Amazon: Staat ohne Grenzen

Seite 2: "Frei ist, wer reich ist"

Für demokratische Verhältnisse ist es eine gefährliche Konstellation, wenn Besitzer der für die Kommunikation unverzichtbaren Technik auch direkt die verbreiteten Inhalte bestimmen können.

Schon 1965 wies der Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Paul Sethe, in einem vom Spiegel veröffentlichten Leserbrief darauf hin, dass die Gefahr bestehe, "dass die Besitzer der Zeitungen den Redaktionen immer weniger Freiheit lassen, dass sie ihnen immer mehr ihren Willen aufzwingen. Da aber die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben können, immer kleiner".

Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Journalisten, die diese Meinung teilen, finden sie immer. (…) Aber wer nun anders denkt, hat der nicht auch das Recht, seine Meinung auszudrücken? Die Verfassung gibt ihm das Recht, die ökonomische Wirklichkeit zerstört es. Frei ist, wer reich ist.

Paul Sethe, 1965

Trotz aller Veränderungen in der Medienwelt ist Sethes Warnung heute aktueller denn je – nicht nur, weil Amazon-Chef Jeff Bezos mit der Washington Post seit 2013 eine der wichtigsten Zeitungen in den USA besitzt.

Die "sozialen Netzwerke" – vor allem Twitter und Facebook – oder Suchmaschinen wie Google haben inzwischen eine solche Hegemonie erreicht, dass sie durch die Sperrung von Konten oder ein Herabstufen von Treffern in der Anzeige von Suchergebnissen die Möglichkeit zur Meinungsäußerung drastisch einschränken können. Auch in Deutschland wurden schon unter anderem gewerkschaftliche Angebote von solchen Zensurmaßnahmen betroffen.

Amazon stellt die Infrastruktur – Server, über die der Konzern zum Beispiel Video-Streamingdienste (Amazon Prime) anbietet. Diese bieten immer mehr Inhalte aus eigener oder übernommener Produktion an – der vom Konzern im März 2022 vollzogene Kauf des Hollywood-Studios MGM weist in diese Richtung.

Das benötigte Equipment können die Kundinnen und Kunden praktischerweise direkt im Amazon-Onlineshop beziehen – zu bezahlen mit dem konzerneigenen Bezahldienst Amazon Pay. Gleichzeitig sind aber auch Konkurrenten wie Netflix gezwungen, die von Amazon/AWS bereitgestellte Infrastruktur zu nutzen, weil sie ihren Kund*innen sonst kein konkurrenzfähiges Angebot machen könnten.

Damit aber begeben sie sich in direkte Abhängigkeit von Amazon, das ihnen ohne Weiteres die Luft abdrehen könnte. Das gleiche gilt noch mehr für Handelsunternehmen, die auf die Nutzung der Marktplattform von Amazon angewiesen sind, sich aber den Vorgaben und Regularien des Konzerns beugen müssen.

Wir können deshalb ohne größere Übertreibung feststellen, dass Amazon mittlerweile nicht mehr nur den Markt beherrscht, sondern im Bereich des Online- und Versandhandels selbst der Markt ist.

Schon für Lenin war die "Kombination", die Vereinigung verschiedener Industriezweige in einem einzigen Unternehmen, eine "äußerst wichtige Besonderheit des Kapitalismus, der die höchste Entwicklungsstufe erreicht hat".

Zustimmend zitiert er Rudolf Hilferding mit der Aussage, dass die Kombination eine "Ausschaltung des Handels" bewirke:

Die Ausschaltung des Handelsprofits ist möglich durch die fortgeschrittene Konzentration. Die Funktion des Handels, die in den einzelnen kapitalistischen Betrieben zersplitterte Funktion zu konzentrieren und so den anderen industriellen Kapitalisten die Befriedigung ihres Bedarfes in dem ihnen entsprechenden Quantum zu ermöglichen, ist nicht mehr notwendig.


Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Dritter Abschnitt: Das Finanzkapital und die Einschränkung der freien Konkurrenz

Ding Gang, ein leitender Redakteur des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Chinas, Renmin Ribao, warnte deshalb am 14. April 2021 im englischsprachigen Schwesterblatt Global Times:

Die von Amazon repräsentierte Macht der Automatisierung und Digitaltechnologie verschärft gesellschaftliche Spaltungen und könnte eine Quelle für eine bevorstehende lange andauernde soziale Instabilität sein.


Global Times, 14. April 2021

Für uns als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter folgt daraus, dass wir uns in der Auseinandersetzung mit den Großkonzernen nicht im Klein-Klein verlieren und weder nationalen Grenzen noch den Fesseln unternehmensfreundlicher Gesetze beugen dürfen.

Dabei darf die Vergesellschaftung bzw. Teilvergesellschaftung dieser Konzerne nicht tabuisiert werden. Als Gewerkschaften sind wir gut beraten, diese Debatte anzustoßen und in der Gesellschaft eine Vorreiterrolle zu übernehmen.

Wir dürfen nicht zulassen, dass einzelne Konzerne mehr Macht haben als die ganze Bevölkerung. Der Kampf gegen die Übermacht von Amazon und Co. ist deshalb ein Kampf um die demokratischen Rechte und Freiheiten, ein Kampf um die Verteidigung der Menschenrechte.

Orhan Akman ist Kandidat für Bundesvorstand der Gewerkschaft ver.di