Allein die Menge macht das Gift

Dandelion Dead

Giftmord auf britische Art, Teil 2

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Teil 1: Aber bitte nicht mit den Fingern

Der Fall Armstrong, obwohl tragisch endend, hat auch seine komischen Seiten. In Dandelion Dead ist Major Armstrong eine Zeitlang auf der Flucht vor Oswald Martin, der wissen will, wann seinen Mandanten endlich die von ihnen erworbenen Grundstücke übertragen werden. Nicht jetzt gleich, aber bald, sagt der Major, wenn man sich zufällig begegnet. Martin drängt und der Major weicht aus. In seinem Büro muss Armstrong sich wegducken, weil Martins Kanzlei der seinen gegenüber liegt und ihm der Quälgeist ins Fenster schauen kann, und während er sich noch verleugnen lässt steht Martin schon in der Tür. Mike Hodges hat diese Szenen mit viel Sinn für Situationskomik inszeniert, und David Thewlis als Martin ist dem wunderbaren Michael Kitchen ein kongenialer Partner. Es kann gut sein, dass es der echte Martin tatsächlich so empfunden hat. Wie üblich, kommt es auf den Standpunkt an, denn die objektive Wahrheit gibt es nicht.

Gefährliche Teestunde

Wenn ich glaube, wie Robin Odell in seinem Buch, dass Armstrong kurz vor der Pleite stand und das Geld von Martins Mandanten veruntreut hatte, dann sehe ich einen kleinen Mann auf der Flucht. Bin ich hingegen überzeugt davon, wie Martin Beales, dass Armstrong eine florierende Anwaltskanzlei betrieb, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Martin, meint Beales, war besessen von den Velinewydd-Grundstücken, weil das für seine Verhältnisse eine große Transaktion war. Für Armstrong war es ein Mandat unter vielen, und bei weitem nicht das wichtigste. Je nach Sichtweise kommen also zwei völlig unterschiedliche Geschichten bei der Interpretation der Geschehnisse heraus. Mir persönlich gefällt die Gesellschaftskomödie am besten. In dieser Version versucht Martin bei jeder sich bietenden Gelegenheit, mit Armstrong über die Geschäfte zu reden, bei einer Hochzeit genauso wie beim Teetrinken. Für Armstrong ist das ein schockierender Verstoß gegen die Etikette, weil ein Gentleman das Private und das Geschäftliche strikt trennt. Das kann er Martin aber so direkt nicht sagen, weil man auch das nicht macht, und deshalb weicht er, peinlich berührt von dessen aggressivem Insistieren, ständig aus. Martin, kein Gentleman und mit den Benimmregeln der besseren Kreise nicht vertraut, kann gar nicht anders, als das Verhalten seines Kollegen, das er nicht versteht, verdächtig zu finden.

Martin wurde vom Verfolger zum Verfolgten, als er glaubte, dass Armstrong ihn vergiften wollte. Dem ernsten Anlass zum Trotz setzte sich die Gesellschaftskomödie - in einer möglichen Version von der Geschichte - ungehindert fort, weil das generelle Kommunikationsproblem der beiden Anwälte bestehen blieb. Mit derselben Penetranz, mit der Martin bis zum gemeinsamen Scone-Essen in Mayfield versucht hatte, mit Armstrong über die von seinen Mandanten ersteigerten Bauernhöfe zu reden (mit dem Ziel, die Kaufverträge zu annullieren), versuchte Armstrong anschließend, mit seinem Kollegen so bald wie möglich wieder Tee zu trinken. Später räumte er ein, dass er es wohl etwas übertrieben habe. Ich würde das als einen Ausdruck der Hilflosigkeit deuten.

Armstrong hatte Martin in sein Haus eingeladen, um ihm zu zeigen, dass er ein Gentleman war und den Gast dabei wie einen Gentleman behandelt, um ihm zu signalisieren, dass man auch in geschäftlichen Dingen so miteinander umgehen sollte: von Gentleman zu Gentleman. Martin hatte die Signale nicht verstanden. Armstrong fiel nichts Besseres ein, als das Ganze so schnell wie möglich zu wiederholen. Hätte Martin seinem Drängen nachgegeben und beim nächsten Teetrinken wieder nichts begriffen, hätte Armstrong sich vielleicht gedacht, dass dieser Mensch ein hoffnungsloser Fall war und seine Versuche, ein kollegiales Verhältnis herzustellen, aufgegeben. Der Apotheker Davies hatte seinen Schwiegersohn aber überzeugt, dass Armstrong ihn umbringen wollte und vor weiteren Mordanschlägen gewarnt. Martin geriet darüber in Todesangst, konnte Armstrong jedoch nicht sagen, dass er nicht mit ihm Tee trinken wollte, weil er fürchtete, vergiftet zu werden. Das wäre unhöflich gewesen. Darum erfand er ständig neue Ausreden, während Dr. Hincks Briefe an das Innenministerium schrieb und die Bürokratie mit der ihr eigenen Behäbigkeit die Arbeit aufnahm.

