Arbeit in der globalen Gesellschaft
Ein Gespräch mit Meinhard Miegel
Die Angst vor dem Verlust der Arbeitsplätze und einer zunehmenden Verarmung hat die Menschen der reichen westlichen Industriegesellschaften befallen. Tatsächlich befinden sich nach Meinhard Miegel, dem Institutsdirektor des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, die frühindustrialisierten Länder durch die Globalisierung in einem tiefgreifenden Veränderungsprozeß. Für ihn werden wir durch die stattfindenden Veränderungen zwar in einer sehr viel anderen, aber auch chancenreicheren Welt als heute leben.
Zur Zeit geht die Angst vor dem Verlust der Arbeitsplätze in Deutschland und den anderen europäischen Ländern um. Der Standort der einst reichen Gesellschaften scheint gefährdet zu sein. Die Politiker versprechen allerdings den Menschen, daß mit der Korrektur einiger Fehlentwicklungen, also z.B. den zu hohen Lohnnebenkosten, Arbeitsplätze gewahrt oder gar neue geschaffen werden können. Ist das eine berechtigte Hoffnung oder stehen wir in einer Situation, in der die Arbeit weltweit weniger wird, wir uns also mit dem Problem ganz anders auseinandersetzen müssen?
Meinhard Miegel: Weltweit sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden, von denen viele durchaus interessant, wertschöpfend und gut bezahlt sind. Ich denke hier an Länder in Südostasien oder auch in Südamerika. Dennoch erleidet die Erwerbsarbeit einen Bedeutungsverlust, den besonders frühindustrialisierte Länder in Europa, Nordamerika und Japan zu spüren bekommen. Dieser Bedeutungsverlust tritt in unterschiedlichen Formen in Erscheinung. In Europa beispielsweise nimmt das Arbeitsvolumen, gemessen in effektiv geleisteten Arbeitsstunden, fortlaufend ab. Der Rest wird immer feiner fraktioniert. Dennoch bekommen immer mehr nichts von dem Kuchen ab - die Arbeitslosen. Das ist in den USA nicht so. Hier nimmt das Arbeitsvolumen und der Erwerbstätigenanteil an der Wohnbevölkerung zu. Doch ist der Preis hierfür ein deutlicher Rückgang des Lebensstandards. Viele Amerikaner - etwa die Hälfte - müssen heute länger und härter als vor 20 Jahren arbeiten und leben dennoch schlechter als damals.
Ich sehe heute kein Land, von dem ich sagen könnte: Wenn wir es nur machten wie die, wären wir unsere Probleme los. Deshalb ist es auch völlig illusorisch anzunehmen, mit einem "Bündnis für Arbeit" und dergleichen könnten in den nächsten Jahren Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze geschaffen werden. Dafür fehlen alle Voraussetzungen, es sei denn, die Deutschen wären bereit, den amerikanischen Weg einzuschlagen und zum Teil drastische Verminderungen ihrer Erwerbseinkommen hinzunehmen. Nicht wenige Amerikaner erhalten heute für einen vollen Arbeitstag ein niedrigeres Einkommen als ein deutscher Sozialhilfeempfänger. Möglicherweise passen sich auch die Deutschen eines Tages diesem Trend an. Aber vorerst sehe ich hierfür kaum Anhaltspunkte.
Folgen der Globalisierung für den Arbeitsmarkt
Sie sagten, daß die Zahl der Arbeitsplätze weltweit nicht zurückgeht. Nun beginnt aber erst jetzt die Restrukturierung der Organisationen und Abläufe durch die computergestützten Technologien zu greifen. Das geht auch in den Dienstleistungssektor hinein, von dem man glaubte, er könne die neuen Arbeitsplätze vor allem schaffen und die in der Industrie verloren gegangenen ersetzen. Könnte nicht durch die technisch bedingte Restrukturierung und Automatisierung in den nächsten Jahren doch die Arbeit weltweit abnehmen?
