Amri-Ausschuss: "Im Zweifel für den Ausschluss der Öffentlichkeit"

Abgeordnete in Berlin geben den Anmaßungen der Sicherheitsbehörden immer mehr nach

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So vertreibt man Publikum. Die Sitzungen des Berliner Untersuchungsausschusses zum Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt verlagern sich immer mehr vom öffentlichen Bereich in den nicht-öffentlichen. Die Behörden, Organe der Exekutive, versuchen einem Organ der Legislative ihre Regeln zu diktieren.

Akten werden schleppend geliefert, sind unvollständig oder geschwärzt. Zeugen bekommen eingeschränkte Aussagegenehmigungen oder verweigern die Antworten in den öffentlichen Sitzungen. Sand im Getriebe eines parlamentarischen Gremiums. Das Verhalten zielt letztlich auf die Öffentlichkeit als Kontrollinstanz.

Die Abgeordneten geben den Interessen und Forderungen der Behörden immer öfter nach, vor allem wenn es um Befragungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit geht. Das widerspricht nicht nur dem demokratischen Prinzip der Res Publica, der öffentlichen Angelegenheiten. Auch das Parlament selbst beraubt sich damit seiner wichtigsten Waffe.

Untersuchungsausschüsse mit ihren weitreichenden Kompetenzen, auch exekutiven, sogenannte "scharfe Schwerter" des Parlamentes, werden stumpf und wirkungslos, wenn die konkreten Auseinandersetzungen nicht mehr sichtbar sind. Wenn niemand zuhören und berichten kann, ist es, als habe der U-Ausschuss gar nicht stattgefunden.

Die jüngste Sitzung des Amri-Ausschusses im Abgeordnetenhaus von Berlin war dafür ein weiteres Beispiel. Es lässt für die weiteren Sitzungen nichts Gutes erwarten.

Geladen waren drei Zeugen, die im Landeskriminalamt (LKA) Berlin, Abteilung Staatsschutz, mit dem Gesamtfall zu tun gehabt hatten. Zwölf Tote und Dutzende Verletzte hat der Anschlag vom 19. Dezember 2016 gekostet, als ein LKW auf den Breitscheidplatz raste.

Der erste Zeuge, bezeichnet als "Zeuge W -1", weil er der erste ist, dessen Nachname mit "W" beginnt, arbeitet im LKA in einer Auswertungs-Abteilung, bei der Informationen über möglicherweise gefährliche Ausländer eingehen und weiterverteilt werden, auch an die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder. Die ersten Informationen zu Anis Amri, dem späteren mutmaßlichen Attentäter, seien Ende 2015 eingegangen. Um welche Informationen es sich gehandelt hat, erfuhr man nicht.

Der Zeuge machte gleich zu Beginn deutlich, dass das meiste, was er dem Ausschuss zu sagen habe, für die "Nicht-Öffentlichkeit" bestimmt sei. Er ist seit über 30 Jahren bei der Polizei und seit über zehn Jahren beim Staatschutz im Bereich politisch-motivierter Kriminalität von Ausländern tätig. In der öffentlichen Vernehmung gab er im Wesentlichen allgemein gehaltene Auskünfte.

Es folgte eine nicht-öffentliche Befragung, die dann länger dauerte, als die öffentliche. Journalisten und Zuhörer, darunter ein Opfer des Anschlages, mussten den Saal verlassen.

Erst in nicht-öffentlicher Sitzung wollte der Staatsschützer "Herr W." dann die Fragen der Abgeordneten beantworten, beispielsweise zu den einzelnen polizeilichen Datenbanken und Informationssystemen, zur Beobachtung des islamistischen Spektrums samt verschiedener Moscheen, zu Telefonüberwachungen, zu Hinweisen, die in seiner Abteilung konkret eingegangen sind, zu Datensätzen über Amri und dessen Umfeld, zu Informationen über Amri aus dem Ermittlungsverfahren "Eisbär", das das BKA gegen mehrere Tunesier führte sowie zu einer oder mehreren V-Personen, die im Umfeld Amris geführt wurden.

