Amerika Online 11

Triptychon: Hypertext, Surfiction, Storyworlds (Teil Zwei)

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Mit dem Bekenntnis, daß ihn der Effekt, den die Technologie der neuen Medien auf die Praxis des Schreibens ausübt, seine "Dinosaurierhaftigkeit" spüren läßt, räumt der Romancier und Literaturpreisträger John Barth in einem seiner jüngsten Essays über den Stand der zeitgenössischen Erzählkunst - passend mit "State of the Art" betitelt - ein, daß er für Hypertext eine wohlwollende Neugier "aufgrund [meines] langjährigen Interesses an den nicht-linearen Aspekten des Lebens und der Literatur" aufbringt.

Barths "langjähriges Interesse" läßt sich auf einen wichtigen Essay mit dem Titel "Die Literatur der Erschöpfung" zurückverfolgen, den er 1967 verfaßte und an dessen Beginn sich der Ausruf findet, "daß eine Unzahl von Künstler/innen bereits seit unzähligen Jahren an hergebrachten Definitionen von künstlerischen Medien, Genres und Formen etwas auszusetzen haben . . . Pop Art, dramatische und musikalische 'Happenings', die gesamte Bandbreite 'multimedialer' oder mit 'Mischtechniken' arbeitender Kunst bezeugen in jüngster Zeit jene Tradition, die sich gegen 'die Tradition' auflehnt."

Barths schriftstellerisches Hauptaugenmerk auf diese rebellischen multimedialen Formen entspricht ähnlichen Spielarten intellektueller Neugier, der viele seiner postmodernen Schriftstellerkolleg/inn/en frönen, von denen die meisten die Zerstörung der Form des Romans in den sechziger und siebziger Jahren vorangetrieben haben und die, wie ich in meiner letzten Kolumne anmerkte, ein kollektives Werkkorpus geschaffen haben, das narrative Nachwuchskonstruktivist/inn/en im neuen Medienenvironment ernsthaft in Betracht ziehen sollten. Jungen Künstler/innen, die sich in die literarische Produktion im Web vertiefen, wäre gut geraten, diese frühen postmodernen Impresarios allerwenigstens zu lesen, und dies besonders deshalb, weil gegenwärtige Entwicklungen in der literarischen Buchproduktionsszene so voraussagbar und genreorientiert sind.

Mit den Worten von Ron Sukenick, der neben Barth, Raymond Federman, Robert Coover, Donald Barthelme und anderen pomo fictioneers die Art und Weise verändert hat, wie wir mit Romanen interagieren:

"Ein Genre ist traditionell, ein Medium dagegen technologisch. Wir leben in einer technologischen Kultur, nicht in einer traditionellen Kultur."

Dies ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum sich manche der aufregendsten narrativen Projekte, die heutzutage entworfen werden, im Netz ereignen. Das hat mit dem zu tun, was Walter Ong im Untertitel seines berühmten Buches Oralität und Literalität als "die Technologisierung des Wortes" bezeichnet. Dieser "Technologisierungs"-Prozeß eröffnet narrativen Künstlern enorme Möglichkeiten, um

1) mit formalen Fragen zu experimentieren, die in Buchform erschöpft worden sind,

2) neuen Methoden kultureller Produktion und Distribution den Weg zu bahnen,

3) das Modell des einzelnen Autors-als-Genie vermittels kollaborativer Autorenschaft von Netzwerken zu problematisieren, die nicht-hierarchische Gruppenproduktion und Teamwork unterstützen.

Während die Mainstream-Verlagsindustrie auf ihre Rolle in der Vermarktung DES Romans stolz ist - als ob DER Roman ein vorgefertigtes Ding wäre, das nur nach einem bestimmten Schema für einen Konsumgütermarkt von Romanlesern produziert werden müßte -, ermöglicht es im Gegensatz dazu das multimediale Environment des Webs digitalen Künstlern, mit einer Vielzahl von Romanformen zu experimentieren, die über das Buch hinausgehen und uns dazu herausfordern, die zeitgenössische narrative Praxis neu zu konfigurieren. Ein Projekt, an dessen Rändern ich während der letzten sechs Monate operiert habe und das versucht, ernsthaft mit diesen neuen, vom Web gebotenen Möglichkeiten zu spielen, nennt sich Holo-X.

