Amri - Vom "Nachrichtenmittler" zum Attentäter?

Seite 2: 2016

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Spätestens im Januar 2016 stand Amris tatsächliche Identität für die Behörden fest, nach Überzeugung von Jost auch seine tunesische Staatsangehörigkeit. Am 17. Februar 2016 stufte ihn das LKA in Düsseldorf als Gefährder ein und übermittelte die Information nach Berlin, wohin sich Amri auf den Weg gemacht hatte.

Mit der Ankunft des Mannes in einem Flixbus am 18. Februar begann eine ganze Reihe von Merkwürdigkeiten in Berlin. Obwohl die Düsseldorfer ihre Kollegen in Berlin gebeten hatten, Amri nur zu beobachten, aber nicht anzusprechen, taten die genau dies. Er wurde durchsucht und ein Handy beschlagnahmt. Wer das entschieden hat, konnte Sonderermittler Jost nicht in Erfahrung bringen. Ebenso, ob das Handy ausgewertet wurde.

Der Polizeipräsident von Berlin habe auf seine entsprechende Frage widersprüchlich und ausweichend geantwortet. Man will die Tausenden von Chats einer Islamwissenschaftlerin zum Auswerten gegeben, zugleich aber kein zuständiges Gericht gefunden haben, das das genehmigte. Jost zweifelt, dass die Chats tatsächlich ausgewertet wurden, denn "sonst müsste es einen Bericht darüber geben".

Nach der Kontrolle Amris äußerte das NRW-LKA Kritik am Berlin-LKA, dadurch sei "der weitere Einsatz der VP gefährdet" worden. Wer war mit "VP" gemeint - die VP 01 oder etwa Amri? Das ist bis heute nicht klar. Wurde Amri von der VP 01 überhaupt nach Berlin begleitet oder reiste er alleine?

An jenem 18. Februar 2016 begab sich Amri dann zielstrebig zur Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit. Und damit stehen wir vor einem der schwarzen Löcher der Geschichte. Alles, was mit dieser Moschee zusammenhängt, ist als "Vertrauliche Verschlusssache" eingestuft. Im Untersuchungsausschuss (UA) darf das nicht öffentlich behandelt werden.

Die Moschee wurde nach dem Anschlag geschlossen, der Verein verboten. Amri hatte am 19. Dezember 2016 eine halbe Stunde vor dem Anschlag noch die Moschee besucht. Nach seinem Auftauchen dort am 18. Februar 2016 installierte die Polizei am 19. Februar eine Kamera und überwachte das Haus.

Mehrere Fragen verschiedener Abgeordneter zur Fussilet-Moschee blockte der UA-Vorsitzende Burkhard Dregger (CDU) ab. Deutlich wurde immerhin, dass der Ort unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand und entsprechende Akten vorliegen müssen.

Allerdings ergab sich noch eine weitere Kuriosität: Jost berichtete, dass der Verfassungsschutz eine Observation Amris im Zusammenhang mit einem sogenannten "Weihnachtsseminar" in der Moschee durchführen wollte. Sie kam nicht zustande, weil das Seminar kurzfristig abgesagt wurde. Der Begriff "Weihnachtsseminar" ließ auch die Runde aufhorchen, da der Anschlag ja kurz vor Weihnachten und auf einen Weihnachtsmarkt verübt wurde.

Aus den Akten wissen die Abgeordneten, dass ein Seminar in der Moschee im Herbst 2016 und nicht erst vor Weihnachten stattfinden sollte. Jost bestätigte das, blieb aber dabei: Weil ihm der Begriff "Weihnachtsseminar" unpassend vorkam, habe er ihn sich gemerkt.