Die Antworten des Staatsschützers sind nicht bekannt. Doch selbst manche Fragen der Abgeordneten blieben verschwiegen, weil sie in vorauseilendem Gehorsam gar nicht formuliert wurden. Das sollte erst in der eingestuften Sitzung geschehen.

Für die wenig verbliebenen Journalisten und Zuhörer war dann umso überraschender, dass mehrere Obleute hinterher in der Presserunde erklärten, es habe sich um eine "ergiebige und vielsagende Zeugenaussage" gehandelt, man habe "viel gelernt", der Zeuge habe "alle Fragen zufriedenstellend beantwortet".

Öffentlich "Flop", nicht-öffentlich "top" also?

Journalistenfrage: "Die nicht-öffentliche Sitzung hat länger gedauert als die öffentliche. Würden Sie denn sagen, dass die nicht-öffentliche Sitzung ergiebiger war, und was würde das denn bedeuten für das Prinzip Öffentlichkeit der Ausschusssitzungen? Ist das dann ein Auslaufmodell?"

Es ist immer schwierig, über nicht-öffentliche Sitzungen öffentlich zu sprechen. Aber es hätte nicht so lange gedauert, wenn es nichts zu fragen und zu besprechen gegeben hätte, soweit kann man es schon sagen. Wir sind ja in einem sensiblen Bereich, insofern haben Geheimhaltungsvorschriften ihren Sinn und auch der Ausschluss der Öffentlichkeit.

Wir wollen bei allem Aufklärungsinteresse natürlich nicht alles offenlegen, was die Tätigkeit der Polizei angeht. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen. Einerseits wollen wir natürlich die Öffentlichkeit im Rahmen unserer Aufklärung informieren, andererseits wollen wir natürlich aber auch den Sicherheitsinteressen Rechnung tragen. Und insofern entscheiden wir im Moment im Zweifel eher für die Nicht-Öffentlichkeit. Und ich denke auch, dass wir da alle gemeinsam dieser Auffassung sind, dass wir das auch so beibehalten.

Stephan Lenz, CDU, Ausschussvorsitzender

Benedikt Lux, Bündnis 90/Die Grünen antwortete darauf:

Ich teile diese Auffassung so nicht. Auch mit Blick auf viele andere nicht-öffentliche Sitzungen gab es hier eine Reihe von Informationen, die unter keinerlei Gesichtspunkten zwingend nicht-öffentlich gewesen wären. Deswegen ist aus Transparenz- und Öffentlichkeitsgesichtspunkten das Verfahren, das wir hier haben, kein optimales. Nur, wenn ein Zeuge sagt, er würde die Frage gerne im nicht-öffentlichen Teil beantworten, dann machen wir auch einen nicht-öffentlichen Teil. Ich glaube auch, dass das ein Erkenntnisinteresse ist, das nicht nur wir Abgeordnete haben, da möchte ich sogar die Auffassung des Ausschussvorsitzenden noch stärker unterstützen, sondern das auch die Öffentlichkeit haben sollte. Und deswegen nehmen wir für uns in Anspruch, auch das öffentliche Interesse an der Aufklärung im nicht-öffentlichen Teil zu verfolgen, auch wenn das erst einmal widersprüchlich ist.

Benedikt Lux, Bündnis 90/Die Grünen

Die Reaktion von Frank Zimmermann, SPD:

Es ist wichtig festzustellen, dass wir einen verfassungsgemäßen Auftrag haben, für das Parlament alle relevanten Sachverhalte aufzuhellen, so gut es eben geht. Und wenn wir dadurch daran gehindert würden, dass aus nicht-öffentlichen oder geheimen oder "Nur für den Dienstgebrauch" gestempelten Unterlagen nicht berichtet werden kann, weil die Sitzung öffentlich ist, dann könnten wir unseren Auftrag nicht erfüllen. Und deswegen brauchen wir den nicht-öffentlichen Teil.