Holo-X, das vor kurzem ans Netz ging und von der New York Times, Wired und Le Monde begrüßt wurde, ist ein 3-D VRML-Projekt, das Kunst, Sex, Kommerz und Technologie in der Figur seines geilen Hyperstars verbindet, der Sorceress of Language in Uncharted Technologies, auch bekannt als S.L.U.T. [engl. "slut" = Schlampe, A. d. Ü.]. S.L.U.T. ist ein künstlich intelligenter Hot.bot, der einen sprachgesteuerten, leeren Eros verströmt und auf einen Angriff auf die konventionelle Auffassung des Begehrens der Benutzer/innen angelegt ist. Die Deutung des Begehrens, via S.L.U.T.s narrativem Verhalten, das einerseits durch ihre animierten Bewegungen im 3-D-Raum und andererseits durch ihre geheimen Schriften, die in ihrem 3-D-Schlafzimmer zugänglich sind, erfahrbar wird, gerät zum Bestandteil der interaktiven Fiktion und zwingt den/die Benutzer/in zu einer Neueinschätzung der Rolle, die der virtuellen Realität in ihren Rollenspiel-Phantasien als soziales Wesen zukommt, das durch den pornosophischen Hyperspace navigiert.

Der bedeutendste Künstler, der für das Projekt zeichnet, Avant-Pop-Poet und VRML-Architekt Jay Dillemuth, bezeichnet Holo-X als "ein Gemeinschaftsexperiment im Avant-Kapitalismus". Er hat gute Gründe, diesen als Oxymoron erscheinenden Neologismus zu kreieren, denn seine Produktionsfirma für neue Medien, Berkeley Interactive Design, experimentiert sowohl mit den formal innovativen Herausforderungen von Kunst im Web als auch mit dem Potential zur Schaffung von Publikum durch die Unterhaltungs-Programmgestaltung von neuen Medien. Auf die Bitte, die komplexe technische Arbeit hinter Holo-X zu erklären, erzählte er mir folgendes:

"Die ersten Projektschritte betrafen alleinig das Design. Um jene Art von Performance zu erreichen, die wir bei Lower-End-Maschinen suchten, mußte die Figur aus einer so geringen Zahl an Polygonen wie nur möglich gebaut werden. Ich experimentierte anfänglich mit nicht-VRML-nativen 3D-Modeling-Anwendungsprogrammen mit High-End-Features wie NURBS und MetaBalls, fand es jedoch schwierig, die Komplexität des Modells zu beherrschen, ohne auf Polygon-Reduktionsalgorithmen zurückgreifen zu müssen, die dazu tendierten, die Qualität des Modells über eine akzeptables Maß hinaus zu verringern. Um also die Qualität hoch und die Zahl an Polygonen gering zu halten, entschloß ich mich, die Figur fast buchstäblich 'mit der Hand' zu modellieren. Damit meine ich, daß das Designen mit einem Zeichenstift, einem Lineal und Millimeterpapier begann und der gesamte VRML-Code mit einem einfachen Texteditor geschrieben wurde. Daher besteht S.L.U.T. aus weniger als 500 Polygonen, was heißt, daß wir die Einzelbildrate bei beinahe 10 Frames pro Sekunde auf einem durchschnittlichen PC ohne Hardwarebeschleunigung halten können. Die Figur auf diese Weise zu entwerfen, konfrontierte uns jedoch mit anderweitigen Problemen. Wir konnten keine Animationssoftware finden, die VRML-2/97-Modelle importieren kann. Beinahe alle Programme können VRML exportieren (jedoch, wie gesagt, keine besonders effiziente VRML), aber es gelang uns nicht, Konvertierungsprogramme zu finden, die man für eine Dateikonvertierung in beide Richtungen einsetzen konnte. Das hieß, wir mußten auch ihre Animationen 'mit der Hand' bauen, weiters unsere eigenen Orientierungs-Interpolatoren für ein jedes ihrer zwanzig Gelenke schreiben - ein Faktum, das der Komplexität der Animationen, die wir für diese Betaversion bauen konnten, sichtbare Restriktionen auferlegte. Anstatt längere, lineare Animationseinheiten zu verwenden (für die die meisten Animationsanwendungsprogramme besonders nützlich zu sein scheinen), schrieben wir ungefähr fünfzig oder sechzig gesturale Animationen, die zwischen zwei und sechs Frames umfassen und im allgemeinen nur einen Körperteil betreffen (also einen Arm, der konkret aus drei Gelenken besteht). Diese Animationen bauten auf einer beschränkten Serie gewöhnlicher Start- und End-Frames auf, so daß sie in zahlreichen Kombinationen miteinander verkettet werden konnten. Außerdem bauten sie auf einer beschränkten Serie allgemeiner semantischer Bedeutungen (also 'aggressive Gesten', 'laszive Gesten', 'allgemeine Sprachgesten', etc.) auf, so daß sich mit gewöhnlichem JavaScripting der semantische Inhalt ihres Dialogs und ihre Animationsdaten mühelos in ein einigermaßen naturalistisch erscheinendes Verhalten koordinieren lassen."

