Angeblicher georgischer Scharfschütze: "Wir waren schon im März 2013 in Kiew"

Schild mit Schussloch, Kiew, 20.2.2014. Bild: Mstyslav Chernov/Unframe/CC BY-SA-3.0

Laut einem georgischen Zeugen wurde die Eskalation mit Scharfschützen auf dem Maidan mindestens elf Monate im Voraus geplant - doch es gibt auch Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit

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Die Scharfschützenmorde vom 20. Februar 2014 auf dem Maidan könnten schon rund ein Jahr zuvor geplant worden sein - dies geht zumindest aus einem nun veröffentlichten Interview mit dem vermeintlichen georgischen Maidanschützen Alexander Revazishvili hervor. Demnach sei er als militärisch ausgebildeter Scharfschütze mit einer Gruppe georgischer Sicherheitskräfte bereits Ende März 2013, also rund elf Monate vor dem Blutbad, nach Kiew gereist, um geeignete Schützenpositionen am Maidan auszukundschaften.

Die drei georgischen Staatsbürger, die sich laut einer italienischen Reportage von Mitte November als Beteiligte der Maidanmorde bezeichnen, haben auch dem mazedonischen Fernsehjournalisten Milenko Nedelkovski lange Interviews zu ihren Erlebnissen gegeben. Die Gespräche wurden in den beiden vergangenen Wochen veröffentlicht. Das Interview mit Koba Nergadze und Zalogy Kvarateskelia fand in einem TV-Studio in der mazedonischen Hauptstadt Skopje statt, ein weiteres Gespräch mit Alexander Revazishvili erfolgte in einem ungenannten Land.

Die Interviews wurden zum Teil auf Russisch geführt, teils sind sie Russisch untertitelt. Telepolis-Autor Stefan Korinth hat sie ins Deutsche übersetzt und stellt den Telepolis-Lesern diese Transkripte der jeweils rund einstündigen Gespräche anbei zur Verfügung.1 Damit ist es nun möglich, einen Blick auf die vermeintlichen Geständnisse im Original zu werfen. In der Reportage des italienischen Journalisten Gian Micalessin waren die Aussagen der Georgier zuvor ausschließlich in bearbeiteter Form und nur auszugsweise zugänglich (Maidanmorde: Drei Beteiligte gestehen)

Die Abschriften der Gespräche in deutscher Übersetzung (PDF):

Interview Milenko Nedelkovski mit Alexander Revazishvili

Interview Milenko Nedelkovski mit Koba Nergadze und Zalogy Kvarateskelia

Im Original-Ton bezichtigen sich die drei Männer anders als die italienische Reportage suggeriert, nicht als Todesschützen, sondern als Augenzeugen sowie als bereits im Vorfeld informierte Mitwisser. Trotzdem bleibt die politische, kriminalistische und juristische Brisanz ihrer Aussagen bestehen, denn sie belasten auch in diesen Interviews unter anderem den ukrainischen Politiker Sergej Paschinsky und den georgischen Militär Mamuka Mamulashvili schwer. Eine Beteiligung des früheren georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili wird darin ebenfalls nahegelegt.

Die drei Georgier sind damit die ersten, die öffentlich bezeugen, dass eine Tätergruppe aus mehreren Maidangebäuden sowohl auf Polizisten als auch Demonstranten geschossen hat. Zudem sind sie die bislang einzigen beteiligten Zeugen, die vermeintliche Organisatoren dieses Blutbads nennen.

Todesangst vor Auftraggebern

Vor eben diesen hätten die Georgier heute Todesangst, sagt Revazishvili im Interview. Dies habe letztlich zu ihren öffentlichen Auftritten geführt. Es bestehe die Möglichkeit, als Mitwisser ausgeschaltet zu werden, so der 42-Jährige. Anderen Georgiern, die auf dem Maidan geschossen hätten, sei genau dies passiert. Sein Mitstreiter David Kipiani, der laut Revazishvili aus dem Konservatorium gefeuert hatte, sei noch auf dem Maidan getötet worden.

