Afghanistan: "Die Taliban sind unsere Brüder"

Nach einer vom Pentagon beauftragten, aber wenig beachteten Umfrage in Kandahar könnte die "neue Strategie" des "Partnering" und der größeren Präsenz das Gegenteil des Gewünschten provozieren

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Bundeskanzlerin Merkel gibt heute ab 9 Uhr eine Regierungserklärung zu Afghanistan ab. Danach wird über den Einsatz der Bundeswehr diskutiert. Wie die USA sich das deutsche Engagement vorstellen, hat bei seinem Besuch in Berlin schon einmal General Stanley McChrystal, der Oberkommandierende der ISAF, deutlich gemacht. Ob Deutschland mehr Soldaten schicken müsse, darüber schwieg er sich aus, wichtig jedoch sei ein konsequentes Bekämpfen der Aufständischen.

Die Zeit sei knapp, da 2011 mit dem Abzug begonnen werden soll, daher sei es wichtig, die afghanischen Sicherheitskräfte möglichst schnell in die Lage zu versetzen, für Sicherheit zu sorgen. Das heißt wohl auch, dass Soldaten im Sinne des Partnering gemeinsam mit afghanischen Soldaten Einsätze ausführen. Das ist gefährlich, bei eben einem solchen Übungseinsatz waren am 15. April vier deutsche Soldaten getötet worden. McChrystal machte auch darauf aufmerksam, dass der Norden gefährlicher geworden sei, nicht zuletzt auch deswegen, weil nun eine wichtige Versorgungsroute von Russland aus nach Afghanistan führt, da die Routen über Pakistan kritisch geworden sind. Unter dem deutschen Oberkommando würden auch die US-Soldaten Einsätze gegen die Aufständischen um Kandahar durchführen.

So stellt man sich gerne das Ziel der ISAF- Mission in Afghanistan vor. Bild: Pentagon

McChrystal scheint sich in seinen Forderungen schon auch deswegen zurückgehalten zu haben, weil er weiß, wie schwach der Rückhalt der Afghanistanmission der Bundeswehr in der Bevölkerung ist. Im Interview mit den Tagesthemen windet sich der General um alles herum und streichelt den deutschen Soldaten und den Deutschen den Rücken. Seine "neue Strategie" heißt freilich, dass die Soldaten raus den Lagern gehen und mit den afghanischen Partnern Präsenz zeigen. Damit soll der afghanischen Bevölkerung demonstriert werden, dass die ausländischen Truppen mit den afghanischen Sicherheitskräften agieren, die im Gegensatz zu den ISAF-Truppen ein relatives hohes Ansehen genießen. Zudem sollen nicht nur kurze Vorstöße gemacht, sondern Gebiete, aus denen die Aufständischen vertrieben wurden, langfristig(er) gesichert werden. Verteidigungsminister Guttenberg stimmt allem zu: "Es gilt, vor Ort gemeinsam Vertrauen zu schaffen", sagte der Minister mit Blick auf die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit.

Wenn die deutschen Soldaten in Zusammenarbeit mit den amerikanischen und afghanischen Soldaten der "neuen Strategie" folgen und vor Ort mit Bodentruppen und nicht in Panzern stärker präsent sein werden, dann wird es weitere Opfer auch unter den deutschen Soldaten geben. Ob das Ziel, das McChrystal verspricht, tatsächlich mit der erhöhten Präsenz und der verstärkten Bekämpfung der Aufständischen tatsächlich eingelöst werden kann, ist jedoch fraglich. Das belegt auch eine Studie, die das Pentagon selbst in Auftrag gegeben hat.

Als die Amerikaner merkten, dass sie im Irak und in Afghanistan alleine mit militärischen Mitteln den Krieg nicht gewinnen können, haben sie ab 2005 das Human Terrain System (HTS) gestartet. Das sind Teams von Soldaten und Sozialwissenschaftlern, die helfen sollten, das kulturelle Umfeld besser zu verstehen, in denen die Truppen oft wie Aliens agierten. Von manchen Sozialwissenschaftlern wurde diese Einbindung von Soziologen, Psychologen oder Anthropologen heftig kritisiert, weil damit eine Militarisierung der Sozialwissenschaften oder eine bewaffnete Sozialarbeit stattfinde ("Anthropologisierung des Militärs").

