An Medikamenten sterben noch immer zu viele Menschen

Die Zahl der Opfer von Arzneimitteln ist hoch. Durch eine automatische Analyse von Verordnungen, Diagnosen und Laborwerten und einer Gesundheitskarte lässt sich dieses Problem zwar nicht beseitigen, sein Ausmaß aber doch verringern.

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Wer immer sich in Deutschland mit der Frage auseinandersetzen möchte, wie es denn mit der Sicherheit der Arzneimitteltherapie und der Häufigkeit von arzneimittelbedingten Komplikationen bestellt ist, der muss zwangsläufig ins Ausland blicken. Es gibt bis heute keine einzige deutsche Studie, die untersucht hätte, wie viele Patienten, die in Krankenhäuser aufgenommen werden, deswegen aufgenommen werden, weil man sie vorher fehlerhaft therapierte. Es gibt keine einzige Studie in für statistische Auswertungen ausreichender Größe, die sich der Frage gewidmet hätte, wie häufig beispielsweise fehlerhafte Dosierungen oder auch Arzneimittelinteraktionen sind.

Wer sich dennoch hierzulande für diese Problematik interessiert, muss extrapolieren, wie es etwa der Hamburger Pharmakologe Jürgen Frölich getan hat, der vor einem Jahr die Zahl der Medikamentenopfer in Deutschland auf jährlich 58.000 bezifferte und dabei Daten aus Norwegen zugrunde legte. Er bekam von seinen Standeskollegen wegen angeblicher Unseriosität prompt einen Schuss vor den Bug. 20.000, so hieß es beschwichtigend, seien realistischer, ganz so, als ob das wenig wäre.

Harte Daten aus der englischen Provinz

Auch die vorerst neueste Studie zu dieser Thematik wurde nicht in Deutschland gemacht, sondern in Großbritannien, wo sich neun Ärzte der Universität Liverpool sechs Monate lang die Mühe gemacht haben, in den beiden Kliniken des Städtchens Merseyside jeden einzelnen aufgenommenen Patienten dahingehend zu untersuchen, ob für das medizinische Problem, das zur Aufnahme ins Krankenhaus führte, ein Arzneimittel verantwortlich zeichnete oder zumindest ursächlich daran beteiligt war.

Insgesamt 18.820 Patienten wurden berücksichtigt. Die Studie war in Teilen eine Reaktion auf Kritik an vorausgegangenen Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen, denen nicht ganz zu Unrecht Schlamperei vorgeworfen wurde. Insbesondere eine viel zitierte Arbeit des amerikanischen Arztes Jason Lazarou aus dem Jahr 1998, die für die USA auf rund 100.000 Medikamentenopfer pro Jahr kam, ist anfechtbar, weil sie Daten aus unterschiedlichen Jahrzehnten durcheinander würfelt.

Für die jetzt im British Medical Journal publizierte Untersuchung kann das nicht gelten, denn es handelt sich um eine echte, prospektive Studie, die ausnahmslos jeden Patienten berücksichtigte, der sich im Untersuchungszeitraum in den beiden Kliniken in Merseyside vorstellte. Jeder Patient wurde von mindestens zwei Ärzten unabhängig voneinander bewertet. Patienten, bei denen die Beurteilung hinsichtlich des Vorliegens einer Arzneimittelreaktion kontrovers ausfiel, wurden nicht in die Endauswertung mit einbezogen.

Merseyside kommt auf 1.225 Arzneimittelkomplikation in einem halben Jahr

Um es kurz zu machen: Die Ergebnisse bestätigen die international kursierenden Schätzungen: Bei 6,5 Prozent aller aufgenommenen Patienten waren die Untersucher der Auffassung, es handele sich um eine Arzneimittelreaktion. Von allen Patienten, die neu in eine der beiden Kliniken aufgenommen wurden, starben 0,15 Prozent an vor der Aufnahme manifest gewordenen (also ambulant erworbenen) Arzneimittelkomplikationen, was in etwa der Prozentsatz ist, den auch Lazarou für die USA ermittelt hatte. Hochgerechnet auf die Britischen Inseln sind das etwa 5.700 Menschen pro Jahr.

Nicht enthalten in dieser Zahl sind Arzneimittelkomplikationen, die erst im Krankenhaus auftreten und die die Briten in ihrer Studie nicht untersucht haben. Lazarous Hochrechnungen von 1998 beziffern diese Rate auf etwas höhere 0,2 Prozent, was sich für Großbritannien zu rund 15.000 bis 20.000 Opfern jährlich aufsummieren würde.