Mit der Zeit habe ich einiges über unsere Leute, die Georgier, gehört. Einige, die dort auf dem Maidan waren, sind gestorben unter irgendwelchen Umständen. So wie Kipiani. Grigorischwili war ein Georgier und Dschanelidze. Letzterer wurde in Kiew in die Luft gejagt. (…) Ich lebte mit der Angst, dass der ein oder andere Tag kommt, an dem sie mich auch erledigen. Ich kann nirgendwohin fliehen.

Revazishvili

Die drei Interviewten hätten sich entschieden, auf europäische Journalisten zuzugehen, um ihr Leben abzusichern. Eigentlich habe Moderator Nedelkovski ein gemeinsames Interview mit allen drei Georgiern in Skopje führen wollen, erläutert er im Vorfeld des Gespräches mit Revazishvili. Doch diesem sei trotz gültigen Visums die Einreise nach Mazedonien ohne Angabe von Gründen verweigert worden. Deshalb habe das Gespräch mit ihm in einem anderen Land nachgeholt werden müssen.2

Alexander Revazishvili erläutert anhand eines Bildes vom Konservatorium die Positionen der Maidanschützen. Bild: Screenshot YouTube

Zu viel Angst um abzulehnen

In diesem Interview erzählt Revazishvili, der in den 1990er Jahren bei der georgischen Armee zum Scharfschützen ausgebildet wurde, dass ihn nicht Geld, sondern Angst in die Aktionen auf dem Maidan getrieben habe. Seit Jahren habe er bereits für eine Saakaschwili treue Organisation politische Gegner ausspioniert und als Agent Provocateur bei deren Demonstrationen gewirkt.

Als ihn 2013 der georgische Militärberater Mamuka Mamulashvili für eine Reise nach Kiew rekrutierte, habe Revazishvili nicht gewagt, die Anfrage abzulehnen. Immerhin sei Mamulashvili Chef eines "Sonderkommandos" gewesen, das gegen Saakaschwilis georgische Gegner brutale Methoden anwendete, erzählt der Interviewte. Mamulashvili habe ihn gefragt, ob er tatsächlich eine Scharfschützenausbildung habe.

Im Gespräch sagte Mamuka, dass wir nach Kiew fahren müssen. Wir haben nachgefragt, mit welchem Ziel. Seine Antwort hat mich sehr überrascht. "Du als Scharfschütze hast doch Erfahrung, man muss die Schusspositionen aussuchen. Es ist möglich, dass es in der Ukraine einen Umsturz gibt. Es sind Unruhen möglich. Wir müssen dahin fahren."

Revazishvili

So sei Revazishvili bereits Ende März 2013 von Tiflis mit einer Gruppe angeworbener Georgier nach Kiew geflogen, um am Maidan geeignete Schützenstellungen zu identifizieren. Diese Reise hätte damit acht Monate vor Beginn des Maidan und fast elf Monate vor dem Blutbad vom 20. Februar stattgefunden. Stimmt diese Information, der keiner der beiden Gesprächspartner besondere Achtung schenkt, so wäre damit ein langfristig geplantes, zynisches und zielgerichtetes Eskalationsmanagement der Organisatoren belegt. Im Herbst 2013 habe es zudem eine zweite Erkundungsreise gegeben, sagt Revazishvili.

Im Interview wird die Doppelseite eines Passes eingeblendet, dessen Ein- und Ausreise-Stempel diese Geschichte zu stützen scheinen. Allerdings wird nicht deutlich, ob es sich um Revazishvilis Pass handelt. Er sei auf beiden Reisen legal und offiziell mit der Gruppe gereist, sagt er. Dies macht seine Aussagen für die ukrainischen und georgischen Behörden nachprüfbar. Telepolis-Anfragen ließen aber beide Seiten bislang unbeantwortet.

Alle mit Waffen hätten geschossen

Auf der dritten Reise, dann schon während des Euromaidan, habe Mamulashvili jedoch die Pässe der Gruppe eingesammelt und sie - offenbar mit Hilfe des ukrainischen Grenzschutzes - durch die Kontrolle am Flughafen geleitet. Auf dem Maidan angekommen, sei es Revazishvilis Aufgabe gewesen, die Spezialpolizei Berkut so oft wie möglich zum gewalttätigen Eingreifen gegen die Protestierenden zu provozieren. Schließlich sei ihm und seiner Gruppe, die in einem "georgischen Zelt" lebte, um den 15. Februar herum mit dem ukrainischen Oppositionspolitiker Sergej Pashinsky ein neuer Kommandeur zugeordnet worden.

