Anspruchsvoll, aber noch möglich

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Weniger und leichtere Autos, Industrie umstellen, Wind- und Solarenergie drastisch ausbauen. Wie Klimaschutz noch gelingen kann

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Ein wenig Wut schwingt mit. Zwischen den Zielen der Bundesregierung und dem Notwendigen gebe es eine gigantische Lücke, so Carla Reemtsma von der Jugendbewegung Fridays for Future (FFF) am Dienstag vor der Presse in Berlin. "Zwei Jahre nach Beginn der Klimastreiks fehlt noch immer jeder Plan, wie das 1,5-Grad Ziel erreicht werden kann", stellt ihr Mitstreiter Sebastian Grieme fest.

Gemeint ist das 2015 beschlossene Ziel der Pariser Klimaübereinkunft, "den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur deutlich unter zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, den Anstieg der Temperatur auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen".

"Holding the increase in the global average temperature to well below 2°C above pre-industrial levels and pursuing efforts to limit the temperature increase to 1.5°C above pre-industrial levels, recognizing that this would significantly reduce the risks and impacts of climate change;"

Artikel 2, 1.(a), Pariser Übereinkunft

Das Abkommen wurde im September 2016 vom Bundestag einstimmig ratifiziert, alle demokratischen Parteien bekennen sich formell zu diesen Zielen, und dennoch spiegelt sich dies nicht im politischen Alltag wieder. Weder die diversen Parteiprogramme, noch das offizielle Regierungsziel - Klimaneutralität bis 2050 - werden ihnen gerecht.

Die deutsche Klimapolitik steuere nach wie vor auf eine gefährliche Klimaerwärmung von mehr als zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu, kritisierte am Dienstag FFF-Sprecher Grieme. Dabei seien auch hierzulande schon bei der bereits erreichten Erwärmung von etwas mehr als einem Grad Celsius die Klimaschäden wie Waldsterben, Dürren und Ernteausfälle unübersehbar.

1,5 Grad Celsius

Der deutsche Ableger der internationalen Jugendbewegung hat daher Anfang des Jahres beim Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie eine kleine Studie in Auftrag gegeben, die am Dienstag der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das Ziel: Einen Weg zu skizzieren, wie Deutschlands fairer Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel aussehen könnte.

Aber wieso 1,5 Grad? Wieso klammern sich die Schülerinnen und Schüler an den unteren Wert der Klimaziele? 2017 hatte der sogenannte Weltklimarat IPCC in einem Bericht umfangreich herausgearbeitet, dass bereits ab dieser Grenze keine Warmwasserkorallen mehr überleben würden, mit zunehmend schwereren Ernteausfällen zu rechnen ist, und auch verschiedene Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden könnten.

Kritische Kandidaten sind dafür unter anderem der Permafrost in der Arktis und das westantarktische Eis. Ersteres könnte große Mengen zusätzlicher Treibhausgase freisetzen und damit den Treibhauseffekt weiter verstärken, Letzteres würde bei Verlust den Meeresspiegel um mehrere Meter ansteigen lassen.

Fairer Beitrag

Und wie kann ein fairer Anteil berechnet werden? Die Erwärmung ist abhängig von der Menge der in der Atmosphäre enthaltenen Treibhausgase. In dem vorgestellten Bericht wurde nur das CO2, das Kohlendioxid, berücksichtigt, weil es weltweit den größten Beitrag zum Klimawandel leistet und seine Emissionen in Deutschland die der anderen relevanten Gase, vor allem Methan und Lachgas, bei weitem übersteigt.

Entsprechend lassen sich Abschätzungen machen, wie viel noch emittiert werden kann, wenn die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau beschränkt werden soll. Das hat der IPCC in seinen Berichten getan, und am Wuppertal Institut ist dieser Betrag rechnerisch gleichmäßig auf die Erdbevölkerung verteilt worden. Heraus kam, dass hierzulande ab 2020 noch 4,2 Milliarden Tonnen CO2 in die Luft geblasen werden dürfen, wenn es eine 50prozentige Chance geben soll, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken.

