Aktenleak zum NSU: Glücksfall für den Verfassungsschutz?

Performance im Rahmen der Kampagne "Blackbox Verfassungsschutz". Foto: www.blackbox-vs.de

Wer den NSU-Prozess verfolgt hat, musste sich unter Akten aus Hessen, die für 120 Jahre geheim bleiben sollten, Schlimmeres vorstellen. Es ist durch die Veröffentlichung weder bestätigt noch widerlegt. Die Formulierung "Komplettversagen" ist vorsichtig.

Eigentlich ist der hessische Verfassungsschutz fein raus – wer nämlich den Münchner NSU-Prozess beobachtet und die Zeugenauftritte des früheren V-Mann-Führers Andreas Temme dort erlebt hat, musste sich weitaus Schlimmeres vorstellen, als in den inzwischen geleakten Akten steht.

Warum der Inlandsgeheimdienst dieses Material zeitweise für 120 Jahre unter Verschluss halten wollte, erschließt sich nach allem, was bereits über seine Arbeitsweise in Bezug auf die militante Neonaziszene bekannt war, überhaupt nicht.

Dennoch hat das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV Hessen) in dieser Woche Strafanzeige wegen mutmaßlich unrechtmäßiger Weitergabe der Dokumente gestellt. Die Plattform "Frag den Staat" und das "ZDF Magazin Royale" von Jan Böhmermann hatten sie am Freitag vergangener Woche ins Internet gestellt – aus Quellenschutzgründen in abgetippter Form mit geschwärzten Stellen.

Es sind nicht einmal "NSU-Akten" im eigentlichen Sinn: Neben dem Abschlussbericht einer Aktenprüfung im LfV, den der damalige hessische Innenminister und heutige Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) 2012 in Auftrag gegeben hatte, um die Rolle der Behörde im Zusammenhang mit der bundesweiten NSU-Mordserie aufzuarbeiten, wurden diverse Anlagen und ein Verzeichnis relevanter Treffer in den selbst nicht veröffentlichten Akten geleakt.

Keine "Smoking Gun"

Eine sprichwörtliche "Smoking Gun" ist nicht dabei. Eine Entlastung des Verfassungsschutzes sehen Betroffene wie die Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik darin aber nicht – zumal noch mindestens 200 Akten laut Verfassungsschutz als unauffindbar gelten.

Der hessische Verfassungsschutz wollte erst 120 Jahre den Bericht geheim halten, der nun veröffentlicht worden ist. Nachdem ich ihn nun lesen kann, frage ich mich warum. Der Verfassungsschutz hat versagt. Er hat die Neonazis damals wie heute massiv unterschätzt. Und er hatte V-Leute, die mit ihrem Geld und ihren Möglichkeiten die Nazis unterstützt haben, statt sie zu bekämpfen. All das ist nicht neu. (...)

Ich befürchte, dass der Verfassungsschutz für 120 Jahre nur geheim halten wollte, was ihm einfach peinlich ist, also eigenes Versagen. Was aber möglicherweise direkt zum NSU und der Arbeit des Verfassungsschutzes in Hessen dazu vorhanden ist, wird nicht als geheim eingestuft, sondern verschwindet einfach.


Gamze Kubasik

Sie freue sich trotzdem über jeden weiteren Whistleblower, betonte Kubasik in einer Danksagung nach dem Leak auf der Internetseite ihres Anwaltsteams.

Deutlich wird durch das geleakte Material nur, dass es bei vielen der gesammelten Informationen um Besitz oder Erwerb von Waffen und Sprengstoff in der ultrarechten Szene ging, woraufhin offenbar keine Ermittlungen eingeleitet wurden.