Dieser habe die Gruppe direkt ins Konservatorium geführt, wo er sie und andere dort anwesende Kämpfer am Morgen des 19. Februar mit Gewehren und Munition versorgte. Als Grund sei die mögliche Erstürmung des Gebäudes durch Berkut genannt worden. Es wurden jedoch keine Scharfschützengewehre sondern vor allem Karabiner verteilt, sagt Revazishvili. Er selbst habe kein Gewehr bekommen, im Gegensatz zu seinem georgischen Kameraden David Kipiani der einen SKS-Karabiner erhielt.

Ein Schütze mit Gewehr feuert am 20. Februar vom Umlauf des Konservatoriums am Maidan. Bild: Screenshot YouTube

Am Morgen des 20. Februar habe Pashinsky dann überraschenderweise das wahllose Schießen auf Berkut und Maidananhänger befohlen. Und Pashinsky hat auch selbst geschossen, betont der Interviewte. Alle, die Waffen hatten, hätten gefeuert. Revazishvili selbst will nicht geschossen haben. Hundertprozentig deutlich wird dies aber auch in dem Gespräch aufgrund einer Aussage im Konjunktiv nicht. Womöglich will er sich auch nicht selbst belasten.

Danach seien alle aus dem Konservatorium geflohen. Revazishvili sei so schockiert und durcheinander gewesen, dass er nur noch im Zelt blieb. Als er vom Tod seines Mitstreiters David Kipiani erfuhr, habe er den bösen Verdacht bekommen, dass nun die "Reihen gesäubert" würden. Revazishvili sei daraufhin ohne jemanden zu informieren, direkt zum Flughafen gefahren und nach Tiflis zurückgekehrt.

Waffen ausdrücklich abgelehnt

Genauso Hals über Kopf seien auch die beiden anderen interviewten Georgier Koba Nergadze und Zalogy Kvarateskelia geflohen, erzählen sie in ihrem Interview mit dem mazedonischen Journalisten. Sie erlebten die Schüsse jedoch ihren Aussagen zufolge vom Hotel Ukraina, wo sie gewohnt hatten. Am 18. Februar, zwei Tage vor dem Massenmord, sei Pashinsky zu ihnen gekommen und habe Waffen ausgegeben. Neben Kalaschnikows und Karabinern sei auch ein europäisches Gewehr mit Zieloptik für Scharfschützen dabei gewesen, erläutert Koba Nergadze, der laut seiner Auskunft bis 2006 in der georgischen Armee als Ausbilder tätig war.

Nergadze habe die Waffen für sich und seine Gruppe ausdrücklich abgelehnt und sei darüber am folgenden Tag sogar in Streit mit Mamulashvili geraten. Auch hierbei sei die Waffenausgabe mit einem möglichen Sturm Berkuts auf das Hotel begründet worden. Aber Mamulashvili habe da auch bereits angekündigt, Chaos durch Schüsse in die Menge auszulösen.

Er sagte, dass uns ein schwieriger Tag bevorsteht und dass es eine Schießerei geben wird. Und diese Schießerei sollte 15 bis 20 Minuten dauern. Mamulashvili sagte, wir sollten keine vorgezogenen Präsidentenwahlen zulassen. Ja, sie wollten vorgezogene Präsidentenwahlen nicht zulassen. Politik ist nicht meine Angelegenheit und ich habe mich nicht eingemischt. Ich habe ihm gesagt, dass ich meinen Leuten nicht erlaube, zu schießen oder überhaupt nur Waffen in die Hände zu nehmen. Die Leute aus meiner Gruppe haben das gehört. Danach haben sie auch gesagt, dass sie die Waffen nicht nehmen.

Nergadze

Von ihnen habe deshalb auch niemand geschossen, sagen Nergadze und Kvarateskelia. Demgegenüber hätten Ukrainer und Litauer, die ebenfalls in dem Hotel stationiert waren, die Waffen genommen und geschossen. Nach den Schüssen seien alle aus dem Hotel geflohen. Am Ausgang habe Nergadze einen der Männer von Pashinsky und Paruby getroffen, der ihm drohend gesagt habe: "Verschwindet schnell, damit es keine Probleme gibt." Beide Georgier flogen noch am selben Tag zurück nach Tiflis.

