Akzeptieren die Putschisten in Bolivien ihre Wahlniederlage?
Präsidentschaftskandidat der gestürzten MAS in Befragungen vorne. Schleppende Auszählung durch Wahlbehörde. OAS und EU schweigen
Gelingt Bolivien nach einem Putsch vor einem Jahr die friedliche Rückkehr zur Demokratie? Nach der mit Spannung erwarteten Präsidentschaftswahl am gestrigen Sonntag liegt der linksgerichtete Kandidat Luis Arce in mehreren Nachwahlbefragungen deutlich vorne. Wie der private Fernsehsender Unitel berichtet, kommt Arce auf 52,4 Prozent der Stimmen, während sein Herausforderer, der konservative Ex-Präsident Carlos Mesa (2003-2005), nur 31,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte.
Insgesamt sehen drei Erhebungen Arce zwischen 52 und 53 Prozent, Mesa kommt demnach nicht über 31 Prozent. Arce hatte bereits vor der Abstimmung die Umfragen deutlich angeführt. Die absolute Mehrheit oder ein Abstand von mehr als zehn Prozentpunkten zu seinem Hauptrivalen würde ihm aber eine Stichwahl ersparen.
Die Ergebnisse sind auch beachtlich, weil mit Arce die linksnationalistische Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS) wieder an die Regierung zurückkehren könnte. Ihr bislang prominentester Vertreter, Ex-Präsident (2006-2019) Evo Morales, war Ende vergangenen Jahres im Zuge eines Putsches von Armee und Polizei ins Exil gedrängt worden. Zuvor hatte ihm die Opposition vorgeworfen, die damaligen Wahlen gefälscht zu haben.
Unterstützt wurden die Morales-Gegner von der in Washington ansässigen Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Auch wenn Morales erneute Kandidatur über erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken hinweg durchgesetzt worden war, ist die These eines Wahlbetrugs bisher mehrfach von Wahlexperten dementiert worden und Gegenstand andauernder Debatten.
Der Ex-Präsident selbst bekräftigte am Sonntag aus dem argentinischen Exil, seine Partei habe die Wahlen gewonnen und Luis Arce sei neuer Staatschef: "Die Bewegung zum Sozialismus hat einen Sieg errungen", so Morales.
Doch ganz so klar ist die Situation noch nicht. Denn auch Stunden nach der Abstimmung veröffentlicht die unter der seit einem Jahr herrschenden De-facto-Regierung neu besetzte Wahlbehörde TSE kaum Ergebnisse. In den neun Verwaltungsbezirken des Andenstaates wurden nach Aufstellungen auf der TSE-Homepage erst wenige Prozentpunkte ausgezählt, demnach aber liegt der konservative Mesa in Führung.
Heftige Kritik an Wahlbehörde
Nicht nur die schleppende Auszählung und das dadurch offenbar verzerrte Zwischenergebnis könnte die Stimmung in dem südamerikanischen Land kippen lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass der neue Chef der Wahlbehörde, Salvador Romero, kurz vor der Wahl die etablierte Methode der Schnellauszählung stoppen ließ. Durch diese Überschlagsrechnung war in der Vergangenheit während der laufenden Auszählung die Grundtendenz erfasst und bekanntgegeben worden.
MAS-Sprecher Sebastian Michel kritisierte die spärlich fließenden Informationen des TSE. Die Behörde trage eine große Verantwortung und müsse verantwortlich mit der Situation umgehen, sagte Michel. "Entweder trägt die Unfähigkeit des TSE zur Unsicherheit bei, oder das alles ist Teil eines Plans, um das Ergebnis zu verzögern", so Michel: "Auf jeden Fall macht der TSE eine schreckliche Arbeit." Die Bevölkerung rief der Parteisprecher auf, sich nicht provozieren zu lassen und gewaltsame Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Die langsame Auswertung der Stimmen ist auch deswegen beachtlich, weil just solche Auszählungsprobleme vor einem Jahr zum Putsch gegen die Regierung Morales beigetragen haben. Damals hatte der auch nun angetretene Carlos Mesa zunächst in Führung gelegen, dann hatte nach einer Unterbrechung bei der Veröffentlichung der Ergebnisse der später geschasste Morales mehr Stimmen. Gegner der Wahlbetrugsthese argumentierten erfolglos, dieser Trendwechsel sei mit der langsamen Auszählung der Stimmen aus ländlichen Regionen zu erklären gewesen; ein Schema, dass sich nun freilich wiederholen könnte.
Umso wichtiger wäre dieses Mal ein transparenter und reibungsloser Auszählungsprozess gewesen. Zumal die ursprünglichen Mitglieder der Wahlbehörde nach der umstrittenen Abstimmung Ende vergangenen Jahres mehrheitlich festgenommen wurden und die verbliebenen TSE-Funktionäre unter massivem politischem Druck zurücktraten. Das Gremium wurde unter dem De-facto-Regime der selbsternannten Interimspräsidentin Jeanine Áñez neubesetzt.