Dandelion Dead

Obwohl es um Leben und Tod gehen könnte ist es sehr komisch, wenn Martin in Dandelion Dead beim Klingeln des Telefons in Schweiß ausbricht, sich in seinem Büro verschanzt, als Armstrong vor der Tür steht, wenn er angesichts des freundlich (oder sardonisch?) grüßenden Kollegen erschrickt, als habe er den Leibhaftigen gesehen und wenn er sich hinter seiner Frau versteckt, als Armstrong zu ihm nach Hause kommt, um eine seiner Einladungen auszusprechen. Wer mal einen Nachbarn oder einen Arbeitskollegen hatte, der unbedingt einen Kaffee mit einem trinken will, obwohl man das nicht möchte und der einen gleich wieder zum Kuchen einlädt, wenn man glaubt, es glücklich hinter sich gebracht zu haben, weiß wie das ist. Man kann diese Geschichte auch ohne Mord erzählen.

Dandelion Dead

Als Armstrongs Bemühungen, Martin auf privater Ebene zu begegnen (und dadurch ein angenehmeres Geschäftsklima herzustellen) nichts fruchteten schlug er vor, sich dann eben mal in seiner Kanzlei auf eine Tasse Tee zu treffen. Martin verlegte in dieser Notlage sogar die Teestunde nach vorne, damit er sagen konnte, dass er seinen Tee schon getrunken hatte, wenn Armstrong den nächsten Versuch startete. Fast könnte man meinen, dass er, der sonst kein Fettnäpfchen ausließ, unter dem Druck der Ereignisse doch noch gelernt hatte, wie man sich in der guten Gesellschaft von Hay-on-Wye zu benehmen hatte (Falsch: "Leider kann ich Ihre freundliche Einladung zum Tee nicht annehmen, weil ich glaube, dass Sie mich vergiften wollen."; Richtig: "Ich habe heute schon Tee getrunken, und deshalb kann ich leider …"). Auch das ist trügerisch wie das meiste in diesem Kriminalfall, bei dem man nie den gesellschaftlichen Hintergrund vergessen darf. Der Beamte im Ministerium legte den Finger auf den wunden Punkt, als er in sein Memo schrieb, dass Dr. Hincks um seine berufliche Existenz fürchten musste, wenn sich herausstellen sollte, dass er Armstrong zu Unrecht beschuldigt hatte. Dasselbe galt für Davies und seinen Schwiegersohn. Sie mussten schweigen, solange die Polizei Armstrong nicht verhaftet hatte. Und weil Geld mit im Spiel war, bei dem der Spaß bekanntlich aufhört, wurde aus der Komödie eine Tragödie.

Vergiftete Ermittlungen

Die Heldin von Deadly Advice, einer schwarzen Komödie von 1994, lebt in Hay-on-Wye und hat merkwürdige Erscheinungen: Die berühmten Mörder, die sie als Kind im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud gesehen hat. Dr. Crippen, Kate Webster, Jack the Ripper und Major Armstrong geben ihr Tipps, wie man eine tyrannische Mutter und andere Nervtöter umbringt, ohne dabei erwischt zu werden. Edward Woodward, der Meister des schauspielerischen Minimalismus, verkörpert Armstrong mit vornehmer Zurückhaltung und dem Understatement eines echten Gentlemans. Der Major hätte da keinen Grund zur Klage. Aber wie kam er in diese illustre Mörderrunde? Bisher haben wir einen schlimmen Verdacht, Arsen im Urin, zwei Giftpralinen und eine tote Gattin. Wie wurde daraus nun die Schlinge, die der Henker Major Herbert Armstrong um den Hals legte?

Deadly Advice

Im klassischen Kriminalroman ist auf den Ermittler Verlass. Bei Edgar Wallace garantieren Mr. Reader, Inspektor Elk und die anderen, im Grunde austauschbaren Polizisten dafür, dass der Verbrecher seine gerechte Strafe erhält. Dieses Prinzip gilt auch dann, wenn der Inspektor eine täppische Figur ist wie Lestrade, weil bei Conan Doyle der Privatdetektiv Sherlock Holmes für die Polizei in die Bresche springt. Am Anfang gerät die Gesellschaft in Unordnung, weil jemand ermordet wurde. Am Schluss ist die Ordnung wieder hergestellt, weil der Inspektor oder der Detektiv den Täter überführt hat. Das macht diese Krimis so beruhigend. Als es im Vereinigten Königreich noch die Todesstrafe gab, war für eine gruselige Symmetrie gesorgt: Der Täter begeht einen Mord und wird dafür selbst getötet, was dann allerdings nicht Mord heißt, sondern Hinrichtung. Der Fall Armstrong ist eine gute Gelegenheit, über solche Symmetriebedürfnisse neu nachzudenken.

