Und selbst wenn es vor laufenden Kameras zu unvorhergesehenen Ereignissen kam – wie etwa bei der Ermordung Lee Harvey Oswalds durch Jack Ruby im November 1963 –, so kann man diese Bilder nicht zur ungeplanten Live-Übertragung erklären, denn der Bericht über Oswalds Verlegung in ein anderes Gefängnis war ja geplant.

Sympathisanten fordern die Freilassung von "Tania" (Patty Hearst)

Inzwischen sind Live-Bilder kaum mehr wegzudenken aus dem Fernsehgeschehen. Allen voran huldigt der Nachrichtensender CNN dem Live-Bericht und hat mit der Fokussierung auf Aktuelles Sender in aller Welt beeinflusst. In letzter Zeit jedoch lassen sich Tendenzen zur Eindämmung des ungefilterten Live-Berichts beobachten und zwar nicht nur im Bereich der Kriegsberichterstattung, sondern auch in der Unterhaltung.

Um Ausrutscher wie die entblößte Brust von Janet Jackson künftig zu vermeiden, sind zahlreiche Sender dazu übergegangen, Live-Berichte in Funk und Fernsehen geringfügig zeitversetzt zu senden. Auf diese Weise lassen sich Skandale von vornherein vermeiden, so die Überzeugung. Tatsächlich jedoch zeigt die Diskussion um die unterdrückten Folterbilder aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib, dass Skandale nicht umgangen werden können, indem man die Existenz von Bildern leugnet. Ob und in welchem Umfang man diese jedoch veröffentlichen soll, ist eine andere Frage (Die Medien und die grausamen Bilder). Eine Frage, die schwer zu beantworten ist angesichts der Allgegenwart von Kameras.