Der Vorsitzende einer Wahlbeobachtergruppe politischer Parteien aus Lateinamerika und der Karibik (Coppal), Fernando Lugo, sprach sich nun für eine rasche Auszählung und Veröffentlichung der Ergebnisse aus. Die Verzögerung durch den TSE "schürt das Misstrauen in der Bevölkerung und unter internationalen Wahlbeobachtern", so der ehemalige Präsident von Paraguay.
Schweigen von OAS und EU
Allein für die US-nahe Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) scheint das nicht zu gelten. Von der Regionalorganisation, die sich vor allem unter Generalsekretär Luis Almagro massiv gegen linksgerichtete Regierungen positioniert hat, ist seit dem Wahlabend kaum etwas zu hören. Ebenso wenig wie die OAS äußerten sich die Mitglieder einer kleinen Beobachtergruppe des Auswärtigen Dienstes der EU zu der verzögerten Auszählung. Ganz im Gegenteil bescheinigten beide Gruppen einen "ruhigen Wahlverlauf", obgleich das Land massiv militarisiert war und die Polizei auf den Straßen patrouillierte. Sowohl Armee als auch Polizei waren seit dem Putsch in heftige politische Repression bis hin zu Massakern verwickelt.
OAS-Generalsekretär Almagro hatte zwei Wochen vor den Wahlen zudem Bedenken über die Transparenz der Wahlergebnisse geäußert - und dies mit einer gewagten These verbunden. Nach einem Treffen mit dem Innenminister der De-facto-Regierung, Arturo Murillo, teilte Almagro via Twitter seine "Sorge über die Möglichkeit eines erneuten Wahlbetrugs" zugunsten der von der Regierung verdrängten MAS mit, berichtete das Lateinamerika-Portal amerika21. Zugleich versicherte er, die Wahlbeobachtermission der OAS werde ihr Möglichstes tun, "um dem Willen der Wähler Ausdruck zu verleihen".
Die Zusammenkunft mit Almagro fand in Washington statt, wo Murillo auch mit Vertretern der Regierung von US-Präsident Donald Trump und Spitzen der Interamerikanischen Entwicklungsbank zusammentraf.
Der Hardliner Murillo schien sich angesichts dieser Rückendeckung sicher zu fühlen. So sicher jedenfalls, dass er kurz vor der Abstimmung am Sonntag internationale Wahlbeobachter öffentlich bedrohte und für mögliche Gewaltausbrüche verantwortlich machte. Zuvor waren - offenbar mit Unterstützung von Teilen der De-facto-Führung und bolivianischen Sicherheitsbehörden - Einreisedokumente spanischer Wahlbeobachter einem rechtsgerichteten spanischen Online-Portal zugespielt worden.
Áñez gratuliert, Arce gibt sich demütig
Angesichts des massiven Vorsprungs von Arce in den Nachwahlbefragungen scheint es nun in der Tat kaum möglich, dass sich der Trend noch umkehrt. De-facto-Präsidentin Áñez jedenfalls sorgte für Schlagzeilen, indem sie Arce und seinem Vize David Choquehuanca bereits zur Wahl gratulierte.
Arce gab sich zurückhaltend. Man werde den Reformprozess der MAS neu ausrichten und aus den eigenen Fehlern lernen. Aus der Zentrale des Kampagnenteams der MAS in La Paz versprach er, "für alle Bolivianer" zu regieren und "eine Regierung der nationalen Einheit bilden". Mit den Wahlen am Sonntag habe man Demokratie und Hoffnung zurückgewonnen.
Tatsächlich ist die politische Spaltung in Bolivien ein Jahr nach dem Putsch tiefer denn je. Grund dafür ist in erster Linie der Sturz des ehemaligen Präsidenten und der innen- sowie außenpolitische Umbruch unter einem fanatisch agierenden rechtsklerikalen De-facto-Regime. Diese Zeit aufzuarbeiten, wird einige Kraft kosten. Unter der Herrschaft von Áñez sind Dutzende politische Morde verübt wurden. Vor allem in den Tagen und Wochen nach dem Umsturz hatten Sicherheitskräfte zumindest ein Massaker an Anhängern von Evo Morales verübt.
Auch außenpolitisch wird es einige Korrekturen geben. Das betrifft auch die deutsche Bundesregierung. Nachdem sich Berlin nach dem Putsch 2019 merklich zurückgehalten hatte, kam es zum Eklat, als die De-facto-Führung ein deutsch-bolivianisches Projekt zur Förderung und Industrialisierung von Lithium einseitig aufkündigte. Diese Entscheidung bedeute "einen schweren Rückschlag für unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen und für die internationale Glaubwürdigkeit von Bolivien als Investitionsort", twitterte daraufhin ein merklich aufgebrachter deutscher Botschafter. Offenbar hatte man sich in Berlin von den Geschehnissen in Bolivien etwas anderes erwartet.