Die Anwältin Seda Basay-Yildiz, die im NSU-Prozess Angehörige des ersten NSU-Mordopfers Enver Simsek vertreten hatte, sprach nach der Veröffentlichung zwar von einem "Komplettversagen" des Verfassungsschutzes – aber auch derartige Formulierungen von Nebenklagevertretern sind im Zusammenhang mit der Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" nicht neu. Sie sind sogar eher vorsichtig und beinhalten eine Unschuldsvermutung, weil damit immerhin keine mutwillige Vertuschung oder Strafvereitelung im Amt unterstellt wird.

Strafvereitelung im Amt?

Der inzwischen verstorbenen Münchner Nebenklageanwältin Angelika Lex drängte sich schon zu Beginn des Prozesses der Eindruck auf, dass gegen mehrere Personen wegen dieses Tatbestands ermittelt werden müsste:

Auf diese Anklagebank gehören nicht fünf, sondern 50 oder noch besser 500 Personen, die alle mitverantwortlich sind für diese Mordtaten, diese Sprengstoffanschläge, nicht nur weil sie sie nicht verhindert haben, sondern auch, weil sie nichts getan haben, um sie aufzuklären, aber auch, weil sie aktiv mitgewirkt und unterstützt haben.


Angelika Lex, Nebenklagevertreterin der Witwe des 2005 in München vom NSU ermordeten Theodoros Boulgarides, in einer Rede vor dem Oberlandesgericht München am 13. April 2013

Widerlegt wurde die Sichtweise der Anwältin und gewählten bayerischen Verfassungsrichterin in der fünfjährigen Hauptverhandlung keineswegs. Sie wurde vor allem von denjenigen ihrer Kolleginnen und Kollegen geteilt, die sich am engagiertesten durch die umfangreichen Prozessakten wühlten, die detailliertesten Fragen stellten und die meisten Beweisanträge erarbeiteten.

Letztere wurden allerdings von Bundesanwaltschaft und Gericht häufig abgelehnt, wenn sie sich mit der Rolle der Verfassungsschutzämter und ihrer V-Leute befassten.

"Wir wissen alle, dass dieser Mann lügt"

Die Täterschaft des "Nationalsozialistischen Untergrunds" war Ende 2011 bekannt geworden. Jahre vorher, unmittelbar nach dem Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel, dem vorletzten der zehn heute aktenkundigen NSU-Morde, hatte aber zunächst der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme unter Verdacht gestanden. Der Beamte war zur rekonstruierten Tatzeit an einem der Rechner am Tatort im Internetcafé des Opfers eingeloggt gewesen, hatte sich aber nicht als Zeuge gemeldet.

Letzteres begründete er später damit, dass seine damals hochschwangere Ehefrau nichts von seinen heimlichen Erotikchats habe mitbekommen sollen. Allerdings hatte er an diesem Tag auch auffällig lange mit einem V-Mann aus der Neonaziszene telefoniert.

Den Mord an dem jungen Betreiber des Internetcafés will er zunächst nicht einmal bemerkt haben, während ein etwa gleich weit entfernter Zeuge zwei Knallgeräusche wahrgenommen hatte, als seien Luftballons geplatzt. Das sterbende Opfer muss laut Tatrekonstruktion hinter der Theke gelegen haben, auf der sich Blutstropfen befanden, als Temme nach ihm Ausschau hielt und schließlich Geld auf die Theke legte.

"Entweder hat Herr Temme meinen Sohn Halit Yozgat getötet oder gesehen, wie er getötet wurde", erklärte der Vater des Opfers, Ismail Yozgat, im Sommer 2015 nach einer Zeugenvernehmung von Temme vor dem Oberlandesgericht München. "Wir wissen alle, dass dieser Mann lügt."

Temme war sowohl Sportschütze als auch privat im Besitz von NS-Propagandamaterial. Ein abgehörtes Telefonat seiner Ehefrau mit einer anderen Person ergab zudem, dass rassistische Formulierungen wie "Dreckstürken" in seinem Haushalt üblich waren. Das wollte sie aber später in ihrer Zeugenvernehmung vor Gericht nicht so gemeint haben.

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