Was den Dialog von S.L.U.T. betrifft, ist die ihm zugrundeliegende Struktur einfach - es gibt zwanzig "Szenen" oder Monologe, die zwischen 1,5 und 3 Minuten dauern und von denen ein/e jede/r mit einer Entscheidungsfrage endet. Was S.L.U.T. jedoch einzigartig macht, ist die Tatsache, daß in jedem beliebigen Moment das, was sie sagt, zufällig aus fünf Möglichkeiten gewählt wird (eine Leistung, die gewöhnliches JavaScripting voraussetzt, um die Fähigkeiten von VRML zu erweitern). Dies bewirkt einen OuLiPo-ähnlichen Einschränkungsmechanismus, der das Schreiberteam dazu zwingt, Textzeilen zu produzieren, die einer vorgegebenen Länge oder dem, was Dillemuth als "Array" bezeichnet, entsprechen. Dabei ist für mich als Schriftsteller, der stets auf der Suche nach neuen Wegen ist, die Sprache sich selbst sprechen zu lassen, von höchstem Interesse, wie diese Art einschränkungsorientiertes Schreiben eine abstraktere hypertextuelle Struktur erzwingt, die es der Karikatur von S.L.U.T. erlaubt, eine linguistische Triebkraft in einem stark gesättigten sinnstiftenden Environment zu bewahren.

Der Hauptunterschied zwischen dieser Art abstraktem hypertextuellen Schreiben und einem kontrollierteren Stil, den frühe Autoren befürworten, besteht darin, daß sich Holo-X nicht so sehr auf die Schaffung von "Hot-Links" verläßt, die andere Texte "hervorbringen". Zugegeben, das ist auch hier der Fall, was aber in den Vordergrund rückt, ist das narrative Environment selbst, ein 3-D-Interface, das Hypertext-"Links" nur als einen potentiellen narrativen Kunstgriff unter vielen vorführt, der dem/der Storyworld-Erfinder/in zur Verfügung steht (zusätzlich zu Streaming Text, Audio, Video, Animation, K.I.-Verhalten, etc.).

All dies suggeriert ein technisches Bewußtsein, zu dem man auf altmodische Weise gelangt ist, und zwar durch endloses Herumprobieren, mit der Neigung zu schlaflosen Nächten und Halluzinationen unter Tags, voller Codezeilen, die einem die Sicht verschwimmen lassen.

Aber Dillemuth ist kein Hacker. Und darum geht es. Die meisten Hacker wollen mit ihrem schändlichen Tun prahlen, damit ihnen die Lobpreisungen ihrer delinquenten Kollegen gewiß sind. Dillemuth betrachtet sein weltenschaffendes Tun als Teil eines laufenden, prozeßorientierten Kunstwerks, dessen Werdegang sich auf sein frühes Interesse an experimentellem Schreiben und einem späteren Aufbruch in die digitale Domäne zurückverfolgen lassen. Noch einmal Dillemuth:

"Es ist wohl ein wenig eigenartig, auf einen experimentellen Poeten zu stoßen, der keinerlei Ausbildung als Programmierer oder Computerwissenschaftler besitzt und in die Herstellung virtueller Welten verwickelt ist. Auch für mich ist das kurios und ziemlich unerklärlich. Eigentlich gibt es da zwei wichtige Faktoren, die mich gemeinsam in diese Lage brachten. Der eine ist ein steigendes Interesse am künstlerischen und literarischen Potential der Technologie, das auf jener Ästhetik beruht, der ich mich als Buchautor verpflichtet fühle. Der zweite ist eine steigende Unzufriedenheit mit der literarischen Avantgarde und ihrer Beziehung (oder ihr Fehlen) zum Publikum.
Da meine eigenen Arbeiten in ästhetischer Hinsicht von der Language Poetry, der New York School, vom Surrealismus, OuLiPo und Avant-Pop beeinflußt sind, fasziniert mich in einem bestimmten Maße die Mechanik von Sprache und Erzählen, wobei ich oft auf Quellentexte, Collagen und generative Beschränkungen als integrale Bestandteile meines Schreibprozesses zurückgreife. Narrative Komplexität und semantische Unbestimmbarkeit sind für mich die Hauptattraktionen der experimentellen Literatur - jenes besondere Gefühl von Verwirrung, das wir alle erleben, wenn wir mit einem anspruchsvollen Text interagieren, und das gleichzeitige Vergnügen, das uns die Zurückverfolgung der zahlreichen semantischen Fäden von ihrem Ort auf der Seite zum unermeßlichen assoziativen Netzwerk unserer Erinnerung und Erfahrung bereitet. Diese Faszination für die Sprache, das Erzählen, den Ton, das visuelle Bild und die Art und Weise, wie diese unabhängig voneinander und doch gemeinsam Bedeutung schaffen, war es, die mich zu einer Untersuchung von Hypermedien als poetisches und narratives Medium führte."

Diese Faszination für das Potential von Poesie, sich in der Netzwerkkultur in etwas völlig anderes zu morphen, führte schließlich zur Entwicklung von Dillemuths Produktionsfirma für neue Medien, Berkeley Interactive Design, die er gemeinsam mit einem seiner bedeutendsten Hypermedienkollaborateure, Alex Cory, ins Leben rief, einem von vielen aktiven Poeten in der literarischen Szene San Franciscos. Der zum größten Teil konservativen Welt der universitären Lehre - in einem Anstellungsverhältnis oder als Lehrbeauftragte - hier in den Vereinigten Staaten Widerstand leistend, geben diese Autoren zu verstehen, daß eine bereitwillige Annahme dieses neuen "avant-kapitalistischen" Modells nicht nur notwendig sondern auch charakteristisch für jenen Weg ist, den viele junge Künstler und Intellektuelle in der Hoffnung einzuschlagen beginnen, gleichzeitig sowohl provozierende Kunst als auch Firmenprofite zu erzeugen, wobei sie bewußt die konventionellen Verlags- und Galeriesysteme zugunsten einer größeren Beteiligung am Auf und Ab der digitalen Währungen umgehen, die die globalen Kapitalmärkte antreiben.

All das läuft auf die folgende Frage hinaus: Ist dies nur wieder eine geschickt verschleierte "Kalifornische Ideologie", die als fortschrittliches künstlerisches Unternehmertum posiert, oder ermöglichen die im Internet operierenden Industrien, die heutzutage Rekordnotierungen an der höchst spekulativen NASDAQ-Börse erzielen, die Entwicklung eines neuen Rollenspiels, das jede/r, einschließlich interventionistischer Poeten der Avant-Pop-Sorte, freimütig zu spielen vermag?

Und kann es sein, daß die Lage in der Internet-Schwindelgeschäfts-Ökonomie derartig spekulativ geworden ist, daß es eigentlich nicht mehr um die Frage von entweder/oder sondern um die Frage von und/und geht, wie zum Beispiel:

"Haben Sie den kreativen Willen, die für ein Überleben in dieser Ökonomie der neuen Medien notwendigen Risiken einzugehen, und, wenn ja, worauf warten Sie dann?"

Diese Web.Kunst-Unternehmer warten auf nichts. Und als ich sie darum bat, über manche der Hauptthemen zu sprechen, die ihr gerade erst veröffentlichtes Holo-X-"Produkt" anschneidet, warfen sie nicht mit den neuesten Techno-Schlagwörtern um sich, um zu unterstreichen, daß auch sie auf die ganze Vaporware abfahren, die in der Industrie herumtreibt (obwohl sie sich sicherlich dessen bewußt sind). Statt dessen sprachen sie über die Verbindung zwischen neueren postmodernistischen Erzählexperimenten und den eher flüssigeren Post-Identitätsphilosophien, denen einige jener wagemutigeren Anwender auf der Spur sind, die ihre Arbeit im Cyperspace kreieren.