Meinhard Miegel: Wie schon gesagt gibt es heute leistungsstarke Volkswirtschaften mit vielen lukrativen Arbeitsplätzen, die es vor 20 Jahren noch nicht gab. Diese Tätigkeiten liegen in allen Wirtschaftssektoren: in der Landwirtschaft, der Industrie und dem Dienstleistungsbereich. In diesen Ländern spielt sich heute ähnliches ab wie vor einem Jahrhundert in den frühindustrialisierten Ländern. Für letztere gilt: Hier schwindet lukrative Arbeit. Das gilt gerade auch für die USA, die mitunter als leuchtendes Beispiel bei der Schaffung von Arbeitsplätzen hingestellt werden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß in den USA oft nur Arbeit, die in Europa im nicht-kommerziellen Bereich erbracht wird, kommerziell geleistet wird. Ich denke an die Zubereitung von Mahlzeiten, das Parken von Autos oder die Pflege von Gärten. Zusätzliche Wertschöpfung entsteht jedoch hierdurch nicht. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall. Fest steht, daß die frühere Hoffnung, durch neue Technologien würden genügend Arbeitsplätze entstehen, die Arbeitsplatzverluste in anderen Bereichen ausgleichen könnten, getrogen hat. Stattdessen kann mittlerweile noch nicht einmal mehr ausgeschlossen werden, daß durch diese neuen Techniken, vor allem im I- und K-Bereich, der Schwund lukrativer Arbeit beschleunigt wird.
Sie meinen z.B. Asien?
Meinhard Miegel: Ja, wenn man sich anschaut, was sich in Malaysia, in Singapur oder auch in Indien tut. In Indien wurden erstmals Millionen von Arbeitsplätzen, die aus unserer Sicht als richtige Arbeitsplätze angesehen werden können, geschaffen. Die hat es vor 20 Jahren noch gar nicht gegeben. Hier entstehen Volkswirtschaften mit Arbeitsmärkten, in denen neue Beschäftigungen heranwachsen. Das betrifft nicht nur Dienstleistungen, hier werden Industriesektoren aufgebaut, in denen Millionen von Menschen beschäftigt werden und die es ebenfalls vor 20 Jahren noch nicht gab.
Was die Entwicklung bei uns angeht, so ist es sicherlich richtig, daß die alte Hoffnung, die schwindenden Arbeitsplätze im industriellen Sektor durch solche im Dienstleistungssektor zu ersetzen, getrogen hat. Wir haben in Europa einen Schwund an Arbeitsvolumen, gemessen an effektiven Arbeitsstunden. Die zusätzliche Beschäftigung, die wir in einigen Ländern in den letzten 10 Jahren geschaffen haben, beruht ausschließlich auf der immer feiner werdenden Fraktionierung eines insgesamt schwindenden Arbeitsvolumens. Wir haben also nicht zusätzliche Arbeit durch mehr Arbeit, sondern dadurch, daß ein kleinerer Kuchen weiter aufgeteilt wurde. Dieser Trend setzt sich ungebrochen fort, in beschleunigtem Tempo jetzt auch in Japan. Eine Ausnahme ist nur Amerika, das aber auch keine zusätzlichen attraktiven Arbeitsplätze geschaffen hat. Das Plus an Arbeitsplätzen beruht hier im wesentlichen auf der Umwandlung von nicht kommerziellen Tätigkeiten, also von Arbeiten, die bisher beispielsweise im privaten Haushalt verrichtet wurden, in kommerzielle. Essenzubereitung, Gartenpflege und anderes wird nicht mehr im privaten Haushalt, sondern über den Markt abgewickelt. Daraus besteht ein Gutteil des amerikanischen Beschäftigungswunders.
Kann man in dieser Umwandlung der Arbeitsverhältnisse nicht einen Prozeß sehen, Strukturen der Dritten Welt in die hochindustrialisierten Gesellschaften einzuführen?
