"Anfangs hatte man noch große Hoffnungen, aber die sind alle dahin"

Gespräch mit Hussein Sinjari, Präsident des "Iraq Institute for Democracy" und Herausgeber der Tageszeitung Iraq Today, über die aktuelle Lage im Irak

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Im Westen dominiert die Kriegsberichterstattung über den Irak. Für die arabische Welt liefern hauptsächlich die TV-Sender, Al-Dschasira und Al-Arabiya, die Informationen. Kaum ein Referenzpunkt sind die über 200 Presseorgane im Irak, die es dort ein Jahr nach der "Befreiung des Landes" gibt. Hussein Sinjari, Kurde, Präsident des Iraq Institute for Democracy und Herausgeber der liberalen Wochenzeitung Al Ahali und der Tageszeitung Iraq Today gibt Einblick in die Marktmechanismen der irakischen Medien und die aktuelle Situation nach dem Folterskandal im Irak.

Die Presse in Deutschland befindet sich ökonomisch in einer Krise. In ganz Europa beklagt man eine zunehmende Konzentration der Medienkonzerne. Das Imperium von Berlusconi in Italien wird da als negatives Protobeispiel genannt. Wie ist die Lage der Presse ein Jahr nach der "Befreiung"?

Hussein Sinjari: Um das Beispiel von Italien aufzugreifen, auch im Irak gibt es einen Berlusconi und das ist Paul Bremer. Wissen Sie, meine Zeitung, Al Ahali ist zwei Jahre alt. Wir begrüßten die Befreiung des Iraks sehr. Unter Saddam Hussein waren wir im Norden des Iraks, der nicht unter seiner Kontrolle stand. Nach der Befreiung sind wir nach Bagdad umgezogen. Für uns war das sehr schwierig, besonders in finanzieller Hinsicht. Dann sahen wir, dass plötzlich Zeitungen erschienen, die von den Koalitionstruppen finanziert wurden. Die Journalisten, die mit mir arbeiteten, waren alle sehr enttäuscht. Wieder einmal gab es Zeitungen, Radiostationen, Fernsehsender, die vom Staat finanziert werden. Wir hatten gehofft, dass diese Ära nicht mehr zurück kommen würde und die Ökonomie des Marktes die Presse bestimme. Aber das fand nicht statt, die USA finanzierten ihre ihnen angenehme Zeitungen. Initiativen von demokratischen, liberalen Leuten wurden ignoriert. Ich will jetzt nicht sagen, dass wir amerikanisches Geld wollten, überhaupt nicht. Nur waren wir überzeugt, dass es für die Demokratie und die Entstehung einer zivilen Gesellschaft viel besser gewesen wäre, eine Stiftung, einen Fond zu haben, der ernsthafte Initiativen finanziert.

Es geht nur darum, wer die lautere Stimme hat

Wie viele Zeitungen gibt es heute im Irak?

Hussein Sinjari: Ungefähr zweihundert.

Wie steht es mit der publizistischen Ethik bei diesen Zeitungen?

Hussein Sinjari: Im Irak gibt es keine Ethik. Nein, es gibt absolut keine Ethik der Medien im Irak.

Wie meinen sie das?

Hussein Sinjari: Viele Medien gehören zu Parteien, die sich in einem permanenten Wahlkampf für ihre die Partei und ihr Führer befinden. Alles ist voll von Propaganda, der Glorifikation der Führungseliten. Darüber hinaus sind sie voll von Hasstiraden, Verschwörungstheorien und Gewaltverherrlichung.

Die USA haben bisher nur die Zeitung von Moqtar al Sadr verboten.

Hussein Sinjari: Soviel ich weiß, ja. Völlig zurecht, da gab es Hassaufrufe und Gewaltverherrlichung ohne Ende.

Bei 200 Zeitungen könnte man aber doch von einem freien Marktpluralismus der Meinungen ausgehen? Könnte man das nicht auch positiv sehen?

Hussein Sinjari: Nein, leider nicht. Es gibt eine große Desinformation und Orientierungslosigkeit. Es gibt viel Mist in den Medien, wo es nur darum geht, wer die lautere Stimme hat. Das ist wenig hilfreich auf dem Weg in Richtung Demokratie und hilft den Terroristen und Fundamentalisten.

Tragen die USA und ihre Okkupationspolitik dafür die Verantwortung?

Hussein Sinjari: Es ist nicht eine Konsequenz der Befreiung des Iraks, sondern ja, der Okkupation, der Art und Weise, wie die USA das Land verwaltet und managt.

Jetzt wird es für Liberale noch schwieriger, über Menschenrechte und Demokratie im Irak zu sprechen

Sie hatten bereits vor drei Monaten Beweise über die Misshandlungen in irakischen Gefängnissen vorliegen, aber Sie haben nichts darüber veröffentlicht.