Frühjahr bis Herbst

Weiter in der Chronologie der Widersprüche und Seltsamkeiten: Anfang April 2016 genehmigte das Amtsgericht Tiergarten die Observation Amris sowie die Überwachung seines Telefons bis zum 21. September 2016. Die Observation wurde bereits am 15. Juni 2016 wieder eingestellt. Warum, sei ihm bis heute nicht ganz klar, so Jost. Auch, wer das entschieden hat, habe er mehrfach erfolglos versucht herauszufinden. Er könne nur sagen, dass es allein eine Entscheidung des LKA war. Am 21. September 2016 endete dann auch die Telefonüberwachung Amris.

Gleichzeitig verhielt sich das Amt jedoch äußerst ungewöhnlich. Denn obwohl es die Observation eingestellt hatte, erwirkte es zwei Mal erneut Gerichtsbeschlüsse für weitere Observationen und zwar bis zum 21. Oktober 2016. Trotzdem ließen die Fahnder die Observationen ruhen und nahmen sie auch nicht wieder auf. Jost: "Da fehlen mir die Worte."

Die Observation endete kurz nachdem Amris Asylantrag abgelehnt worden war. Nun bekam er keine staatliche Unterstützung mehr, als Folge nahm sein Drogenhandel, mit dem er sich finanzierte, zu. Die Polizei registrierte das bei der Telefonüberwachung. Sie konstatierte "gewerbs- und bandenmäßigen Rauschgifthandel". Eine Bewertung, die mehrere LKA-Beamte im Januar 2017, nach dem Anschlag, in den Akten in "Klein- und Kleinsthandel" umfälschten und auf das Datum vom 1. November 2016 zurückdatierten.

Im Mai 2017 war Jost auf diese Manipulation gestoßen, die heute Gegenstand eines Strafverfahrens ist und deshalb im Ausschuss ebenfalls nicht öffentlich behandelt werden darf. In Josts schriftlichem Bericht ist sie geschwärzt.

Bei der Telefonüberwachung erfuhren die Ermittler von einer Kundin, die zweimal hintereinander bei Amri Kokain bestellte. Nach Einschätzung Josts hätte man hier Amri auf frischer Tat ertappen und verhaften können.

Ein Gefährder soll ausreisen, will ausreisen, wird daran gehindert, kommt in Abschiebehaft und wird dann doch nicht abgeschoben

Ähnlich sieht er es im Zusammenhang mit Amris Ausreiseversuch Ende Juli 2016 - die nächste mysteriöse Polizeigeschichte. Amri war als Asylbewerber abgelehnt und ausreisepflichtig. Am 29. Juli 2016 wollte er in einem Flixbus Deutschland tatsächlich verlassen. Doch er wurde daran gehindert.

Da Amri noch überwacht wurde, verfolgten die Fahnder in Berlin die Aktion in Konstanz "live am Telefon" (Jost). Amri wurde aus dem Bus geholt, man fand zwei gefälschte italienische Ausweise und nahm ihn in Haft. Allerdings nur in Abschiebehaft, aus der er nach zwei Tagen wieder entlassen wurde und nach Berlin zurückkehrte.

Was für ein widersprüchlicher Vorgang: Ein Gefährder soll ausreisen, will ausreisen, wird daran gehindert, kommt in Abschiebehaft und wird dann doch nicht abgeschoben. Regierte hier lediglich das Chaos oder gab es andere Gründe?

Für Jost jedenfalls hätte Amri in Baden-Württemberg in (Untersuchungs-)Haft genommen werden müssen, und Vertreter der Landeskriminalämter von NRW und Berlin hätten zum Bodensee fahren müssen, um ihn zu vernehmen.

Nächste Frage: Was wussten die Geheimdienste? Antwort: Man weiß es nicht. Sonderermittler Bruno Jost war lediglich aufgefallen, dass die Nachrichtendienste eine "bemerkenswert bedeutungslose Rolle" gespielt haben sollen. Außer den MAD (Militärischen Abschirmdienst) habe er alle angefragt, BND (Bundesnachrichtendienst), BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz), Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Berlin. Alle hätten erklärt, keine Erkenntnisse zu Anis Amri gehabt zu haben. Jost wörtlich: "Das mag man..., ja, man muss es wohl so zur Kenntnis nehmen."