Rund drei Viertel aller in der britischen Studie aufgezeichneter Arzneimittelreaktionen wurden von Munir Pirmohamed und seinen Kollegen als "vermeidbar" oder "möglicherweise vermeidbar" eingestuft. Ohne in die Details gehen zu wollen, fanden sich darunter vor allem Blutungskomplikationen durch die kombinierte Einnahme von mehreren gerinnungswirksamen Präparaten, außerdem Probleme mit dem Elektrolythaushalt, die vor allem bei der Behandlung mit Diuretika ("Wassertabletten") auftreten können. Auch das entspricht dem, was man erwarten durfte.

Elektronische Warnsysteme tun, was sie sollen - doch sie werden nicht eingesetzt

Wer diesen Problemen entgegen treten möchte, im Interesse der Patienten, aber auch im Interesse der Gesundheitssysteme, die eine allerdings schwer quantifizierbare Stange Geld für vermeidbare Behandlungen ausgeben müssen, der kann an vielen Stellen ansetzen. Die pharmakologische Ausbildung der Ärzte kann verbessert werden. Die Patienten, allen voran chronisch Kranke, könnten besser über die mit einer medikamentösen Dauerbehandlung einhergehenden Probleme informiert werden. Und schließlich kann versucht werden, durch den Einsatz kontrollierender Computerprogramme in Arztpraxen, Kliniken und eventuell Apotheken die Zahl der aus dem System heraus entstehenden Leichtsinnsfehler zu reduzieren.

Dieser Ansatz ist möglicherweise der erfolgversprechendste von allen. Er ist zugleich derjenige, der in Deutschland am unterentwickeltesten ist. Auf Ebene der Krankenhäuser ließen sich an der US-amerikanischen LDS-Klinik in Salt Lake City, in der es ein vollständig elektronisches Patientenaktenwesen gibt, durch eine Software, die Dosierungen kontrolliert, vor Allergien warnt und potenzielle Medikamenteninteraktionen erkennt, nach Hochrechungen von Krankenhausökonomen in zwei Jahren 300.000 US-Dollar sparen. Dem standen 86.000 Dollar gegenüber, die das System die Klinik im selben Zeitraum kostete. In derselben Klinik verringerten computergestützte Verschreibungsprogramme für Antibiotika die Häufigkeit von Verschreibungsfehlern, insbesondere von zu hohen Dosierungen, bei diesen sehr komplikationsträchtigen Behandlungen um 75 Prozent.

An der Harvard-Universität in Boston ließ sich durch ein Programm, das nichts weiter tut, als die für den jeweiligen Patienten empfohlene Dosierung einzublenden, die Zahl der Dosierungsfehler um 70 Prozent verringern. Die Beispiele ließen sich fortführen. In Deutschland gibt es diese Programme praktisch nirgends, was neben einer gewissen Skepsis innerhalb der Ärzteschaft unter anderem daran liegt, dass in deutschen Kliniken Patientensoftware, in der die aktuelle Medikation verzeichnet ist, praktisch nichtexistent ist.

Auch Praxen und Apotheken müssen Teil eines Warnsystems sein

Die Zahl von Arzneimittelkomplikationen auf ambulanter Ebene zu verringern, ist schwieriger. Wie Jürgen Frölichs Untersuchung zu Aldosteronantagonisten nahe legt, könnten auch in Arztpraxen Computerprogramme, die die Dosierung kontrollieren, von Nutzen sein. Die Zahl versehentlicher Dosierungsfehler allerdings ist hier sicher insgesamt geringer als in der Klinik, wo zahlreiche Ärzte und Schwestern mit unterschiedlichen Handschriften ein durch Standardisierung lösbares "Viele-Köche-Problem" generieren.

Ein erfolgversprechender Ansatz in ambulanten Praxen sind Softwarewachhunde, die daran erinnern, bestimmte Laborwerte zu kontrollieren, wenn Medikamente oder Medikamentenkombinationen gegeben werden. Diese Erinnerungen müssen dokumentiert werden und der Arzt, der sie ignoriert, darf das tun, sollte es aber begründen können. Ähnliche Programme könnten auch vor Arzneimittelinteraktionen warnen. In der britischen Studie war etwa jede sechste Komplikation auf die Interaktion zweier Präparate zurückzuführen. Auch dieses Problem lässt sich zum Teil dadurch lösen, dass bestimmte Laborwerte kontrolliert werden. So hätte eine Kontrolle des Kreatininwerts möglicherweise einen Großteil der mit dem Medikament Lipobay assoziierten Probleme verhindern können.

In Arztpraxen ist eine elektronische Arzneimitteldokumentation deutlich verbreiteter als in Kliniken und Warnsoftware wird auch von einigen Ärzten eingesetzt. Der Knackpunkt ist freilich, dass der Patient sich nicht darauf verlassen kann, dass die Programme tatsächlich vorhanden sind, beziehungsweise verwendet werden. Außerdem resultieren aus einer (im Einzelfall unter Umständen berechtigten) Missachtung von computergenerierten Warnungen keinerlei Konsequenzen für den Arzt.

