"An einer demokratiefreien Zone wird bereits gearbeitet"

Seite 2: "Viele lernen gerade den Wert funktionierender Rechtsstaaten schätzen"

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Und so lange "die andere Klasse" so ruhig bleibt, wird alles bleiben, wie es ist?

Christian Nürnberger: Nein. Es wird schlimmer werden. Damals, als der Standortwettbewerb ausgerufen wurde, waren es "nur" die sozialen Errungenschaften, die als Wettbewerbshindernisse denunziert und auf den Prüfstand gestellt wurden. Inzwischen aber wird gerade der nächste Schritt vorbereitet. Heute erscheint den kapitalistischen Freibeutern im Silicon Valley die ganze Demokratie als ein einziges Wettbewerbshindernis. Google-Gründer Larry Page hatte das 2013 schon sehr deutlich ausgesprochen: "Es gibt eine Menge Dinge, die wir gern machen würden, aber leider nicht tun können, weil sie illegal sind, weil es Gesetze gibt, die sie verbieten. Wir sollten ein paar Orte haben, wo wir sicher sind. Wo wir neue Dinge ausprobieren und herausfinden können, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben."

An dieser demokratiefreien Zone wird bereits gearbeitet. In internationalen Gewässern, zwölf Seemeilen vor der kalifornischen Küste, will ein amerikanisch-bosnischer Unternehmer Blueseed gründen. Auf schwimmenden Plattformen - mit Palmen, Sonne und Swimmingpool - soll eine Kolonie der erfolgreichsten Unternehmer der Welt entstehen, ohne einengende Gesetze, Steuern, Visumspflicht, staatlichen Vorgaben.

Unternehmer wie Larry Page von Google, Jeff Bezos von amazon oder Mark Zuckerberg von Facebook sind keine Neoliberalen, sondern Anarcho-Libertarians, die den demokratischen und sozialen Rechtsstaat hassen, weil er noch immer dem Recht des Stärkeren hinhaltenden Widerstand entgegensetzt.

" Ich war dagegen, das Nachgeben auf die Erpressung der Kapitalseite als Reform zu feiern"

Die Macht, welche die Finanzmärkte heutzutage genießen haben ihnen seinerzeit Rot-Grün gewährt. Deren Reformen und die "Enttabuisierung des Militärischen" hätten CDU/CSU und FDP niemals durchsetzen können, weil SPD, Grüne, Gewerkschaften und linksliberale Medien Sturm dagegen gelaufen wären. Seither ist die Wahlbeteiligung merklich geschrumpft: Haben Schröder und Fischer zusammen die Demokratie ermordet?

Christian Nürnberger: "Ermordet" nicht, aber stranguliert, und zwar unter dem Druck der Erpressung, der sie ausgesetzt waren. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass die Kapitalseite ihre Drohung wahrgemacht und in Osteuropa und Asien investiert hat, mit der Folge zahlreicher Massenentlassungs-Wellen bei uns. Darauf musste Schröder reagieren. Und darin habe ich ihn übrigens damals unterstützt. Ich war nur dagegen, dieses Nachgeben auf die Erpressung als Reform zu feiern. Ich hatte dafür plädiert, sich zur eigenen Ohnmacht zu bekennen. Das wäre sehr hilfreich gewesen, weil wir schon dann die Kapitalismusdiskussion geführt hätten, die wir erst jetzt, seit Ausbruch der Finanzkrise führen.

Was die "Enttabuisierung des Militärischen" betrifft, so steckt darin für mich eine besonders bittere Ironie. Ich war zwischen 1970 und 1974 freiwillig bei der Bundeswehr und deshalb für so Leute wie Schröder und Fischer ein "reaktionäres Arschloch". Dieselben Leute haben dann zwei Jahrzehnte später deutsche Soldaten erstmals in einen Krieg geschickt.

Haben Sie den Eindruck dass die mit den Hartz-Reformen einsetzende Liberalisierung des Arbeitsmarkts eine beschäftigungspolitische Wende hin zum Besseren erreicht wurde?

Christian Nürnberger:: Es wurde keine Besserung erzielt, sondern vermutlich eine weitere Verschlechterung verhindert. Ohne die Hartz-Reformen hätten wir wohl eine höhere Arbeitslosigkeit, wobei es unmöglich ist, den Effekt zu beziffern, weil ja auch die Arbeitslosenstatistik immer wieder geändert wurde, und nach jeder Änderung hatten wir allein durch die geänderte Statistik immer weniger Arbeitslose. Und dafür, dass Arbeitnehmer nicht arbeitslos sind, zahlen viele Beschäftigte einen hohen Preis in Form geringer Löhne und weniger sozialer Sicherheit. Aber was genau passiert wäre, wenn es die Hartz-Gesetze nicht gegeben hätte, vermag niemand zu sagen.

Vielleicht wäre die Arbeitslosigkeit zunächst noch eine Weile länger gestiegen und dann aber wieder so zurückgegangen wie heute, weil die Investoren sowieso wieder aus Asien zurückgekehrt wären. Viele lernen nämlich gerade den Wert funktionierender Rechtsstaaten mit entwickelter Infrastruktur schätzen, sie entdecken den Wert einer sauberen Umwelt und staatlicher Korruptionsbekämpfung. Und wenn sie jetzt noch lernten, hohe Löhne wieder wertzuschätzen, die für hohe Kaufkraft sorgen, und soziale Sicherheit, die jungen Leuten Planungssicherheit gäbe, so dass sie wieder an Hausbau und Kinderkriegen zu denken wagten, dann könnten wir die Wende zur ökosozialen, regionalen Marktwirtschaft einleiten.

Können Sie eine Einschätzung abgeben, wie viel Geld die damalige Deregulierung des Bankensektors durch Rot-Grün den deutschen Steuerzahler bis heute gekostet hat?

Christian Nürnberger: Nein, das kann ich nicht, und wahrscheinlich kann das nicht einmal der Finanzminister, denn da müssten die Kosten der Finanzkrise mit eingerechnet werden, die ja auch eine Folge der Deregulierung war. Aber das wäre mal eine parlamentarische Anfrage wert. Für uns Steuerzahler bleibt vorläufig nur die Überlegung: Der Staat hat Steuereinnahmen wie noch nie, seine Schulden bedient er mit einem Zinssatz, der so tief ist, wie noch nie, und trotzdem bekam der Finanzminister seine Schwarze Null, auf die er so stolz ist, nur mit Ach und Krach hin, und auch dafür zahlen wir einen Preis in Form maroder Infrastruktur, zu geringen Investitionen in Bildung und Forschung, zu wenig Personal im Gesundheitswesen, in der Sozialarbeit, in der Pflege und bei der Polizei.

Warum wird über solche Sachen in den Medien nicht berichtet?

Christian Nürnberger: Weil offenbar niemand danach fragt. Und wer danach fragte, würde von der Regierung sehr wahrscheinlich mit untauglichem Zahlenmaterial abgespeist werden. Da bräuchte man investigative Finanzfachleute in den Medien, die sich aber die Zeitungen nicht mehr leisten können. Deren Auflagen und Werbeeinnahmen brechen weg. Leisten könnten es sich die öffentlich-rechtlichen Medien, aber die geben zu viel Geld für Unterhaltung und zu wenig für Information aus.

In Teil 2 des Gesprächs, der am Donnerstag online geht, äußert sich Christian Nürnberger zum Zustand der Volksparteien und zu den Folgen der Ökonomisierung der Medien.

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