Frank Zimmermann, SPD

Robbin Juhnke von der CDU:

Ich wollte nur noch ergänzen, dass es ja nicht in unserer Verantwortung liegt, zu bestimmen, wo ist der nicht-öffentliche Teil, wo ist der öffentliche Teil, sondern das erfolgt in der Regel auf Wunsch des Anzuhörenden.

Robbin Juhnke, CDU

Und Hakan Tas von der Linken:

Selbstverständlich brauchen wir einen nicht-öffentlichen Teil, aber viele der Fragen, die heute im nicht-öffentlichen Teil gestellt worden sind, konnten durchaus auch im öffentlichen Teil beantwortet werden. Wir müssen gemeinsam darauf achten, dass die Öffentlichkeit, die Presse, selbstverständlich ein Recht hat, zumindest bei Fragen mit dabei sein zu können, die auch öffentlich beantwortet werden können.

Hakan Tas, Die Linke

Nach diesen Stellungnahmen meldete sich Andreas Schwartz zu Wort, der bei dem Anschlag verletzt worden war. Er verfolgt zusammen mit anderen Betroffenen die Sitzungen der Untersuchungsausschüsse im Bundestag und im Abgeordnetenhaus von Berlin. Wörtlich sagte er:

Wie Sie wissen, bin ich ein Opfer vom Breitscheidplatz und einer der Sprecher der Opfer und Angehörigen. Wir möchten noch einmal den Untersuchungsausschuss auffordern zu einer lückenlosen Aufklärung von allen Seiten her. Wir möchten wissen, warum dieser schreckliche Anschlag passiert ist, wer dafür verantwortlich ist, wer da versagt hat, ob jemand versagt hat. Uns ist aufgefallen, dass die Akten, die die Untersuchungsausschüsse bekommen, teilweise geschwärzt sind. Wie wollen Sie sich auf Befragungen vorbereiten, wenn Sie nicht die volle Akte haben?

Teilweise liegen noch nicht einmal Akten vor. Wir sind nur noch wenige der Angehörigen, die die Kraft aufbringen, hierher zu kommen. Unsere Bitte an Sie als Abgeordnete ist, dafür zu sorgen, dass Sie die Akten ungeschwärzt bekommen und notfalls der Bundesregierung und dem Senat auf die Füße zu treten und zu sagen: "So geht das nicht." Ich sehe ja, wie schwer Sie es haben, Antworten zu bekommen. Aber es muss doch ein Weg gefunden werden, dass die Sache lückenlos aufgeklärt wird.

Andreas Schwartz, Anschlagopfer

Dem folgte eine weitere Erklärung des Ausschussvorsitzenden Lenz:

Ich glaube, ich kann im Namen aller Kollegen sagen, dass wir diesen Auftrag sehr sehr ernst nehmen und dass wir alle, egal welcher Fraktion wir zugehörig sind, eine lückenlose Aufklärung, ohne Ansehen der Person anstreben und im Rahmen unserer Möglichkeiten versuchen zu erreichen. Natürlich führt das auch zu den Konflikten, die Sie angesprochen haben: geschwärzte Akten, wir haben auch noch nicht alle Akten, wir sind da aber dabei. Das ist ein schwieriger Prozess, und wir werden, wenn es nötig ist, sicherlich in Konflikte gehen. Das ist unser Auftrag.

Ob es am Ende Schuldige geben wird, das wissen wir nicht. Wir müssen aber aufklären und das ist auch für Sie wichtig, damit Sie das besser verarbeiten können. Sie können darauf vertrauen, dass uns das sehr wichtig ist und dass wir da auch nicht nachlassen werden. Aber es ist trotzdem wichtig, dass Sie präsent sind und uns auch immer wieder daran erinnern. Es ist eine wichtige Rolle, die Sie spielen. Ich weiß, dass Sie das Kraft kostet. Ich denke, im Namen aller kann ich Ihnen danken, dass Sie das machen. Das ist in der Form auch für uns eine Unterstützung.

Stephan Lenz, CDU, Ausschussvorsitzender

Worte, wie man sie in der Zeit nach dem Anschlag gehört hat. Dass man sie mehr als eineinhalb Jahre später immer noch genauso vernimmt, zeigt nur, wie wenig die Aufklärung vorangekommen ist.