Meinhard Miegel: Nur bedingt. Zwar werden heute auch in der dritten Welt bislang nicht-kommerzielle Tätigkeiten in kommerzielle Erwerbsarbeit überführt. Aber diese Überführung findet auf einer sehr viel elementareren Ebene als in den frühindustrialisierten Ländern statt. In der dritten Welt ist der private Haushalt noch immer die wichtigste Produktionsstätte. Nur so ist es möglich, daß beispielsweise ein Inder im statistischen Mittel im Jahr Güter und Dienste im Wert von nur einigen hundert US-Dollar erwirtschaftet. Davon könnte er auch in Indien nicht leben. Daß er trotzdem lebt, ist eben auf seine oft hohe Produktivität im nicht-kommerziellen Bereich, also im privaten Haushalt, zurückzuführen. Im Gegensatz dazu hat in den frühindustrialisierten Ländern die Bedeutung des privaten Haushalts als Produktionsstätte seit über einem Jahrhundert ständig abgenommen. Allerdings bestehen hier von Land zu Land noch immer beträchtliche Unterschiede. So werden in Europa, namentlich in Südeuropa, nach wie vor Tätigkeiten im privaten Haushalt erbracht, die in den USA auf den Markt verlagert worden sind. Das schlägt sich in den amtlichen Statistiken als großer Unterschied im Lebensstandard nieder. In Wirklichkeit sind die Lebensstandards gar nicht so unterschiedlich.
Ein System kommunizierender Röhren
Man setzt große Hoffnungen in die Einrichtung von Telearbeitsplätzen und glaubt, daß dadurch in der High-Tech-Gesellschaft neue Arbeitsplätze geschaffen werden können. Manche gehen davon aus, daß mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in Telearbeitsplätze umgewandelt werden können. Wie realistisch ist das, und welche Folgen könnte das für den Arbeitsmarkt haben?
Meinhard Miegel: Ich weiß nicht, was in 25 oder 30 Jahren sein wird. Doch wie ich schon andeutete, sehe ich nicht, warum durch diese Technologien in den kommenden 10 oder 15 Jahren das Arbeitsvolumen in den frühindustrialisierten Ländern zunehmen soll. Was allerdings möglich ist, ist eine noch feinere Fraktionierung des schwindenden Arbeitsvolumens. Denn die neuen Techniken erlauben eine immer feinere Zergliederung von Arbeitsabläufen und ermöglichen so zusätzliche Arbeitsplätze. Wenig realistisch ist demgegenüber die Vorstellung, in absehbarer Zukunft werde ein hoher Anteil der Erwerbsbevölkerung mit Hilfe der I- und K-Technik seinen Arbeitsplatz in den häuslichen Bereich verlagern. Das glauben noch nicht einmal die Anbieter dieser Techniken. Diese Techniken werden ganz ohne Zweifel das Arbeitsleben revolutionieren. Die Revolution dürfte jedoch eher schleichend sein.
Man geht davon aus, daß die Zahl der Arbeitsplätze mit festen Angestellten zurückgehen und die Zahl der Selbständigen oder Freiberuflichen stark ansteigen wird. Findet hier tatsächlich ein solcher Umschwung statt? Können die Menschen nicht mehr davon ausgehen, einen festen und gesicherten Arbeitsplatz über lange Zeit hinweg zu haben oder anzustreben?
Meinhard Miegel: Dieser Umschwung ist bereits in vollem Gange. So waren in Deutschland 1960 erst 3 v.H. aller Arbeitsplätze "irregulär", das heißt Arbeitsplätze mit Teilzeitarbeit, befristeten Arbeitsverhältnissen, geringfügiger Beschäftigung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und anderem mehr. Heute ist dieser Anteil mit rund 30 v.H. fast zehnmal so groß und das, obwohl die Erwerbstätigenquote heute nicht höher ist als damals. Jene irregulären Arbeitsplätze sind also nicht zu den regulären hinzugekommen, sondern sie sind an deren Stelle getreten. Das wird so weitergehen. Immer häufiger werden Menschen projektbezogen arbeiten. Entsprechend gering wird ihre Arbeitsplatzsicherheit sein. Viele werden hierunter leiden. Immer mehr werden aber auch lernen, die Veränderungen als Chance zu begreifen und sie zu nutzen. Die jüngere Bevölkerung beginnt bereits, sich umzustellen.
