Amri-Freund Ben Ammar war Mitglied einer Terrororganisation

Seite 2: Warum war Amri nicht abgeschoben worden?

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Rätsel der Amri-Geschichte bleiben nicht nur seine unterlassene Verhaftung durch die Generalstaatsanwaltschaft von Berlin, sondern auch seine ausgebliebene Abschiebung. Dazu musste Tunesien offiziell bestätigen, dass Amri tunesischer Staatsbürger ist. Das aber war im Laufe des Jahres 2016 geschehen.

Bereits im Februar 2016 war der sicherheitspolitische Abschiebevorgang eröffnet worden. Ende April 2016 überbrachte eine deutsche Delegation den tunesischen Behörden umfangreiches Identifizierungsmaterial (Fingerabdrücke, Handflächenabrücke, Lichtbilder). Am 21. Oktober 2016 lag die Bestätigung seitens der tunesischen Behörden vor, die der BKA-Verbindungsbeamte in Tunesien am 23. Oktober 2016 nach Deutschland übermittelte, wie er gegenüber dem Ausschuss persönlich bestätigte.

Die Zentrale Ausländerbehörde in Köln soll noch am 20. Oktober 2016 vom tunesischen Generalkonsulat eine abschlägige Auskunft erhalten haben. Offiziell soll Tunesien erst am 21. Dezember 2016 die Identität Amris als tunesischer Staatsbürger bestätigt haben, zwei Tage nach dem Anschlag.

Die Aus- und mögliche Rückreise der Gefährders war aber bereits Monate zuvor, Ende Juli 2016, an den deutschen Behörden selbst gescheitert. Amris Asylantrag war im Mai 2016 abgelehnt worden, er war ausreisepflichtig. Ende Juli 2016 hatte er sich tatsächlich auf den Weg von Berlin Richtung Süden gemacht, wurde an der Grenze zur Schweiz aber aus einem Fernbus geholt und an der Ausreise gehindert. Die Gründe liegen nach wie vor im Dunkeln. Keine der beteiligten Sicherheitsbehörden hat dafür bisher die Verantwortung übernommen.

Amri wurde anschließend aber nicht etwa in Haft genommen, was nach seiner Beteiligung an einer Messerstecherei zwingend geboten war, sondern auf freiem Fuß gelassen. Auch die Gründe dafür sind bisher nicht beantwortet.

Amri-Untersuchungsausschuss von Nordrhein-Westfalen

In den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen greift bei Zeugen immer mehr eine Kommunikationsstrategie um sich, mit der Behördenkenntnisse und Behördenwissen verwässert und atomisiert werden. Das jüngste Beispiel war im Amri-Ausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen zu erleben (20. Mai). Kriminalhauptkommissar Uwe J. ist seit 27 Jahren beim Bundeskriminalamt (BKA) tätig. Zur Zeit ist er BKA-Verbindungsbeamter in China und als solcher Resident in der deutschen Botschaft in Peking.

Von 2014 bis 2016 arbeitete J. in der Abteilung Staatsschutz, saß im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) und leitete die spezielle PIAS-Runde im GTAZ. PIAS steht für "Polizeiliche Informations- und Analysestelle". In ihr tauschen sich die Polizeibehörden von Bund und Ländern aus. Neben der PIAS existiert analog die NIAS, die "Nachrichtendienstliche Informations- und Analysestelle", in der sich die Nachrichtendienste von Bund und Ländern austauschen. Zwei Parallelstrukturen innerhalb des GTAZ und ein Sicherheitsbeamter, von dem man erwarten könnte, dass er sich in diesen Strukturen professionell bewegt und einem Parlament entsprechend verantwortliche Auskünfte gibt. Das Gegenteil war der Fall.

"Mir nicht bekannt"

In einem PIAS-Protokoll vom 23. Februar 2016, das von Uwe J. unterzeichnet wurde, steht, dass Anis Amri am 6. Juli 2015 mutmaßlich mit Bilel Ben Ammar und Habib Selim nach Deutschland eingereist sein soll. Außerdem liest man, dass der als Gefährder eingestufte Amri seine "Anschlagspläne ausdauernd und langfristig weiter betreibe". Was er dazu sagen könne, wollten die Abgeordneten von dem BKA-Beamten wissen. Seine Antwort: Persönlich habe er keine Erkenntnisse, die Informationen seien vom NRW-Vertreter in der Runde gekommen, er habe nur eine reine Moderatorenrolle inne gehabt und aufgeschrieben, was vorgetragen wurde. Auch die Einschätzung von Amris Anschlagsplänen sei nicht seine, sondern die des LKA Düsseldorf gewesen.

Die Frage der Einreise birgt einen der vielen Widersprüche der Geschichte, weil Ben Ammar schon 2014 nach Deutschland gekommen sein soll, und weil sich in der ersten Registrierungsstelle Amris in Freiburg niemand an einen Begleiter erinnern konnte. Allerdings wird in einem Behördenschreiben des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von Ende Januar 2016 explizit erwähnt, dass Amri zusammen mit Ben Ammar und Selim in Deutschland ankam. Dieses sogenannte BfV-Behördenzeugnis wiederum will dem BKA-Beamten J. gänzlich neu gewesen sein ("Sagt mir nichts"). Auch zur Nachfrage, ob Informationen des BKA in dieses BfV-Dokument Eingang gefunden haben, eine negative Auskunft: "Mir nicht bekannt."

Ob denn der NRW-Vertreter in der PIAS-Runde seine Informationen konkretisiert habe - Antwort auch hier: "Nicht erinnerlich". Ob er Erkenntnisse habe, dass Ben Ammar und Selim einem islamistischen Netzwerk in NRW angehört haben - Antwort: "Gar keine Erkenntnisse." Was er von dem Gefahrenabwehrvorgang "Lacrima" und dem Ermittlungsverfahren "Eisbär" wisse, die das BKA betrieb - Antwort: "Bedaure, aber darüber weiß ich nichts."

Ob er sich an die Erörterung der Personen Amri, Ben Ammar, Selim im GTAZ erinnere - Antwort: "Mir ist nicht erinnerlich, dass ich an einer Infoboard-Sitzung zu den dreien teilnahm. Sie kann es aber gegeben haben." Ob er etwas zu der Reisegruppe um die Person des Tunesiers Sabou Saidani weiß, die nach Deutschland kam - Antwort: "Tut mir leid." Ob er etwas zur Spiegelung des Handys von Amri durch das BKA nach dessen kurzzeitiger Festnahme im Februar 2016 sagen kann - Antwort: "Ist mir unbekannt."

Hier stellt sich nicht etwa ein Azubi den Fragen eines Parlamentes, sondern ein erfahrener Beamter, der nach dem Anschlag Mitglied der Identifizierungskommission des BKA war und bei der Identifizierung der Opfer mithalf.

Jede einzelne Negativantwort wäre für sich allein durchaus vorstellbar, schließlich kann sich niemand lückenlos an alles erinnern. Aber alle Negativantworten zusammengenommen ergeben ein System - das organisierter, programmatischer Verantwortungslosigkeit.