Das ist das Beschämende und das Dramatische zugleich: Ein Verhinderungsapparat, der Opfer und Öffentlichkeit in der Stunde Null nach dem Anschlag gefangen hält. Und ein Beschwichtigungsapparat, der die wachsende Lücke zwischen Anspruch und Realität immer weniger zu kaschieren weiß. Der Fall Amri entwickelt sich zu einer Art "NSU 2.0".

Hat das Geheimhaltungsinteresse der Sicherheitsbehörden die Abgeordneten einer Lösung näher gebracht? Oder ist das doch nur Ausdruck einer Dominanz dieser Behörden? Was in den nicht-öffentlichen Sitzungen geschieht, welche Fragen beantwortet werden oder eben auch dort nicht, das erfährt man in der Regel nie. Der Ausschluss der Öffentlichkeit schützt vor allem die Vertuscher.

Das mysteriöse Verschwinden von Anis Amri

Zurück zum Aufklärungsalltag: Im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses ging es nach der dokumentierten Auseinandersetzung weiter wie gehabt. Auch die folgende Zeugin "M - 2" arbeitet beim LKA-Staatsschutz. Sie referierte, was in der "elektronischen Ablage" des LKA zu Anis Amri gespeichert war.

Vieles davon ist seit langem aus der offiziellen Chronologie zum Behördenhandeln im Fall Amri oder aus dem öffentlichen Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages bekannt. Bei anderen Informationen erfuhr man lediglich Datum, Absender- und Empfängerbehörde, aber wenig Inhalte. Und auch bei Zeugin "Frau M." schloss sich eine nicht-öffentliche Sitzung an.

Bemerkenswert ist das Ende der Datenerfassung zu Amri Ende Oktober 2016. Der letzte Eintrag in der Datei des LKA Berlin soll am 25. Oktober 2016 erfolgt sein. Am 24. Oktober 2016 hatte das Bundeskriminalamt (BKA) aus Tunesien die offizielle Mitteilung über die Identifizierung Amris als tunesischer Staatsbürger erhalten und unter anderem an das LKA Berlin weitergeleitet.

Am 26. Oktober 2016 übermittelte der marokkanische Nachrichtendienst den deutschen Sicherheitsbehörden die Information, Amri wolle "ein Projekt ausführen". Er stehe mit Leuten des IS (Islamischer Staat) in Kontakt. Am 2. November 2016 soll er letztmals im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) auf der Tagesordnung gestanden haben.

Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) soll sich Anfang November 2016 letztmalig mit dem Beobachteten befasst haben, wie eine Auswerterin, die die Amri-Akte im BfV führte, kürzlich vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages aussagte.

Schlagartig soll also Ende Oktober, Anfang November 2016 der Kontakt zahlreicher Sicherheitsbehörden zu einem Mann abgebrochen sein, der als "Gefährder" eingestuft war und als "Nachrichtenmittler" genutzt wurde, um über Verdächtige Informationen zu erhalten? Trifft das überhaupt zu? Was ist in den internen Dateien des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Berlin, des LKA von Nordrhein-Westfalen, des BKA, aber auch des BND (Bundesnachrichtendienst) dazu erfasst?

Dieses plötzliche Verschwinden einer Person, die dann zum Attentäter geworden sein soll, ist ähnlich mysteriös, wie das Stoppen jeglicher Ermittlungstätigkeit in Berlin, ausgerechnet dann, im August 2016, als Amri als Mit- oder gar Haupttäter einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung (Messerstecherei) identifiziert worden war.

In der elektronischen Ablage des LKA Berlin, die die Staatsschützerin "Frau M." im Untersuchungsausschuss vortrug, tauchte weder die Messerstecherei vom Juli 2016 noch die Identifizierung Amris als Tatbeteiligter und die darauf folgende Lagebesprechung des LKA mit der Generalstaatsanwaltschaft auf. Zumindest in der "öffentlichen" Version nicht.

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