Algerisch-französische Beziehungen: Ein Pulverfass der Gegenwart

Seite 3: Die Affäre Sansal

Und bei dem eher wirtschaftsliberalen Magazin Atlantico erklärte er, "die Linke" wolle Frankreich mit Migranten überschwemmen, "weil sie die Franzosen verachtet und die Weißen mit blauen Augen ausrotten will". Die Linke, ebenso pauschal bezeichnet, wolle "einen Straf-Sozialismus einführen und das Volk aushungern." (Sic)

Während das irre Atlantico-Interview in Algerien kein Echo auslöste, werden die Sätze aus Frontières nun sowohl durch die Strafverfolgungsbehörden als auch durch algerische Presseorgane zitiert. Sie und objektiv schockierend und mindestens ahistorisch. Marokko wurde im 19. Jahrhundert und wird bis heute durch die Alaouiten-Monarche regiert, diese bot sich Frankreich als kooperationswillige Macht ein und akzeptierte ein Protektorat.

Die wahre Macht lag zu Anfang des 20. Jahrhunderts beim französischen Marschall Hubert Lyautey. Die Unterwerfung Algeriens, das Frankreichs als Siedlungskolonie diente und mit einer Entvölkerung der urbanen Zone von der angestammten Bevölkerung sowie ihrer Vertreibung an die Stadtränder und in ländliche Zonen einherging, stieß auf massivste Widerstände.

Ihr Anführer in den Jahren um 1845, Abdelkader ibn Muhiedinne, gilt als Mitbegründer des humanitären Kriegsvölkerrechts, weil er Regeln für die humane Behandlung von Gefangenen aufstellte – seine Büste ist im Museum des Rote-Kreuz-Begründers Henri Dunant in Genf deswegen neben der Dunants aufgestellt.

Auf französischer Seite wurde der französische Marschall Thomas Robert Bugeaud im selben Jahrzehnt als Erfinder der von ihm so bezeichneten enfumades – also Vergasungen von Tausenden von Menschen in Höhlen durch das Einleiten von Rauch – bekannt. Im Kolonialkrieg von 1954 bis 1952 forderte die französische Repression zwischen 300.000 und eine Million Tote und unzählige Folteropfer.

Sansal gilt vielen Algeriern deswegen, aus guten Gründen, eher als eine Art Vertreter eines Komplexes der Kolonisierten.

Nichtsdestotrotz ist es schockierend, dass allein aufgrund der öffentlichen Äußerung schräger Sätze nun einem Schriftsteller der Prozess gemacht werden soll. Auch Literaturnobelpreisträger und -preisträgerinnen wie Annie Ernaux und Orhan Pamuk sowie Salman Rushdie machten sich infolgedessen, zu Recht, ebenfalls für seine Freilassung stark.

Doch auf französischem Boden wurde eine Kampagne losgetreten, ja eine wahre Schlammflut von Propaganda losgetreten, bei der es weitaus weniger um Kritik an der Repression gegen einen bedrohten Schriftsteller geht denn um Selbstdarstellung und -rechtfertigung französischer Nationalisten und Rassisten.

Ein Abgeordneter des rechtsextremen RN, Guillaume Bigot, forderte lautstark Sanktionen gegen Algerien – und fand damit Applaus bei marokkanischen Medien, wo nunmehr regelmäßig der rechtsextreme französische Afrikanist Bernard Lugar (ansonsten hauptsächlich Fan der Umwandlung des afrikanischen Kontinents in einen Zoo von "Ethnien") die "Affäre Sansal" kommentiert.

Beim aggressiv konservativ-wirtschaftsliberalen Wochenmagazin Le Point wird Sansal gar zum Aufklärungsphilosophen befördert und dargestellt, als würden Galileo Galilei und Nikolas Kopernikus in einer Person vor die Inquisition gezerrt.

Gut französisch könnte man es tatsächlich mit dem echten Aufklärer Voltaire halten, von dem der Satz stammen soll – ob er ihn wirklich so aussprach, ist umstritten –, er teile nicht die Auffassung seines Gegenübers, "aber ich setze mich dafür ein, dass Sie sie sagen dürfen".

Ganz in diesem Sinne kann man für die Freilassung eines betagten Schriftstellers eintreten und ihn trotzdem inhaltlich für einen Spinner halten.

Und die algerischen Behörden sollten kapieren, dass man in Zeiten des Internet und des "Streisand-Effekts" durch ausgesprochen archaische Repressionsmethoden Ideen, auch wenn sie dumm sind, allenfalls Aufmerksamkeit verschafft und nicht ihre Verbreitung verhindert.