Zentrale Schlussfolgerung, so der Ökonom und Institutsleiter Manfred Fischedick: Deutschland muss bis 2035 klimaneutral werden. Anders sei ein adäquater Beitrag Deutschlands zum Pariser Ziel nicht zu erreichen. Außerdem müssen die Emissionen schneller als linear zurückgehen.

Das heißt, entweder es passiert in den nächsten Jahren nur relativ wenig. Dann wäre Deutschlands Budget schon lange vor 2035 aufgebraucht. Oder es werden rasch die einfacheren großen Schritte unternommen um für die schwierigeren ein bisschen mehr Zeit zu haben. Die nächste Legislaturperiode sei daher ganz entscheidend.

Aufs Tempo kommt es an

"Wir müssen in den nächsten fünf bis sechs Jahren Emissionsminderung von 60 bis 70 Millionen Tonnen pro Jahr hinbekommen", so Fischedick. 2019 wurden in Deutschland noch etwas mehr als 700 Millionen Tonnen CO2 emittiert. Durch die Corona bedingte Wirtschaftskrise hat es in diesem Jahr zwar einen kräftigen Rückgang gegeben, aber es ist keinesfalls ausgemacht, dass das Niveau mit der wirtschaftlichen Erholung nicht wieder steigt.

Wie kann die rasche Reduktion der Emissionen erreicht werden? Die Studie hat sich auf die zentralen emittierenden Sektoren konzentriert: Industrie, Verkehr, Energiewirtschaft und Gebäudesektor. Die Landwirtschaft (Anteil an den Gesamtemissionen aller Treibhausgase 7,4 Prozent) wurde nicht behandelt.

Das Ergebnis, so Fischedik: Das Ziel ist aus technischer und ökonomischer Sicht anspruchsvoll aber noch möglich. Dicke Bretter müssten gebohrt werden. Die Erhöhung des CO2-Preises könne ein wichtiges Instrument sein, müsse aber sozial flankiert werden. Dafür brauche es eine intensive gesellschaftliche Debatte. Gesellschaft und Wirtschaft müssen mitgenommen werden, aber es komme auch auf die Geschwindigkeit an und deshalb sei die nächste Legislaturperiode sehr wichtig.

Viel mehr Sonne, Wind und Wasserstoff

Mitautorin Annika Tönjes hat das für die Energiewirtschaft durchdekliniert. Der Stromverbrauch werde zunehmen, da Industrie, Verkehr und Gebäude mehr Strom benötigen. Auch dann sei aber eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Energieträgern machbar.

Um bis 2035 Klimaneutralität zu erreichen, müsste der Ausbau der Solar- und Windenergie massiv beschleunigt werden. Der jährliche Zubau müsste drei bis vier Mal so umfangreich ausfallen, wie es die Ziele der Bundesregierung bisher vorsehen.

Stärkere Beteiligung von Anwohnerinnen und Anwohnern könnte den Ausbau der Windenergie voran treiben, so Tönjes weiter. Der Bundesverband Windenergie hatte dieser Tage gefordert, eine Beteiligung der Standortkommunen an den Erträgen zwingend vorzuschreiben. Die Regelung war bereits im Entwurf der aktuell diskutierten Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes enthalten, ist aber wieder aus dieser verschwunden.

Insbesondere die Windenergie an Land braucht einen neuen Anschub. Verfünffachung des Zubaus ist notwendig. Verstromung von Kohle und anderen fossilen Energieträgern muss bis 2035 vollständig beendet sein.

Annika Tönjes, Wuppertal Institut

Die Versorgung mit grünem Wasserstoff und synthetischen Energieträgern müsse man rasch und weit über das von der Bundesregierung geplante Maß ausbauen. Die inländischen Elektrolysekapazitäten sollten bis 2035 sieben bis neun Mal so groß sein, wie von der Bundesregierung bisher vorgesehen.