Einreise mit gefälschten Pässen

Ursprünglich seien beide Interviewten in getrennten georgischen Gruppen im Dezember beziehungsweise im Januar nach Kiew gekommen. Sie hätten für die Einreise gefälschte Pässe unter den Decknamen Georgi Karuzanidse (Nergadze) und David Kapanadze (Kvarateskelia ) erhalten. Nergadze, der in Saakaschwilis Schutz- und Sicherheitsdienst gearbeitet habe, sei direkt von Mamulashvili angeworben worden. Kvarateskelia hingegen, der früher in der Nationalgarde Georgiens diente, sei mit rund zehn weiteren Georgiern einem öffentlichen TV-Aufruf Mamulashvilis in Georgien gefolgt.

Milenko Nedelkovski (links) im Interview in seinem TV-Studio mit Koba Nergadze (Mitte) und Zalogy Kvarateskelia. Bild: Screenshot YouTube

Sie seien ausdrücklich als eine Art Ordner für die Demonstrationen angeheuert worden. Die Georgier sollten, so Nergadze, dafür sorgen, dass es zu keinen Gewalttätigkeiten und Provokationen komme.

Wir sollten den Leuten helfen und dort als Sicherheitsleute auf die Ordnung achten. Von Waffen hat niemand was gesagt. Also wir sollten eine friedliche Mission in der Ukraine ausführen, um dem ukrainischen Volk zu helfen. Diese Aufgabe gab uns Mamuka Mamulashvili.

Nergadze

Alle georgischen Gruppen seien von Befehlshabern des "Sonderkommandos" unter anderem namens Kikabidze und Makischwili geleitet worden. Dieses Kommando sei eine Unterabteilung des Schutz- und Sicherheitsdienstes gewesen und habe Micheil Saakaschwili während dessen Präsidentschaft direkt unterstanden. Nach Saakaschwilis Amtszeit, die am 17. November 2013 also kurz vor Beginn des Maidan endete, sei auch das "Sonderkommando" aufgelöst worden. Alle Gesprächspartner benutzen zur Bezeichnung der Einheit den deutschen Begriff "Sonderkommando".

Um den 16. Februar herum sei Saakaschwili ins Hotel Ukraina gekommen und habe den Männern einen US-Amerikaner namens Brian als US-Militärausbilder vorgestellt. Dieser habe später Mamulashvili beim Überbringen des Schießbefehls begleitet, und für den kommenden Tag bereits die Schüsse aus dem Konservatorium angekündigt. Saakaschwili habe den Männern zudem nach Ende der Aktion hohe Posten in Georgien versprochen.

Beschuldigte wehren sich

Wie der Autor dieser Zeilen bereits in einem Artikel vom 24. November berichtete, wehren sich die von den drei Georgiern belasteten Personen gegen die Anschuldigungen. Der Militärkommandeur Mamuka Mamulashvili verdächtigt den russischen Geheimdienst FSB als Urheber der italienischen Reportage. Der Saakaschwili-Vertraute Koba Nakopia schlägt in dieselbe Kerbe und bezeichnete den Beitrag als "russischen Propagandafilm".

Saakaschwili selbst äußerte sich auf Facebook und sprach von "Goebbelsscher FSB-Propaganda". In seinen Augen steckten russische Langzeitagenten in Georgien und der georgische Oligarch, Gasprom-Aktionär und politische Saakaschwili-Konkurrent Bidsina Iwanischwili hinter den Anschuldigungen wie auch Wladimir Putin und Silvio Berlusconi. In Moskau sei man besorgt über Saakaschwilis politische Bewegung in der Ukraine und schlage nun mit allen Mitteln zurück.

Kritik an der Glaubwürdigkeit der Zeugen

In der Ukraine wurden die Aussagen der Georgier von verschiedenen Stellen als "Fakes" bezeichnet. Nach einer "vorläufigen Prüfung" könne der italienische Film als Ansammlung falscher und gefälschter Informationen bezeichnet werden, sagte der Sonderermittler der Generalstaatsanwaltschaft Sergei Gorbatyuk.