Ein weiteres Problem ist, dass ein nicht geringer Anteil der Arzneimittelkomplikationen auf so genannte OTC-Präparate zurück zu führen ist. Diese "over the counter"-Medikamente sind nicht verschreibungspflichtig und entziehen sich deswegen Kontrollmechanismen, die auf Ebene der Arztpraxen angesiedelt sind. In der oben zitierten, britischen Studie war beispielsweise die rezeptfrei erhältliche Acetylsalicylsäure (Aspirin) an knapp jeder fünften Arzneimittelkomplikation beteiligt und für mehr als die Hälfte der Todesfälle mitverantwortlich. Unter diesen Todesfällen waren auch vermeidbare, etwa bei den Patienten, die eine in den meisten Fällen nicht indizierte Kombination aus Aspirin und anderen gerinnungshemmenden Präparaten erhielten. In Arztpraxen fällt das in der Regel auf. Wenn sich die Patienten ihr Aspirin als Schmerzmittel selbst holen, dann wäre das allerdings nur auf Ebene der Apotheken abzufangen, so dass Warnsysteme auch hier ansetzen sollten.

Viele Dinge lassen sich auch ohne eine PKI realisieren

Die Bundesregierung will mit der für das Jahr 2006 vorgesehenen, elektronischen Gesundheitskarte unter anderem hier ansetzen und eine Arzneimitteldokumentation etablieren, die unabhängig ist von der einzelnen Klinik oder Praxis, unabhängig von der Verschreibungspflicht und außerdem transparent für den Patienten. Abgesehen davon, dass bislang völlig unklar ist, auf Basis welcher Datenbank das geschehen soll und abgesehen von Ernst zu nehmenden Bedenken hinsichtlich der praktischen Umsetzbarkeit eines Kryptochipkartensystems im medizinischen Alltag, geht dieses Vorhaben prinzipiell in die richtige Richtung.

Es sollte allerdings gewährleistet sein, dass die Warnungen, die ein solches Überwachungssystem generieren wird, auch dokumentiert werden. Damit wäre der Patient eventuellen Behandlungsfehlern nicht mehr so hilflos ausgesetzt wie bisher. Aber auch der Arzt könnte nachweisen, dass er sich korrekt verhalten hat, wenn er vom Patienten fälschlich eines Fehlers bezichtigt wird.

Wie die jetzt in Großbritannien ermittelten Zahlen einmal mehr zeigen, sollte vor allem nicht mehr lange abgewartet werden. Es gibt Gründe für den Aufbau einer Chipkartenarchitektur im Gesundheitswesen, aber diese ist in keinem Fall die unabdingbare Voraussetzung für bessere digitale Kontrollsysteme bei Arzneimitteln. Deutschland ist in Sachen Telematikinfrastruktur zwar eines der führenden Länder Europas. Was aber den Einsatz vergleichsweise simpler elektronischer Verordnungssysteme in Kliniken beziehungsweise Arzneimitteldatenbanken in Praxen angeht, kriechen wir elend langsam hinterher. Davon, dass das Ausmaß des Problems der Arzneimittelkomplikationen nirgendwo sonst so unklar ist wie in Deutschland, war bereits die Rede.

Fazit: Mini-Expertensysteme, die Verordnungen, Diagnosen und Laborwerte kontrollieren und gegebenenfalls elektronische Warnungen generieren, können das Problem der Arzneimittelkomplikationen niemals lösen, aber doch verkleinern. Dass entsprechende Systeme funktionieren, wenn sie in einer elektronischen Dokumentationsumgebung automatisch zum Einsatz kommen und dem Arzt damit keine zusätzliche Arbeit machen, ist hinlänglich bewiesen. In praktisch allen Studien zeigt sich, dass Ärzte diese Warnungen durchaus Ernst nehmen.

Nicht fehlende Kryptokarten, wie mitunter suggeriert wird, sondern vor allem die nach wie vor bedauernswert miserable elektronische Ausstattung der meisten medizinischen Einrichtungen in Deutschland ist der Hauptgrund dafür, warum solche Warnsysteme hierzulande bis heute Orchideenstatus haben. Die Etablierung einer Telematikinfrastruktur kann als Katalysator der Modernisierung des medizinischen Dokumentationswesens angesehen werden und ist politisch wohl auch so gedacht. Eine zwingende Voraussetzung dafür ist sie aber nicht, und sie sollte auch nicht als Ausrede für zwischenzeitliche Untätigkeit herhalten.

Vom Autor ist gerade in der Telepolis-Reihe das Buch Vernetzte Medizin. Patienten-Empowerment und Netzinfrastrukturen in der Medizin des 21. Jahrhunderts (224 Seiten, 19 Euro) erschienen.