Dennoch werde es großen Importbedarf geben, weshalb schnell entsprechende Partnerschaften aufgebaut werden sollten. Da das alles keine leichte Aufgabe sein wird, sollte der Wasserstoffverbrauch auf die Bereiche beschränkt werden, in denen der Einsatz elektrischer Energie nicht in Frage kommt. Das wären die Erzeugung von Primärstahl, einige Industrieprozesse und die Sicherung der Stromversorgung. Oder mit anderen Worten: Wasserstoffautos sind keine gute Industrie, da der Wasserstoff zu kostbar ist.

In der Frage der Gebäudeheizung, bisher noch einer der großen Brocken in der deutschen Treibhausbilanz, fordert Tönjes, den Trend zu mehr Wohnfläche pro Person zu stoppen und umzukehren. Außerdem müsse die Sanierungsrate auf vier Prozent pro Jahr gesteigert werden. Bisher liege sie bei einem Prozent pro Jahr, die Bundesregierung strebe zwei Prozent pro Jahr an. In diesem Zusammenhang erachtet sie eine Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive gegen Fachkräftemangel im Handwerk für notwendig.

Synthetische Energieträger seien zum Heizen kaum sinnvoll, da mit hohen Umwandlungsverlusten verbunden. Elektrisch betriebene Wärmepumpen würden sich am ehesten anbieten und sollten bis 2035 einen Anteil von 60 bis 80 Prozent beim Heizen haben. Daneben müsse Solarthermie und Nah- und Fernwärme eingesetzt werden.

Industrie umstellen

Studienleiter Georg Kobiela stellte die Ergebnisse für die anderen Sektoren vor. Die Industrie müsse zum einen ihren Energieverbrauch auf erneuerbare Energieträger umstellen. Zum anderen müssen prozessbedingte Emissionen abgestellt und neue Prozesse eingeführt werden.

Diese zur großskaligen Verfügbarkeit zu führen, sei extrem herausfordernd aber bis 2035 gerade noch möglich. Industrieanlagen liefen zum Teil länger als 50 Jahre, "aber in einigen energieintensiven Branchen erreicht in den nächsten zehn Jahren rund die Hälfte der Anlagen das Ende seiner Lebensdauer. Alle neuen Anlagen müssen also so konzipiert sein, dass sie mindestens in naher Zukunft klimaneutral betrieben werden können".

Einige Anlagen werden noch weit über 2035 hinaus laufen. Diese müssen also entweder vorzeitig stillgelegt oder auf nicht-fossile Technologien umgerüstet werden. Im Auge hat Kobiela dabei unter anderem die Erzeugung von Primärstahl, die bisher meist mit Koks erfolgt, aber auf Wasserstoff umgestellt werden könnte.

In der Chemieindustrie ist Wasserstoff schon heute ein wichtiger Grundstoff, wird aber meist aus Erdgas gewonnen, was mit nicht unerheblichen CO2-Emissionen verbunden ist. Künftig müsste er per Elektrolyse mit grünem Strom gewonnen werden.

Für diese Umstellung, so Kobiela, wird schon in den nächsten Jahren ein Wasserstoffpipelinenetz und große Mengen an Grünstrom benötigt. Der Planungsprozess und Aufbau müsse sofort starten. Andernfalls reiche die Zeit nicht mehr. Entscheidungen müssten jetzt fallen und möglichst schnell umgesetzt werden.

Außerdem braucht es aus seiner Sicht Anreize für Recycling und Reparatur, um den großen Energiebedarf und Rohstoffverbrauch zu reduzieren. Das würde den notwendigen Umbau der Wirtschaft enorm erleichtern.

Und wie bringt man das alles auf den Weg? Neben direkten staatlichen Vorgaben, sehen die Autoren wirstchaftliche Anreize als ein Mittel der Wahl. Ein über einige Jahre kontinuierlich und berechenbar ansteigender CO2-Preis würde klare Signale setzen, so Kobiela und weiter:

"Bei einem Preis von 180 Euro pro Tonne CO2 würden die Preise zumindest zum Teil die ökologische Wahrheit sagen."

Außerdem müssten Maßnahmen gefunden werden, mit den eine Verlagerung der Emissionen ins Ausland vermieden werden kann.

