Achtbeinige Genies

Seite 2: Die Welt im Geist der Spinne

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Während uns Oktopoden mit ihrer Größe, ihrer Weichheit und Beweglichkeit, ihrer kontaktfreudigen Neugier, und nicht zuletzt auch mit ihrem Farbenspiel (das die zehnarmigen Sepien noch perfektioniert haben) vertraut und sympathisch erscheinen, gilt nichts von alledem für die anderen Achtbeiner: Spinnen. Die meisten von uns - auch ich habe eine leichte Arachnophobie noch nicht ganz überwunden - sind eher froh, dass den Gliedertieren ebenso die Größe von Tintenfischen wie auch deren Kontaktfreude fehlen. Es ist nicht leicht, Spinnen zu mögen. Aber bestaunen kann man sie immerhin. Und respektieren.

Dass sie nicht dumm sind, wurde schon früh festgestellt. Der Sammelband "Invertebrate Learning" von 1973 beschreibt zum Beispiel, was geschieht, wenn man mit einer feinen Schere ganz behutsam ein umsponnenes Beutestück abschneidet, das sich eine Spinne ins Netz gehängt hat: Dann bewegt sich die Spinne in größer werdenden konzentrischen Kreisen um die Stelle, an der die Beute gehangen hatte. Will sagen: Sie sucht sie. Sie hat also eine innere Repräsentation ihres Netzes, und ein Gedächtnis dafür, was darin wo sein sollte. Und obendrein eine sinnvolle Strategie, es zu suchen, wenn es nicht da ist. Kürzlich wurde dieser Befund repliziert und erweitert: Netzspinnen suchen länger nach großer als nach kleiner Beute, erinnern sich also auch an diesen Faktor.

Veränderliche Krabbenspinne mit Beute (Hainschwebfliege). Bild: Didier Descouens / CC-BY-SA-4.0

Die Intelligenzbestien unter den Arachniden sind aber die Springspinnen. Sie spinnen keine Netze, sondern streifen zur Jagd umher, lauern ihrer Beute auf oder schleichen sich an, und erwischen sie dann mit dem namensgebenden Sprung. Einen Spinnfaden nutzen sie dabei nur zur Selbstsicherung.

Diese Lebensweise verlangt Flexibilität, und tatsächlich zeigen Springspinnen diese Eigenschaft. Je nachdem, auf welche Beute sie gerade aus sind, passen sie ihre Strategie an: Große Beute greifen sie nur von hinten an, kleinere hingegen von jeder Richtung; schnelle Beute jagen sie, schleichen sich an unbewegliche hingegen an.

Die vielleicht beeindruckendste Intelligenzleistung vollbringen Springspinnen der Art Portia fimbriata. Diese Tiere haben es auf eine besondere und heikle Beute abgesehen: andere Spinnen, nämlich Radnetzspinnen. Das offensichtliche Problem dabei ist, dass Radnetzspinnen jede Bewegung in ihren Netzen ständig hochsensibel überwachen und es somit unmöglich ist, sich an sie anzuschleichen. Einige Portia-Arten lösen dieses Problem, indem sie die Vibrationen gefangener Beute nachahmen und so die Netzinhaberin herbeilocken, um sie dann zu töten. Andere, indem sie auf einen Windstoß warten, der ihre Bewegungen maskiert, oder das Netz selbst so stark schütteln wie ein Luftstoß. Aber bei der hochnervösen australischen Spinne Argiope appensa funktioniert das alles nicht. Und ein Sturmangriff wäre gegen die wehrhafte Gegnerin vermutlich nicht ratsam.

Was also tut Portia? Wenn sie eine mögliche Beute erspäht, vollbringt sie umgehend die erste beachtliche kognitive Leistung, der weitere folgen werden: Sie rennt nicht drauflos, sondern verharrt und plant. Und zwar schaut sie sich um, wo es einen Ast über der Beutespinne gibt, und wie sie dorthin kommt. Dann begibt sie sich dorthin, was impliziert, sich von der Beute zu entfernen. Von der Stelle über ihrer Beute lässt sie sich dann mit einem Spinnfaden ab und schlägt zu.

Dazu braucht die Springspinne also eine Impulskontrolle, wie man sie selbst bei vielen Vögeln und Säugetieren nicht findet. Weiterhin eine dreidimensionale Repräsentation ihrer Umwelt, die genau genug ist, um virtuell das Lot über ihrer Beute zu fällen. Dann die Fähigkeit, sich den angepeilten Ort und den Weg dahin so lange zu merken, bis sie dort ist. - Chapeau!

Die Intelligenz im Mohnkorn

Und all das in einem Gehirn, das so groß ist wie ein Mohnkorn. Man weiß noch recht wenig darüber, wie dieser Hirnkrümel solche kognitiven Leistungen hervorbringt. Schon eine Weile bekannt ist, dass es darin gleich zwei getrennte Sehsysteme gibt: Mit den beiden frontalen Hauptaugen sehen Spinnen scharf und in Farbe (und wie sie trotz des winzigen Augenabstands 3D-Sehen hinbekommen, ist ein Thema für sich), mit den übrigen drei Augenpaaren hingegen entdecken sie Bewegungen.