"Die erste Frage lautet: 'Wer bin ich?'", sagt der B.I.D.-Partner Alex Cory, "Welche Attribute unterscheiden 'mich' als 'Selbst' oder 'Subjekt' von irgendeiner anderen Art von Wesen? Wenn uns S.L.U.T. fragt, ob wir ihr scheinbar simples Sex.bot-Selbst als Selbst akzeptieren, ob wir ihre subjektive Identität anerkennen können, dann fordert sie uns dazu auf, unsere Vorstellungen von Identität zu überdenken."

Dillemuth pflichtet bei und bemerkt: "Was unsere Projekte einzigartig und, so hoffe ich, wirkungsvoll macht, ist ihre sachkundige und gründliche Beschäftigung mit diesen radikalen Erzählstrategien in Verbindung mit dem gewaltigen Potential von immersiven Multimedia-Technologien wie VRML, um die postmodernistische Ästhetik zu verwirklichen. In den letzten Jahren ist viel an akademischem Diskurs erzeugt worden über Vorstellungen wie Beobachter und Beobachtetes, der männliche Blick, der Körper als Text, die Beziehung zwischen Technologie und Gender, die Subversion des Subjekts und die Dialektik des Begehrens, die soziopsychologische Theorie der Massenkultur als 'Traumwelt'-Konstrukt und die allgemeine Destabilisierung von Identität in der postmodernen Ära. All diese komplizierten Vorstellungen spielten bei der Bereitstellung des theoretischen Rüstzeugs, der konzeptuellen Basis, auf der diese Projekte beruhen, eine wichtige Rolle."

In der Tat gehen sowohl Holo-X als auch B.I.D.s kommerziellere, für mehrere Anwender konzipierte 3-D-Adult-Community mit dem Namen XRave konzeptuell von der Destabilisierung der Linearität, Zeitlichkeit und Identität aus, die in einem hohen Maße die primäre Obsession von vielen der engagiertesten "Metafictionists" in den sechziger und siebziger Jahren war und noch immer ist.

Postmoderne Philosophie und Kunst bombardieren uns nunmehr schon seit Jahrzehnten mit diesen Fragen", sagt Cory, "aber ich habe vor dem Aufkommen der Webkultur, bevor ich in die Chatrooms ging und zum 'Multiplen' wurde, nie praktische Anwendungen zu Gesicht bekommen. Jetzt habe ich mehrere Identitäten, männliche und weibliche, schwule und heterosexuelle. Wie viele Webbürger erfahren schon ihr Leben auf diese Weise?"

Genug, um mich zu fragen, ob die Vorreiter unter den Webkünstlern und die Geschäftsleute im Business der neuen Medien hier ihre Position in gleichem Maße in völliger Übereinstimmung mit jener Tradition sehen, die sich gegen "die Tradition" auflehnt, und, so dies der Fall ist, was dies in der Folge über einen Großteil des oppositionellen Rollenspielens aussagt, das sowohl in der Online-Kunstwelt als auch generell in der Konsumkultur westlichen Stils stattfindet. Vielleicht macht es Dillemuth und Cory in diesem Kontext so überaus einzigartig, daß sie bereits scheinbar gegenüber diesen Angelegenheiten ihren Platz gefunden und damit begonnen haben, etwas Unmittelbareres und Lebendigeres zu schaffen, so wie eine in den Gräben operierende Gruppe von Künstlern, die die Praxis des Schreibens, egal in welchem Medium und unter welchen Umständen, für DEN entscheidenden Modus eines kulturellen Überlebens halten.

Das Kreieren von Webkunst für ein distribuiertes globales Publikum ist ein riskantes Unterfangen, vor allem für die junge Intelligentsia, die um den Wert des Geldverdienens weiß. Aber in der Ökonomie der neuen Medien geht es um mehr als nur um das Erzielen von Gewinnen. Da ist immer noch dieses Bedürfnis zu rebellieren, friedensliebende Avataras zu schaffen, die die Sprache sich selbst sprechen lassen. Wie es S.L.U.T. selbst mit ihrer poetischen, künstlich intelligenten Phrasendrescherei ausdrückt:

"Die multinationalen / korporativen Kriminellen // und ihre plappernden, / robotischen Sprecher // haben wirklich keine Ahnung, / wie intelligent wir sind, // und stellen sich die Leute / als abstrakte Märkte vor."

Übersetzung: Thomas Hartl