Hussein Sinjari: Ja das stimmt. Wir wollten einfach nicht, dass die Terroristen und Fundamentalisten daraus einen Vorteil ziehen. Außerdem konnten wir zu dieser Geschichte keine Stellungnahme der US- Behörde bekommen.

Wie war das möglich?

Hussein Sinjari: Das war in erster Linie ein Problem der Infrastruktur. Vor gut drei Monaten gab es noch kein Telefon. Heute gibt es das, aber es funktioniert immer noch nicht gut. So war es einfach sehr schwierig, die Informationen zu verifizieren und wie gesagt wir wollten den Terroristen keine Schützenhilfe geben.

Aber jetzt ist der Schaden um so größer.

Hussein Sinjari: Ja, ganz offensichtlich. Aber die Verantwortung liegt ganz bei den USA. Für den Irak sind die Enthüllungen eine Katastrophe. Jetzt wird es für Liberale wie mich nur noch schwieriger, über Menschenrechte und Demokratie im Irak zu sprechen. Es ist katastrophal, weil die Leute jetzt sagen können: Das sollen Menschenrechte und Demokratie sein? Nein danke, da bleiben wir lieber beim Islam, der einzigartig und vollkommen ist.

Üben diese Terroristen Druck auf die Redaktionen der Zeitungen aus?

Hussein Sinjari: Es gab viele Fälle, wo Schriftsteller, Journalisten, Professoren oder Künstler bedroht, gekidnappt und ermordet wurden. Und das in allen Teilen des Iraks, von Mosul bis Basra.

Diese Fälle finden sich aber nicht oft in den Schlagzeilen.

Hussein Sinjari: Nicht unbedingt in den Schlagzeilen, aber es gibt Berichte darüber.

Die ausländischen Journalisten können kaum mehr ihre Hotels verlassen. Wie sind die Arbeitsbedingungen für die irakischen Presseleute?

Hussein Sinjari: Wir haben ein Netzwerk von Kollegen im Irak. Sie sind jung und voller Energie. Sie sind Demokraten und Liberale und glauben an das, was sie tun. Die Bedingungen sind hart, aber sie kämpfen für ihre Ideale, für einen demokratischen Irak. Erst heute habe ich im Herald Tribunal gelesen, dass der Irak das gefährlichste Land für Journalisten ist. Das sagt wohl alles.

Al-Dschasira und Al-Arabya verherrlichen die Gewalt

Wie informieren sich eigentlich die Iraker darüber, was in ihrem Land vorgeht?

Hussein Sinjari: Hauptsächlich durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Es gibt immer jemand, der mit jemand anderen verbunden ist, sei es durch Heirat, Familie, Freundschaft, Religion oder auch Geschäftsbeziehungen. Das funktioniert sehr gut.

Welche Rolle spielt das Fernsehen, vornehmlich die arabischen Sender, Al-Dschasira und Al-Arabya, über die die USA so erbost sind?

Hussein Sinjari: Die meisten Leute im Irak sehen diese Sender. Aber meiner Meinung nach verherrlichen beide Nachrichtensender Gewalt.

Wie machen sie das ?

Hussein Sinjari: Sie sprechen immer vom heroischen Widerstand gegen die USA, vom heroischen Falludscha, promoten al Sadr und liefern regelmäßig Verschwörungstheorien, bei denen Israelis oder Juden eine Rolle spielen. Sie schüren Hass.

Glauben Sie, dass sich die Rebellion von Moqtar al Sadr auf den Rest der schiitischen Bevölkerung übertragen wird?

Hussein Sinjari: Moqtar Al Sadr ist ein junger, gefährlicher Mann. Seine Rhetorik ist attraktiv, eine Mischung aus arabischem Nationalismus und islamischem Fundamentalismus. Damit zieht er die ignoranten, ungebildeten Leute an, den Mob und die Schläger, all die Unterprivilegierten - und das sind Millionen im Irak.

Nur eine kleine Gruppe kämpft gegen die Amerikaner

Die USA behaupten, die überwiegende Mehrheit der Iraker sei auf ihrer Seite. Andere sagen, insbesondere die Islamisten, dass fast alle Iraker gegen die Besetzung sind und mehr als die Hälfte bereit sei, gegen die Amerikaner zu kämpfen. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Hussein Sinjari: Die Leute, die gegen die Amerikaner kämpfen, sind nur eine kleine Gruppe. Sie bringen Chaos und Destruktion. Sie sind sehr aktiv, während die liberalen Kräfte zuhause sitzen und nichts tun. Kleine, militante Gruppen sind effektiver und haben mit Hilfe der Medien stets mehr Einfluss auf aktuelle Ereignisse. Was aber nicht heißt, dass die Mehrheit der Iraker Militante sind. Das ist nicht wahr, die Mehrheit der irakischen Bevölkerung will Frieden, Stabilität und Arbeitsplätze. Man bevorzugt Lebensqualität und Entertainment, anstatt mit dem Mob demonstrierend durch die Strassen zu ziehen.