Auch Zoryan Shkiryak vom ukrainischen Innenministerium erklärte: "Dies ist ein weiterer Fake der russischen Propaganda, diesmal im italienischen Fernsehen, der keiner Diskussion wert ist." Die Interviews mit dem mazedonischen Journalisten scheinen in der Ukraine noch unbekannt zu sein.

Auf der ukrainischen Website "StopFake.org" bezeichnet ein anonymer Autor, den italienischen Bericht ebenfalls als "Fälschung" und als "Märchen", die geständigen Zeugen seien "Schauspieler". Begründet wird diese Einschätzung jedoch nicht mit Beweisen und stichhaltigen Argumenten, sondern im Wesentlichen damit, dass Beschuldigte wie "Mumulashvili" [Schreibfehler im Original] angeblich Alibis für die Tatzeit hätten. Da heißt es dann, dass dieser am 14. Dezember 2013 in Baku bei einem Kampfsportturnier war. Dies widerlegt jedoch nicht, dass Mamulashvili am 19. Februar 2014 auf dem Maidan Schießbefehle ausgegeben haben kann. Viele der dort veröffentlichten "Belege" gehen weit an den eigentlichen Vorwürfen vorbei und entkräften dabei auch nichts.

Viele der Kritiker weisen darauf hin, dass die italienische Reportage auf einem Sender ausgestrahlt wurde, der zu Silvio Berlusconis Medienimperium gehört. Berlusconi und Putin seien befreundet, so der Vorwurf, deswegen sei die Reportage Propaganda. Bei der Ausstrahlung der neuen Interviews des mazedonischen Journalisten gehen diese Anschuldigungen nun aber ins Leere.

Doch schon ist absehbar, dass dem Journalisten Milenko Nedelkovski von interessierter Seite vorgeworfen werden wird, er biete "Verschwörungstheoretikern" eine Bühne. Denn immerhin hat er auch schon mal den Schweizer Historiker Daniele Ganser, den französischen Journalisten Thierry Meyssan, den russischen Politiker Alexander Dugin oder den Autor Erich von Däniken interviewt. Mit der Glaubwürdigkeit der georgischen Zeugen hat all dies nichts zu tun. Diese wird jedoch durch andere Recherchen ernsthafter erschüttert.

Der falsche Mann im Zelt

Der Interviewte Alexander Revazishvili identifizierte sich sowohl in der italienischen Reportage als auch im mazedonischen Interview mit dem falschen Mann in einem russischen TV-Beitrag. Der Bericht des Senders "LifeNews" aus einem georgischen Zelt auf dem Maidan zeigt der Kamera zugewandt drei sitzende Männer. Der ganz links trägt eine Mütze, deren Schirm einen Teil des Gesichtes verdeckt. Dieser sei er gewesen, behauptet Revazishvili:

Einmal als wir uns im Zelt aufgewärmt haben, kamen Journalisten zu uns. Ich habe die Kamera gesehen und habe verstanden, das sind Journalisten. Rauszugehen, hatte schon keinen Sinn mehr gehabt. Ich habe meine Mütze nach unten ins Gesicht gezogen.

Revazishvili

Tatsächlich ist diese Aufnahme bislang der einzige "Beweis" für die Anwesenheit eines der drei Georgier auf dem Maidan. Doch eben dieser Beleg Revazishvilis stellt sich als wertlos heraus, denn kurz darauf ist in der russischen Reportage genau jener Mann vor der Kamera zu sehen. Er wird als Georgi Svaridze bezeichnet und sieht deutlich anders aus als Revazishvili. Die BBC bezeichnet Revazishvili wegen dessen Fehlinformation als "unzuverlässigen Zeugen".3

Der Georgier mit Mütze im Life-News-Beitrag ist nicht Alexander Revazishvili. Bild: Screenshot "Life!"

Eine andere Merkwürdigkeit findet sich zudem in den neuen Interviews mit dem mazedonischen Journalisten. Dort behaupten die Georgier, dass die Waffenausgabe am 19. Februar sowohl im Konservatorium als auch im Hotel Ukraina auf eine von Präsident Viktor Janukowitsch unterschriebene Vereinbarung zu vorzeitigen Neuwahlen zurückging. Tatsächlich unterschrieb Janukowitsch diese Vereinbarung zur Beilegung der Krise in der Ukraine aber erst zwei Tage später.4

Saß Revazishvili während des Maidan im Gefängnis?

