Alt, arm und abgehängt
Seite 3: Was zu tun ist
Wenn die obige Analyse der Entstehungsursachen von Altersarmut richtig ist, muss eine Gegenstrategie auf zwei Ebenen ansetzen: Notwendig ist die Reregulierung des Arbeitsmarktes, ergänzt um die Fortentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung zu einer solidarischen Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung.
1. Nur ein Mindestlohn in existenzsichernder Höhe, also von mehr als 12 Euro brutto pro Stunde, die Streichung sämtlicher (besonders vulnerable Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten treffender) Ausnahmen sowie eine flächendeckende Überwachung durch die zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls könnten bewirken, dass der Mindestlohn überall ankommt. Er sollte perspektivisch nach angloamerikanischem Vorbild zu einem "Lebenslohn" (living wage) weiterentwickelt werden, der nicht bloß die Existenz, sondern auch die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglicht.
Tarifverträge müssen durch Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung wieder ihre gesellschaftliche Normsetzungswirkung entfalten, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt, alle sachgrundlosen Befristungen aufgehoben und Leiharbeitsverhältnisse entweder ganz verboten oder stärker reguliert werden.
2. Es reicht nicht, die Riester-Reform rückabzuwickeln, die Dämpfungs- bzw. Kürzungsfaktoren (Riester-Treppe sowie Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor) aus der Rentenanpassungsformel herauszunehmen, das offizielle Renteneintrittsalter stabil zu halten und die Bundesagentur für Arbeit wieder Rentenversicherungsbeiträge für Erwerbslose zahlen zu lassen.
Eine solidarische Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung hat im Hinblick auf die Altersvorsorge zwei Grundfunktionen: Lebensstandardsicherung und Armutsbekämpfung. Sie muss einerseits dafür sorgen, dass alle Menschen, die jahrzehntelang berufstätig waren, den während ihres Erwerbslebens gewohnten Lebensstandard nach dessen Beendigung halten können, und andererseits sicherstellen, dass Menschen, die eine diskontinuierliche Erwerbsbiografie aufweisen, nicht erwerbsfähig und/oder lange Zeit arbeitslos waren, im Alter würdevoll leben können.
Selbstständige, Freiberufler:innen, Beamte, Abgeordnete und Minister:innen müssten ebenso Beiträge entrichten wie die Arbeitnehmer:innen. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten, d.h. auch Kapitalerträge, also Zinsen, Dividenden und Tantiemen, sowie Miet- und Pachterlöse wären Beiträge zu entrichten. Die bisher Solidarität limitierende Beitragsbemessungsgrenze müsste entweder auf- oder stark angehoben werden, damit es privilegierten Personengruppen nicht mehr möglich ist, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte teilweise zu entziehen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zusammen mit Gerd Bosbach und Matthias W. Birkwald das Buch Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung herausgegeben. Zuletzt ist von ihm Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona erschienen.
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