Weniger Autos, mehr Bahn und ÖPNV

Für den Straßenverkehr sieht Kobiela drei Lösungselemente: Vermeiden, Verlagern und neue Antriebe. Wobei mit Letzterem vor allem der Elektromotor gemeint ist. Nur für den Luftverkehr halten die Wuppertaler Autorinnen und Autoren synthetische Kraftstoffe für sinnvoll. Kobiela weist aber darauf hin, dass damit der Klimaeffekt des Luftverkehrs noch nicht vollständig vermieden wäre und dieser anderweitig kompensiert werden muss. Denn auch bei der Verbrennung synthetischen Kerosins werden aus dem freigesetzten Wasserdampf noch Kondensstreifen gebildet, die indirekt erwärmend wirken.

Die vielen klimaschädlichen Subventionen im Verkehr sind nicht mit dem Ziel der Klimaneutralität vereinbar. Stattdessen brauchen wir sozialverträgliche, klimafreundliche Alternativen. Straßenneubau ist ein veraltetes Paradigma.

Georg Kobiela, Wuppertal Institut

Ansonsten fordert Kobiela unter anderem ein Moratorium für den Fernstraßenneubau. Bis 2035 müsse der Autoverkehr halbiert und parallel die Kapazität des öffentlichen Verkehrs verdoppelt werden. Dafür bedürfe es eine sehr viel stärkere Finanzierung für dessen Ausbau und Betrieb. Güterverkehr müsse zu einem Drittel auf die Bahn verlagert und der Rest durch leichte, batteriebetriebene und schwere mit elektrischer Oberleitung fahrende Elektro-Lkw bewegt werden. Dafür seien bis 2035 etwa 8.000 Kilometer Oberleitung auf Autobahnen notwendig.

Der städtische Pkw-Bestand müsse um zwei Drittel reduziert werden. Mehr Rad- und Fußwege und mehr ÖPNV müssten her und das ganze mit City-Maut, Tempolimits, Reduzierung von Parkplätzen und Fahrspuren kombiniert werden.

Kobiela: "Bis 2035 sollten fast nur noch batterie-elektrische und deutlich kleinere Pkw auf den Straßen unterwegs sein." Dafür bedarf es einer Steigerung der Zulassung von Elektroautos auf zwei Millionen pro Jahr. Deutlich höhere Kraftstoffpreise könnten für die Durchsetzung ein Hebel sein, müssten aber ggf. sozial abgefedert werden.

Flugverkehr: Hier schlagen Kobiela und seine Ko-Autoren eine Abschaffung von Inlandsflügen, ein Viertel weniger internationale Starts und Landungen und statt dessen mehr Schiene in Europa und mehr online-Konferenzen vor. "Die Steuerbefreiung von Flugbenzin und Subventionen für Regionalflughäfen sollten rasch beendet werden", so der Physiker und Ökonom.

Eingreifen in den Wahlkampf

Für FFF-Sprecherin Carla Reemtsma zeigen die Ergebnisse der Wuppertaler, dass alle demokratischen Parteien weit von der Erfüllung der Pariser Ziele entfernt sind. "Spätestens ab heute kann kein Politiker und keine Politikerin mehr behaupten, von den eigenen klimapolitischen Verfehlungen nicht gewusst zu haben."

Der klimapolitische Stillstand der letzten Jahrzehnte hat uns an einen Punkt gebracht, an dem nur noch durch größte Anstrengungen in allen Sektoren eine ausreichend schnelle Dekarbonisierung erreichen können.

Carla Reemtsma, Fridays for Future

Die Studie solle eine gesellschaftliche Diskussion über das Notwendige und die Umsetzung anstoßen. Dabei hat man offensichtlich nicht zuletzt den Bundestagswahlkampf im Sinn. Die Studie sei viel zu umfangreich für einen Wahlprüfstein, aber sie soll dazu beitragen, dass alle demokratische Parteien Paris-kompatible Parteiprogramme schreiben. Die nächste Legislaturperiode sei besonders wichtig.