Eben ein solches HTS-Team hat für die von sunnitischen Paschtunen bewohnte Provinz Kandahar, in der ebenso wie im von deutschen Truppen kontrollierten Norden, eine Offensive zur Vertreibung der Aufständischen stattfinden soll, eine Umfrage durchgeführt, um die Stimmung der Bevölkerung zu erkunden. Dass diese nicht unbedingt besonders für die ausländischen Soldaten ist, hatte vor kurzem auch der afghanische Präsident Karsai deutlich gemacht, als er während eines gemeinsamen Besuchs mit McChrystal in Kandahar den Stammesältesten erklärte, dass er gegen die Offensive ein Veto einlegen würde, wenn sie von der Bevölkerung nicht gewünscht werde, weil sonst die Taliban zu einer legitimen Widerstandsbewegung würden (Für wen kämpfen die deutschen Soldaten in Afghanistan im "umgangssprachlichen" Krieg?). Die Stammesältesten hatten Karsai erklärt, sie seien über die militärischen Pläne nicht glücklich.

So werden Afghanen zu Aufständischen (Die biometrische Datenbank des Pentagon für Aufständische). Mit einem "Handheld Interagency Identity Detection Equipment (HIIDE)" werden biometrische Daten eines Mitarbeiters des Road Maintenance Teams (RMT) in der Kapisa-Provinz erfasst. Bild: Pentagon

Mag sein, dass Karsai die Ergebnisse der HTS-Umfrage für die ISAF bereits kannte, die keineswegs für die ISAF-Offensive und die "neue Strategie" Optimismus erzeugt. Fast 2000 Menschen wurden in 9 von 16 Distrikten befragt, in 5 schickte man lieber niemand, weil dies die Sicherheitslage nicht zuließ. In 2 Distrikten wurden ebenfalls aus Sicherheitsgründen nur Männer befragt, insgesamt waren 56 Prozent Männer und 44 Prozent Frauen. Die Umfrage ist zwar nicht als geheim eingestuft, aber man hat sie offenbar lieber klein gehalten. Die Gründe liegen auf der Hand, wenn man die näher ansieht.

Das wohl wichtigste Ergebnis der Menschen aus den wohl noch weniger von den Taliban oder "Antiregierungselementen" (AGEs), wie es so schön heißt, dominierten Distrikten ist, dass mit 94 Prozent praktisch alle nicht auf militärische Operationen, sondern auch Verhandlungen setzen. Zudem sehen 85 Prozent die Taliban als "unsere afghanischen Brüder". Und eine überwältigende Mehrheit ist auch der Meinung, dass die Menschen sich den Aufständischen nicht anschließen würden, wenn es genügend Jobs gäbe. Das Problem können nun ausländische Soldaten tatsächlich nicht lösen.

Die Mehrheit der Befragten äußerte auch Sympathie für die Gründe, aus denen die AGEs gegen die Regierung kämpfen. In 5 Distrikten würden die AGEs sowieso die Kontrolle ausüben. In keinem der Distrikte werden die AGEs oder die afghanischen Sicherheitskräfte deutlich abgelehnt oder favorisiert. Die Menschen sind gespalten, aber sie sind eher national eingestellt. Zwar glauben viele, dass die afghanischen Soldaten für höhere Sicherheit sorgen, die in allen Distrikten als großes Problem angesehen wird, den ISAF-Truppen wird aber wenig Vertrauen entgegengebracht.

Hauptproblem für die Regierung ist weit verbreitete Korruption, die besonders stark in der Provinzhauptstadt Kandahar ist, weswegen die Menschen gegenüber der Regierung und Behörden sehr zwiespältig eingestellt sind. Je ärmer die Menschen sind, desto eher misstrauen sie der staatlichen Macht. Zwar genießen die afghanischen Sicherheitskräfte Vertrauen, während AGEs, Kriminelle und Schmuggler für die hohe Unsicherheit verantwortlich gemacht werden, aber gleichwohl sagt eine Mehrheit, das die Kontrollpunkte und die Konvois der afghanischen Sicherheitskräfte die größten Sicherheitsrisiken für das Reisen sind. Danach rangieren die Kontrollen und Konvois der ISAF-Truppen.

Der Hauptgrund, bei den afghanischen Sicherheitskräften zu arbeiten, ist nicht Überzeugung, sondern die Suche nach Arbeit und Einkommen, was auch wieder deutlich macht, dass das ausländische Militär, zumal wenn auch immer wieder Zivilisten ihr Opfer werden, die grundlegenden Probleme nicht lösen kann. Wenn, dann arbeiten die Menschen lieber für das Militär als die Polizei. Polizisten sind schlechter bezahlt und schlechter gerüstet, weswegen sie auch öfter Ziel von Angriffen werden. Andererseits wären gerade Polizisten wichtiger für eine staatliche Stabilisierung, wenn sie nicht gleichzeitig aus Zwecken der Gehaltsaufbesserung für Korruption sorgen würden (Potemkinsche Dörfer in Afghanistan).