Amri - Vom "Nachrichtenmittler" zum Attentäter?

Seite 3: Ein "Projekt ausführen"

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Feststellen konnte der Sonderermittler jedoch, dass vom marokkanischen Nachrichtendienst Hinweise geliefert worden waren. Allerdings nicht, wie üblich, an einen deutschen Nachrichtendienst, sondern an den Verbindungsbeamten des BKA im marokkanischen Rabat. Das BKA habe die Informationen dann "nur unvollständig", in Zusammenfassungen, an die involvierten Behörden in Deutschland weitergegeben. Das LKA in Berlin sei gar nicht direkt informiert worden, sondern vom LKA in NRW mit diesen "rudimentären Erkenntnissen" versorgt worden.

In diesen Marokko-Papieren tauche die Angabe auf, Amri wolle ein "Projekt ausführen". Im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden sei dazu beraten und beschlossen worden, dass das BfV die Marokko-Papiere einer Bewertung unterziehen solle. Das Ergebnis kenne er nicht, denn trotz mehrfacher Nachfrage habe er keine Auskunft bekommen, so Jost wiederholt.

Bis heute ist unklar, was es mit diesem "Projekt" auf sich hat und ob damit ein Auftrag für Amri verbunden war.

Die betreffende GTAZ-Sitzung fand Anfang November 2016 statt. In dieser zentralen Sicherheitsinstitution, wo sich Verfassungsschutzämter, Landeskriminalämter, BKA und Bundesanwaltschaft austauschen, war Anis Amri gut ein Dutzend Mal Thema, seit Anfang Februar 2016 neun Monate lang. Kaum jemand sei dort so intensiv besprochen worden, so Josts Einschätzung.

Was wussten die politisch Verantwortlichen vom Handeln ihrer Sicherheitsorgane? In Berlin fand kurz vor dem Anschlag ein Regierungswechsel statt. Vor der heutigen rot-rot-grünen Koalition stellte die CDU den Innensenator. Dessen Staatssekretär hieß Bernd Krömer. Seine Antworten auf die Frage nach dem Wissen der politischen Ebene lässt sich in einem Wort zusammenfassen: "Nichts."

Den Namen Anis Amri will der Staatssekretär zum ersten Mal in den Tagen nach dem Anschlag gehört haben. In seiner Tätigkeit sei er nicht mit dem Fall befasst gewesen. Auch von dessen Behandlung im GTAZ habe er nicht erfahren. Von der Polizeiführung sei er nicht über den Fall informiert worden. Von irgendwelchen Protokollen, in denen der Fall behandelt wurde, habe er nicht erfahren.

Schutzbehauptungen oder organisierte Verantwortungslosigkeit? Den Widerspruch formulierte der Sicherheitspolitiker mit eigenen Worten: "Wie konnte so ein Mensch, obwohl er Beobachtungsobjekt war, unter dem Radar so einen Anschlag begehen?" Das müsse geklärt werden. Zugleich gab Krömer aber die Antwort: Für ihn seien "eher individuelle Fehler" gemacht worden, verteilt auf mehrere Bundesländer.

Der Verdacht bleibt: Sicherheitsbehörden erkennen die Gefährlichkeit einer Person und lassen sie dennoch laufen. Weil man sie als "Nachrichtenmittler" abschöpfte? Doch warum wurde die Quelle dann zum Attentäter?