Sie sprachen zuvor von der Konkurrenz der frühindustrialisierten Ländern gegenüber den sich jetzt industrialisierenden Staaten etwa in Asien. Das ist die Folge der Globalisierung der Märkte, der wesentlich durch die neuen Telekommunikationstechnologien beschleunigt wurde. Auch der Arbeitsmarkt ist global geworden. Die Menschen, die Arbeit suchen, stehen weltweit mit allen anderen in Konkurrenz. Daraus entstehen gegenwärtig überall Ängste und wahrscheinlich sinnlose Versuche, die Grenzen dicht zu machen und die migrierenden Menschen draußen zu halten, um den Lebensstandard und die Arbeitsplätze zu sichern. Ist das eine völlig irrationale Abwehrhaltung gegenüber dem Globalisierungsprozeß, der alle territorialen Grenzen überspringt?
Meinhard Miegel: Diese Abwehrhaltung ist nicht irrational, aber im Ergebnis nutzlos. Denn Protektionismus, gleichgültig in welcher Form, bedeutet unter den sich jetzt abzeichnenden weltwirtschaftlichen Veränderungen einen empfindlichen Verlust an Lebensqualität. Die zentral-planwirtschaftlichen Staaten Mittel- und Osteuropas haben genau das vorgeführt. Sie haben sich abgeschottet und sind hieran gescheitert. Den Ländern des Westens würde es nicht anders ergehen. Denn um Grenzen effektiv dicht zu machen, müßte erstens der freie Geldumtausch beseitigt werden. Weiter müßte der freie Waren- und Reiseverkehr aufgehoben werden. Kurz: Wir müßten leben wie die Menschen in den früheren Ostblockstaaten lebten. Dann hätten wir Arbeit mehr als genug. Doch die Früchte dieser Arbeit werden kümmerlich. Die Mehrheit will das sicher nicht. Das aber heißt: Die Erwerbsbevölkerungen der frühindustrialisierten Länder befinden sich in einem System kommunizierender Röhren, in denen alles zum Ausgleich drängt - auch der Preis für Arbeit.
Der Standort, die Sicherung des Standortes, ist derzeit zur beherrschenden Metapher geworden. Wie ließe es sich denn vorstellen, den Standort Europa oder Deutschland im Hinblick auf die Arbeitsplätze zu "sichern"? Gibt es da Möglichkeiten, oder müssen wir damit rechnen, unsere Lebensstandards erheblich herunterschrauben zu müssen und in erheblicher permanenter Unsicherheit zu leben, was unser Einkommen betrifft?
Meinhard Miegel: Die großen Trends weisen derzeit in letztere Richtung. Jeder Umbruch eröffnet neue Chancen. Aber er geht einher mit Unsicherheiten und Ängsten. Das Gewohnte schwindet und das Neue ist unvertraut. Das heißt nicht, daß z.B. die Deutschen auf das materielle Niveau von Indern oder Chinesen herabsteigen müßten. Aber sie müssen sich daran gewöhnen, künftig nicht mehr Knappheitsrenditen wie in der Vergangenheit erzielen zu können. In der Vergangenheit waren das Wissen und Können, die Innovationen und die Kapitalbildung der frühindustrialisierten Länder knappe Ressourcen.
Das ist heute anders. Täglich wird die Zahl derer, die genauso qualifiziert und motiviert sind wie die Erwerbsbevölkerungen der frühindustrialisierten Länder, größer. Und auch Innovationen und Kapitalbildung sind keineswegs mehr auf die frühindustrialisierten Länder beschränkt. Der Wettbewerb wird dadurch härter. Die frühindustrialisierten Länder verlieren ihre bislang hochprivilegierten Positionen. Die Folge: Wir alle, Menschen der frühindustrialisierten, der spätindustrialisierten und der noch wenig entwickelten Länder werden künftig in einer Welt leben, die sich von der bisherigen deutlich unterscheidet. Sie wird voller Neuerungen sein. Je früher wir uns an diese Vorstellung gewöhnen, desto besser werden wir alle jene Chancen nutzen können, die sich mit den Neuerungen eröffnen.