Deadly Advice

Major Armstrong hatte das Pech, dass er zu einer Zeit in die Mühlen der Justiz geriet, als die Krimis des enorm populären Edgar Wallace das Bewusstsein prägten, in seinem Fall aber ein Inspektor ermittelte, der besser in einen Roman von John Bingham gepasst hätte und es keinen Holmes oder Hercule Poirot gab, der korrigierend eingriff. Bingham allerdings schrieb seine Bücher nach dem Zweiten Weltkrieg, der viel mehr in Unordnung gebracht hatte, als sich danach wieder reparieren ließ. Das ermöglichte auch einen neuen, kritischeren Blick auf die Polizei. Statt ergebnisoffen einen Mord zu untersuchen, legt sich der Inspektor in Binghams My Name is Michael Sibley sehr schnell auf einen Täter fest. Danach sammelt er mit Tunnelblick Indizien, die das, was er zu wissen glaubt, beweisen könnten. Bei Herbert Armstrong war es so ähnlich - "so ähnlich", weil Armstrong mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht konfrontiert war, was in Krimis gern zu einer Person verdichtet wird. Es gab damals nur keinen, der das so gesagt hätte, und beim Lesen spannender Bücher kam man auch nicht auf eine solche Idee, denn der Kriminalroman hinkte der Realität hinterher. Als in zwei Pralinen und einer Flasche mit Martins Urin Arsen entdeckt wurde, stand Armstrong für die Behörden als Giftmörder so gut wie fest. Jetzt brauchte man noch Indizien, ein Motiv und wenn möglich eine Leiche, denn Oswald Martin, das mutmaßliche Opfer, war nicht tot, sondern sehr lebendig, und auch der Magen von Martins Schwägerin, die Praline 3 mit der tödlichen Dosis Arsen gegessen hatte, war so robust gewesen, dass sie nicht gestorben war.

Am 10. Dezember 1921 traf Chefinspektor Alfred Crutchett von Scotland Yard in Hay ein, um Zeugen zu vernehmen. Zuerst sprach er mit dem Ehepaar Davies. Mr. Davies gab an, dass die Krankheitssymptome seines Schwiegersohns die einer Arsenvergiftung gewesen seien, dass Armstrong Arsen bei ihm gekauft habe und dass ein oder zwei Wochen vor ihrem Tod eine völlig gesund wirkende Mrs. Armstrong bei ihm in der Apotheke gewesen sei, weshalb er befürchte, dass auch sie vergiftet worden sei. Mrs. Davies ergänzte, dass Major Armstrong vor und nach dem Tod seiner Gattin durch sein gefühlloses Verhalten aufgefallen sei. Das hatte man ihr so berichtet. Mr. Armstrong kannte sie nicht persönlich, und sie legte auch keinen Wert darauf, weil er ihr nach dem, was andere erzählt hatten, sehr unsympathisch war. In den nächsten Tagen vernahm Crutchett Constance und Oswald Martin, Martins Brüder und die beiden Schwägerinnen, von denen sich die eine heftig übergeben musste, nachdem sie eine Praline (und jede Menge anderes Zeug) gegessen hatte.

Chief Inspektor Alfred Crutchett und Detective Sergeant Sharp in Hay

Beim Teetrinken mit Martin hatte Armstrong die Gelegenheit gehabt, diesen zu vergiften. Aber bei den geringen Spuren von Arsen, die in Martins Urin gefunden wurden, fangen schon die Probleme an. Dr. Hincks hatte die mutmaßliche Vergiftung als Magenverstimmung behandelt und eines jener Bismutpulver verschrieben, die oft Arsen enthielten. Niemand weiß, ob und in welchem Umfang das auf Hincks’ Pulver zutraf, weil es nie untersucht wurde. Die Medizinflasche mit der Urinprobe kam aus dem Schrank, in dem der Apotheker seine Arsenvorräte aufbewahrte. Sie könnte verunreinigt gewesen sein, weil Davies sie nur mit Wasser ausgespült hatte, und für ihn wäre es sehr leicht gewesen, selbst Arsen in die Flasche zu geben. Statt sich zu fragen, ob es einen begründeten Verdacht gab oder ob man auch über andere Möglichkeiten nachdenken sollte hofften die Behörden, dass sich die nicht vorhandenen Beweise schon noch finden würden und weiteten die Ermittlungen gegen Armstrong aus. Davies hatte Crutchett erzählt, dass Armstrong bereits 1919 Arsen bei ihm gekauft hatte. Wie also, wenn dieser viel früher damit begonnen hätte, seine Frau zu vergiften, als bisher angenommen? Immerhin bezeugte Dr. Hincks, dass Katharine vor ihrer Einlieferung in die Nervenheilanstalt (August 1920) alle Anzeichen einer Arsenvergiftung aufgewiesen habe (auch wenn er das zu der Zeit nicht bemerkt hatte).

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