50 Jahre Radikalenerlass und die späte Einsicht der Gewerkschaften
Ver.di und GEW zeigen sich inzwischen solidarisch mit Betroffenen, haben aber erst in den letzten Jahren systematisch mit der Aufarbeitung ihrer Unvereinbarkeitsbeschlüsse begonnen
Im Herbst 1969 hatte der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) noch erklärt: "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Am 28. Januar 1972 – also heute vor 50 Jahren – trat der sogenannte Radikalenerlass in Kraft.
Die ersten Betroffenen der Berufsverbote sind nun ausnahmslos im Rentenalter, es sind fast ausnahmslos Linke – und nicht wenige haben dadurch einen wesentlichen Teil ihres potentiellen Lebenseinkommens verloren. Von der Lehrerin bis zum Postboten – der Öffentliche Dienst sollte von mutmaßlichen Extremisten freigehalten werden.
Der Erlass schädigt nach Einschätzung von Werner Siebler, der selbst davon betroffen war, bis heute die demokratische Kultur: Die Angst, keine Stelle im Öffentlichen Dienst zu bekommen, halte immer wieder Menschen von politischem Engagement ab. Bei einer Pressekonferenz anlässlich des Jahrestags warb Siebler dafür, den Aufruf "50 Jahre Berufsverbote – Demokratische Grundrechte verteidigen" zu unterzeichnen.
Bedenkliches Vorhaben im Koalitionsvertrag
Neue Brisanz bekommt das Thema durch Formulierungen im Koalitionsvertrag der "Ampel"-Parteien, die dafür sorgen wollen, dass "Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können". Die bisher Betroffenen haben die Erfahrung gemacht, dass schon das bestehende Instrumentarium eher gegen Linke als gegen Rechte angewendet wird.
Rund 3,5 Millionen Menschen waren infolge des Radikalenerlasses per Regelanfrage beim Verfassungsschutz daraufhin überprüft worden, ob sie "jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen" würden. In rund 11.000 Fällen kam es zu Berufsverbotsverfahren und gegen 1.500 Personen wurden tatsächlich Berufsverbote ausgesprochen.
Werner Siebler traf es 1984, als der für die damalige Deutsche Bundespost arbeitete, wegen seiner Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Briefzustellung war damals noch hoheitliche Aufgabe, Postbotinnen und Postboten wurden verbeamtet. Seine DKP-Mitgliedschaft galt aber laut dem Radikalenerlass als unvereinbar mit dem Beamtenstatus. Ab 1991 durfte er wieder Post austragen, zwischenzeitlich war er teils arbeitslos, teils nur geringfügig beschäftigt, was sich heute deutlich auf seine Rente auswirkt.
Eine der bekanntesten Betroffenen war die Lehrerin Silvia Gingold, die 1975 aus dem Schuldienst entlassen wurde. Die Antifaschistin und Tochter der Widerstandskämpfer Peter und Ettie Gingold war wegen ihrer Nähe zur DKP ins Visier des Verfassungsschutzes geraten – nach eigenen Angaben schon als 17-Jährige. Nachdem sich ein breites Bündnis aus Intellektuellen und Kulturschaffenden für sie eingesetzt hatte, durfte sie wieder als Lehrerin arbeiten, wurde aber nicht verbeamtet.
"Die Berufsbiografien vieler Menschen wurden zerstört und Grundrechte verletzt. Der damals von der SPD verantwortete Radikalenerlass war ein Fehler. Er sollte von der Ampel und Kanzler Scholz eingeräumt und Betroffene endlich materiell entschädigt werden", erklärte an diesem Freitag die Ko-Vorsitzende der Partei Die Linke, Janine Wissler.
Das Umdenken in den Gewerkschaften
Eigentlich wollte die Bundesverwaltung der Gewerkschaft ver.di zum Jahrestag des Radikalenerlasses mit einer Veranstaltung und einer Aktionswoche daran erinnern, dass die Betroffenen immer noch auf ihre Rehabilitierung warten und zum Teil mit Armutsrenten leben müssen. Diese Aktionswoche wurde wegen der Einschränkungen durch die Corona-Regeln nun bewusst ins Vorfeld des 23. Mai gelegt, an dem 1949 das Grundgesetz in Kraft getreten ist.
Dass eine große Gewerkschaft sich solidarisch mit den Betroffenen verhält, war lange Zeit nicht selbstverständlich: 1973 hatten DGB-Gewerkschaften Unvereinbarkeitsbeschlüsse gefasst, die sich am Radikalenerlass orientierten. Menschen, die mutmaßlich extremistischen Gruppen angehörten, wurden daraufhin ausgeschlossen oder gar nicht erst aufgenommen.
Obwohl die Unvereinbarkeitsbeschlüsse in den folgenden Jahrzehnten nicht immer gleich rigide umgesetzt wurden und viele aktive Gewerkschaftsmitglieder ohnehin dagegen waren, kam es erst 2019 beim 5. Bundeskongress von ver.di zu einem Beschluss, in dem sich die Gewerkschaft bei den Ausgeschlossenen entschuldigte.
"Ver.di bedauert die Übernahme der Unvereinbarkeitsbeschlüsse des DGB vom 3. Oktober 1973 in die Satzungen der Gründungsorganisationen von ver.di." Die Gewerkschaft entschuldigte sich bei allen Mitgliedern, die auf dieser Grundlage in den Jahren nach 1973 aus den ver.di-Quellgewerkschaften ausgeschlossen wurden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Hamburg verschickte inzwischen Entschuldigungsschreiben und bot den damals Ausgeschlossenen eine "Anerkennungspauschale" sowie eine kostenfreie Mitgliedschaft an.
Die GEW-Vorsitzende Maike Finnern forderte am Donnerstag ausdrücklich deren Rehabilitierung. Ihnen seien "Berufs- und Lebensperspektiven genommen und das Vertrauen in die Demokratie sowie in den Rechtsstaat massiv beschädigt" worden, erklärte sie.