Wie diese Informationen integriert werden, konnte aber lange Zeit nicht untersucht werden, weil es nicht trivial ist, Zugang zum Gehirn lebender Springspinnen zu erhalten: Ihre Körperflüssigkeit steht unter hohem Druck, der hydraulisch zur Bewegung genutzt wird. Wenn man ein Loch bohrt, um eine Elektrode hindurch zu stecken, dann spritzt die Flüssigkeit heraus, und das Tier stirbt. Erst, als vor wenigen Jahren andersartige Elektroden verwendet wurden, wurde es möglich, Spinnenneuronen bei der Arbeit zu beobachten und z.B. einige zu finden, die spezifisch auf sich bewegende Fliegen reagieren.

In einem zumindest sind uns die Springspinnen jüngst emotional näher gerückt: Wie kürzlich entdeckt wurde, säugt zumindest eine Art (Taxeus magnus) dieser Gruppe ihre Jungen. Tiere, die ihren Nachwuchs auf verschiedene Weise mit Körpersekreten ernähren, gibt es in verschiedenen Gruppen. Blindwühlen etwa, eine regenwurmähnliche Form von Salamandern, scheiden dazu Hautschichten ab. Diese Springspinnen aber produzieren wortwörtlich aus Drüsen am Hinterleib ein milchiges Sekret, das von ihren Spinnlingen aufgenommen wird und auch werden muss, damit sie überleben. Über mehrere Wochen kümmert sich die Mutter letztlich um ihren Nachwuchs, bis die Kleinen selbst jagen können und aus dem Haus gehen.

Zum Abschluss aber verlassen wir die Springspinnen wieder und kehren zu unseren vertrauten, netzbauenden Hausspinnen zurück. Denn auch die können einen überraschen. Michael von Tschirnhaus, der in der Universität Bielefeld für die Sammlung und die Entomologie zuständig war, stellte einst ein Einmachglas aus, in das eine Hauswinkelspinne offensichtlich hineingefallen war. Heraus kam sie nicht, weil die Wände zu glatt waren. Das dürfte eine Situation sein, welche die Evolution nicht vorgesehen hatte. Was also tat die Spinne? Sie fing an, eine Rampe zu weben, wendeltreppenförmig vom Boden des Glases ansteigend. Hätte sie genügend Spinnseide bzw. Nahrung gehabt, dann hätte sie es geschafft. So aber verhungerte sie auf halben Wege und wurde auf ihrem unfertigen Werk gefunden.

Andere Intelligenzen

Dass Menschenaffen und Primaten kognitive Hochleistungen vollbringen, erwarten wir schon fast. Und seinen Hund hält jedes Herrchen (und nur dieses) für super-intelligent. Dass auch Vögel sehr helle Köpfchen haben, war schon etwas schwerer zu akzeptieren. Zu andersartig schien ihr Gehirn. Aber dann stellte sich heraus, dass es dieselben Module enthält wie das unsere, nur anders angeordnet, und damit war alles in Butter. Denn die Intelligenz der Wirbeltiere, der Affen, Haustiere, Wale, Vögel, ist uns deshalb so verständlich, weil sie uns ähnlich sind.

Und genau das durchbrechen die Spinnen und Kopffüßer (und die Bienen, Libellen und viele andere, die ich hier willkürlich wegen ihrer Beinzahl vernachlässigt habe). Sie zeigen, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist. Dass Intelligenzleistungen auch ganz anders möglich sind. Sie können sich räumlich orientieren und erinnern und haben doch keinen Hippokampus, sie haben ein Arbeitsgedächtnis und strategisches Denken, aber kein Stirnhirn, sie lernen motorisch ganz ohne Basalganglien und Belohnungsbahn (obgleich hier ein gemeinsamer Ursprung behauptet worden ist). Die Evolution hat bestimmte geistige Leistungen gefordert und gefördert, und es bildete sich das Nervensystem, um sie hervorzubringen. Es gibt verschiedene Implementierungen derselben Fähigkeiten.

Und wer weiß, wie vieler Fähigkeiten noch? Implizit gehen wir von einer konvergenten Evolution aus, also davon, dass dieselben Fähigkeiten unabhängig und auf verschiedenen Wegen erreicht wurden. Aber sind es dieselben Fähigkeiten? Denkt ein Oktopus so wie wir? Bewältigt er vielleicht noch ganz andere Leistungen, die wir gar nicht erkennen können, weil wir sie nicht können? Hat sich nicht etwa "die Intelligenz" mehrfach entwickelt, sondern verschiedene Intelligenzen, die sich da und dort berühren, einander aber nicht verstehen können?

Stets sucht der Mensch in seiner Umwelt sich selbst. Er schaut in die Augen seines Gegenübers und erwartet einen Spiegel. Empathie ist immer auch Projektion. Doch wenn wir in die Augen der achtbeinigen Genies schauen, dann scheitert diese Suche. Wir blicken in das absolut Fremde. Das unaufhörlich Faszinierende.