Die Amerikaner kamen ohne einen Plan für den Tag danach ins Land

Mit den Amerikanern sind Arbeitsplätze in weite Ferne gerückt, von Entertainment gar nicht zu reden. Ist das nicht eine Gefahr, denn nach einer gewissen Zeit ist es den Menschen egal, von wem sie bezahlt werden. Hauptsache sie haben wieder etwas Anständiges Kochtopf.

Hussein Sinjari: Vier Millionen Menschen sind entlassen worden und stehen jetzt vor dem Nichts. Die meisten davon sind Soldaten, Geheimdienstler und Mitglieder der Baath-Partei, die man von einem Tag auf den anderen ohne Gehalt in die Wüste geschickt hat. Sie haben ganz Recht, was kann man von diesen Leuten anderes erwarten, als dass sie sich dem erstbesten, der sie bezahlt, anschließen.

Sie schaffen ein Image von Ihrem Land, das nicht der Realität entspricht?

Hussein Sinjari: Ja, natürlich. Aber das ist ein Fehler der Amerikaner, die in dieses Land kamen, ohne einen Plan für den Tag danach zu haben. Sowohl was die Medien, als auch was die Kommunikation und die Verständigung mit den Menschen betrifft.

Ziemlich unverständlich, wenn man ein Land erobert und besetzt, um Demokratie zu bringen.

Hussein Sinjari: Allerdings. Ich glaube, die Amerikaner wurden einfach schlecht beraten von so Leuten wie Dschalabi.

Gab es da kein "Briefing" von anderen Leuten wie zum Beispiel Ihnen?

Hussein Sinjari: Vor dem Krieg gab es eine Menge Konsultationen. Ich habe mehrfach im State Departement in Washington an Workshops über die Zukunft des Iraks teilgenommen. Aber sie wurden sehr arrogant, als sie den Krieg sehr einfach und schnell gewonnen hatten. Erst vor kurzem, also ziemlich spät, haben sie gemerkt, wie isoliert sie von den Menschen sind, die sie am Anfang noch willkommen geheißen hatten.

Gewöhnlich gibt es einen Unterschied zwischen Besetzern und Befreiern eines Landes. Die ersteren versuchen ihre militärische Macht zu stabilisieren, die anderen beginnen sofort mit der Verbesserung und dem Neuaufbau der Infrastruktur, was in erster Linie Telefon, Wasser und Elektrizität meint.

Hussein Sinjari: Das sind genau Worte, mit denen die Leute heutzutage im Irak ihre Situation beschreiben. Und das ist leider die traurige Wahrheit.

Die Amerikaner zerstören mehr als sie aufbauen?

Hussein Sinjari: Nein, das möchte ich nicht behaupten. Die Menschen sind einfach sehr verärgert. Anfangs hatte man noch große Hoffnungen, aber die sind alle dahin. Heute versteht sie niemand mehr als Befreier. Die Zeiten sind vorbei.

Auch das Vertrauen in den Regierungsrat scheint dahin. Man bezeichnet ihn als Ausgeburt der Korruption.

Hussein Sinjari: Die Gerüchte besagen, dass viele Mitglieder des Regierungsrats, viele Minister und kürzlich ernannte Offizielle in sehr großem Masse korrupt sind. Auch US-Offizielle gelten als äußerst korrupt. Vor kurzem habe ich einen Geschäftsmann getroffen, der mir erzählte, dass er gerade 200.000 Dollar Schmiergeld an einen US-Offiziellen bezahlt hat, um einen Vertrag zu bekommen.

Wie steht es mit anderen illegalen Geschäften, z.B. mit Drogen?

Hussein Sinjari: Natürlich nimmt das auch ständig zu. Da kann man auch nur die USA anklagen, die fast ein Jahr lang unsere Grenzen völlig unbewacht ließen. Es kamen nicht nur Drogen ins Land, sondern auch Waffen und all diese Terroristen, die uns heute so viele Probleme machen.

Wie wird es weitergehen im Irak? Wird es einen Bürgerkrieg geben?

Hussein Sinjari: Nein, das denke ich nicht, dass sich die Iraker gegenseitig bekämpfen. Es wird aber mehr Gewalt geben, Gewalt gegen die Koalitionstruppen.