Der "Faktenfinder" der Tagesschau berichtet von einer Mitteilung des georgischen Innenministeriums von 2011, in welcher die Rede von einem "Aleqsandre Revazishvili" ist, der in Zusammenhang mit einem Entführungs- und Mordfall aus dem Jahr 1994 als Mittäter festgenommen worden sei. Dazu zeigt der "Faktenfinder" ein Bild aus einem georgischen Polizeivideo. Dieses zeigt offensichtlich Revazishvili und soll bei seiner Festnahme gemacht worden sein.

Revazishvili soll anschließend zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden sein und kam laut "Faktenfinder" erst im August 2014 frei. Demnach hätte er keine der von ihm behaupteten Reisen nach Kiew unternehmen können. Laut seiner Angaben im Interview reiste er in dieser Zeit jedoch zweimal offiziell von Tiflis nach Kiew, was durch seinen Pass oder durch gespeicherte Fluggast- und Einreisedaten nachgewiesen oder widerlegen werden kann. Der Ball liegt nun also bei Revazishvili und den Behörden der betroffenen Länder.

Motiv bei Lüge bleibt unklar

Falls Revazishvili sich tatsächlich als Lügner und seine Vorwürfe als haltlos herausstellen sollten, bleibt unklar, warum er und die beiden anderen Georgier sich durch ihre massiven Anschuldigungen derart öffentlich ins Rampenlicht stellen sollten. Ob wahr oder nicht - mit ihren Aussagen ziehen sie zweifellos die Wut vieler mächtiger Beschuldigter auf sich.

Ebenso bliebe in diesem Falle unklar, warum der georgische Armeegeneral Tristan Tsytalishvili und der frühere georgische Innenminister Alexander Chikaidze beide ebenfalls von georgischen Scharfschützen sprechen, die von Saakschwili auf den Maidan geschickt worden seien, um in die Menge zu schießen. Die Namen der Schützen seien den georgischen Behörden auch bekannt. Diese zwei georgischen Offiziellen seien "russische Agenten" ruft Saakaschwili in dieser TV-Diskussion von Mitte November 2017 dem Politiker Vadim Rabinowitsch zu, der Saakaschwili mit den Vorwürfen konfrontiert.

Zurück zu den neuesten Geständnissen: Aus den Interviews mit dem mazedonischen Journalisten geht hervor, dass alle drei vermeintlichen Zeugen weiterhin in Georgien leben. Gegenüber Racheakten wären sie ungeschützt, zumal große westliche Medien den Plan der Männer, Schutz durch Öffentlichkeit herzustellen, glatt durchkreuzen. Kaum ein großes Medium hat über den Fall berichtet.

ARD kritisiert Telepolis

Faktenfinder-Autorin Silvia Stöber wirft Heise.de sogar vor, die Informationen der italienischen Reportage ohne weitere Recherchen "verbreitet" zu haben. Im Gegensatz zur ARD und zu weiteren großen Medien in Deutschland hat Telepolis jedoch seine Chronistenpflicht wahrgenommen und unter ausdrücklichem Verweis auf die italienischen und georgischen Urheber der Informationen sowie unter Nutzung des Konjunktives über die Geständnisse berichtet.

Weitere Recherchen hat es sehr wohl gegeben, unter anderem durch Anfragen an den italienischen Journalisten Gian Micalessin, die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft oder das georgische Außenministerium. Die Institutionen scheinen jedoch die Anfragen kleinerer Medien nicht ernst zu nehmen und ignorieren diese konsequent. Eigentlich ein Grund mehr, dass sich auch große westliche Medien wie die ARD endlich mit dem Thema befassen, um den Informationsdruck zu erhöhen.

Doch statt neutral zu berichten, haben ARD und auch die BBC ihre Recherchespezialisten ausschließlich darauf angesetzt, die Zeugenaussagen auf Schwachpunkte abzuklopfen. Dies ist ein richtiger und notwendiger Schritt, doch entbindet eine Hintergrundrecherche nicht von der gleichzeitigen Pflicht zur aktuellen Berichterstattung über relevante Ereignisse.