Algerisch-französische Beziehungen: Ein Pulverfass der Gegenwart
Seite 2: Tabubrüche
In den 2000er Jahren vollzog Sansal noch einige Tabubrüche, die an reale gesellschaftliche Konflikte oder offiziell verschüttete Probleme rührten.
Er setzte sich für eine Enttabuisierung von Homosexualität ein, und in seinem Buch "Das Dorf des Deutschen" von 2008 behandelte er die Geschichte eines früheren deutschen Nazis, der im algerischen Befreiungskrieg gegen den französischen Kolonialismus Partei für die "Nationale Befreiungsfront" (FLN) gegen Frankreich ergriffen hatte – und sich später im Land niederließ.
Eine solche Strömung von alten Nazis, die nach dem Motto "Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde" etwa antikoloniale Regungen gegen Frankreich oder Großbritannien unterstützte, hat tatsächlich existiert.
Hinlänglich bekannt wurde dies, nachdem 1995/96 zwei Biographien des damals verstorbenen Genfer Nazi-Bankiers und späteren FLN-Unterstützers François Genoud von Karl Laske und Pierre Péan erschienen.
Marginal war diese Tendenz trotzdem. Ihr gegenüber überwog bei weitem die Tatsache, dass Frankreich mit dem Beginn der Kolonialkriege in Indochina (1946-54) und dann in Algerien (1954-62) zahllose frühere Nazikollaborateure, auch etwa Mitglieder der französischen SS-Division Charlemagne in Offiziersränge versetzte und auch deutsche Nazikämpfer massiv in die Fremdenlegion integrierte.
Dies setzte mit dem Ausbruch des Indochinakriegs ein, da damals die bis dahin zahlreichen, aus der kommunistisch geprägten Résistance kommenden Armeemitglieder reihenweise desertierten oder Befehle verweigerten – ihnen hatte man zunächst erzählt, im damaligen Indochina bekämpfe man "die Reste des japanischen Faschismus", was sich schnell als Lüge erwies.
So weit, so gut, und Sansal stieß zunächst an verdrängt Tabus. Schnell steigerte er sich jedoch in eine ideologische Kampagne hinein, die ihn von jeglichem Wirklichkeitsbezug weg führte.
Bei einer Debatte auf der Buchmesse in Frankfurt am Main im Oktober 2011 – der Autor dieser Zeilen war im Saal anwesend – vergleich Sansal bereits die algerische "Nationale Befreiungsfront", die nicht nur den Unabhängigkeitskrieg führte, sondern ab 1962 zur Regierungspartei wurde, mit dem deutschen Nationalsozialismus. Ab dem Punkt wurde es irrational.
Frankreich hat Sansal vor einigen Monaten die Staatsbürgerschaft des Landes verliehen – übrigens gegen die eigene Gesetzeslage, denn Artikel 21-16 des Code civil verbietet es ausdrücklich, jemanden einzubürgern, der nicht seinen Hauptwohnsitz in Frankreich hat. Sansal wohnte damals laut eigenem Bekunden im algerischen Boumerdès, rund 45 Kilometer östlich von Algier.
Er flog zwischen Algerien und Frankreich hin und her. Offizielle in Paris behandelten ihn tatsächlich wie ihre fünfte Kolonne im früheren Kolonialland, was dem Schriftsteller jedoch kein Glück brachte.
Am 21. November gaben französische Stellen offiziell bekannt, Sansal seit fünf Tage zuvor bei der Einreise am Flughafen von Algier verhaftet worden. Die algerischen Behörden bestätigten den Aufgriff und die Inhaftierung Sansals erst in den darauffolgenden Tagen.
Vorgeworfen wird Sansal nicht etwa sein Engagement für Demokratie, sondern Sätze, die bei weitem nicht nur die Machthaber, sondern auch den Großteil der Öffentlichkeit in Algerien schockieren. Darauf wies auch der Politologe und Nedjib Sidi Moussa am 24. November bei einer Debatte beim Fernsehsender France 5 hin, was ihm umgehend eine veritable Hasskampagne von französischen Rechten diverser Couleur und einen Shitstorm beim Kurznachrichtendienst X eintrug.
Sidi Moussa erklärte unter anderem, die französische Öffentlichkeit wolle in dem 75jährigen "einen Aufklärungsideologen, einen Verteidiger der Menschenrechte" sehen, doch "irrt sich gewaltig".
Sansal hatte kurz vor seinem Verschwinden zwei Interviews gegeben, die in den Tagen vor seinem Rückflug nach Algier erschienen.
Bei dem französischen rechtsextremen Magazin Frontières ("Grenzen", früher Livre noir oder "Schwarzbuch") führte er unter anderem zur Vergangenheit Algeriens sowie seines Nachbarn, des Königreichs Marokko, aus, Marokko sei nicht kolonisiert worden, "weil es ein großer Staat war. Es ist einfach, kleine Dinger ohne Geschichte zu kolonisieren, aber einen Staat zu kolonisieren, das ist schwierig."