Aiwanger, Lindemann und die Süddeutsche Zeitung: Der Skandal als Geschäftsmodell
Seite 2: Aiwanger und das Pamphlet: Nichts Genaues weiß man nicht
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Denn natürlich ist die Story absolut dünn. Das zeigt schon der Teaser vor der SZ-Bezahlschranke. Aiwanger "soll" das antisemitische Flugblatt geschrieben haben. Verbreitet es "offenbar". Das alles "deutet auf ein Dokument hin", das – Teufen nochmal! – "nun aufgetaucht ist". Dass solche Schriftstücke "nun" immer vor Wahlen "auftauchen", ist ein von Natur- und Parawissenschaftlern völlig unzureichend erforschtes Phänomen.
Der Telepolis-Autor Timo Rieg hat in einer Analyse der Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass Hubert Aiwanger "schon vor der ersten SZ-Veröffentlichung bestritten (hat), das Flugblatt produziert zu haben".
Inzwischen habe sich bekanntlich sein Bruder Helmut Aiwanger als Autor bekannt. Damit sei, so Rieg, "auch ein von der SZ nachgeschobenes Schriftgutachten obsolet (…), welches Hubert Aiwangers Schreibmaschine identifiziert haben soll".
Tatsächlich erinnert das Ganze fatal an den inzwischen weitgehend abgeklungenen Skandal um den Sänger der Band Rammstein, Till Lindemann. Auch hier war vor knapp drei Monaten die SZ federführend in der Berichterstattung und warf dem Musiker Sexualdelikte vor - neben Antisemitismus ein zentrales Motiv politisch-medialer Diffamierungskampagnen.
Und wie bei Aiwanger war die Faktenlage dünn. Eine 22-Jährige habe beim angeblichen Sex mit Lindemann "nicht ausdrücklich nein gesagt, sich aber extrem unwohl gefühlt". Und dann: "Den Reportern liegen weitere eidesstattliche Zeugenaussagen sowie zahlreiche Chatprotokolle vor." Dabei handele es sich um Chat-Nachrichten, "die Teile der Vorwürfe unterstreichen sollen". Welche Teile? Das weiß man bis heute nicht.
Die Ermittlungen gegen Lindemann wurden in Vilnius und Berlin inzwischen eingestellt. Wie die Wähler in Bayern entscheiden, wird sich am 8. Oktober zeigen.
Heftige Kritik an der Süddeutschen Zeitung in der Branche
Der Medienjournalist Stefan Niggemeier übte nicht nur wegen des abstimmungsnahen Zeitpunkts des lancierten Skandals an der Süddeutschen Zeitung Kritik. Wie Rieg bei Telepolis nahm sich Niggemeier den am Samstag in Printausgabe und online erschienenen Text über das "Auschwitz-Pamphlet" vor.
Den Autoren wirft er vor, nicht sachlich über die Vorwürfe gegen den bajuwarischen Freie-Wähler-Chef zu schreiben. Vielmehr erwecke der Text den Anschein, das Blatt wolle Aiwanger sechs Wochen vor der Landtagswahl schaden, so Niggemeier:
Es ist ein Text, dem jede Distanz zu sich selbst fehlt", moniert er. Vom ersten Absatz an sei das Seite-3-Stück mit seiner eigenen möglichen Wirkung beschäftigt: "Es ist schwer, daraus nicht auch den dringenden Wunsch zu lesen, dass diese Wirkung eintreten möge. Die Botschaft: Der Chef der Freien Wähler erlebt gerade einen Höhenflug, der nicht gut ist und der eigentlich längst hätte enden müssen. Aber ich, dieser Text, diese Recherche, diese Zeitung, kann ihn jetzt stoppen.
Stefan Niggemeier
Auch der Branchennewsletter Kress griff diese Kritik auf und verwies auf eine noch schärfere Replik des Journalisten Alexander Kissler, der den Vorwurf erhebt, die SZ betreibe Kampagnenjournalismus, indem sie anonyme Quellen wie Tatsachen behandele und Journalismus mit Aktivismus verwechsele. "So schadet sie der politischen Kultur", meint Kissler.
Inzwischen hat SZ-Chefredakteur – und damit freilich der Mann im redaktionellen Führungsdoppel – eine Stellungnahme veröffentlicht – und den Eindruck der politischen Kampagne damit nur noch verstärkt: "Hubert Aiwanger ist nicht mehr haltbar", schrieb Wolfgang Krach in einem Text, der wohl als Verteidigung journalistischer Standards gemeint war, sich aber wie Wahlkampfgeplänkel liest.
Nach der dünnen und rechtsstaatlich nicht verifizierten Rammstein-Lindemann-Story verfestigt sich mit der Aiwanger-Berichterstattung ein anderer, verheerender Verdacht: Setzt die Süddeutsche Zeitung angesichts der hohen Abhängigkeit von zahlenden Abonnenten und rückläufiger Verkaufszahlen auf einen als Investigativjournalismus verbrämten Kampagnenjournalismus, um den Abonnenten Dramen und Skandale zu liefern?
Übrigens: Die Pointe lieferte Bundeskanzler Scholz. Angesichts der von Aiwanger wenig glaubwürdig angeführten Erinnerungslücken zum Flugblatt-Skandal zu seinen Schulzeiten forderte der Kanzler Aufklärung.
Zeitgleich reichte der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Finanzexperte Fabio de Masi in Hamburg Strafanzeige gegen Scholz wegen Falschaussage in der Cum-Ex-Korruptionsaffäre ein. In die ist Scholz verstrickt – und behauptete offenbar wahrheitswidrig, sich an belastende Vermerke nicht erinnern zu können.
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