Arbeit um jeden Preis

Vollbeschäftigung zum Billiglohn: Müssen wir uns von der Idee der "guten Arbeit" verabschieden?

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Mehr als jeder fünfte abhängig Beschäftigte gehört mittlerweile zu den Geringverdienern. Ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht, trotzdem kursiert das Zauberwort von der nahenden „Vollbeschäftigung“.

Wer die aktuellen Diskussionen über die wirtschaftliche Lage und die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt verfolgt, fühlt sich unweigerlich an einen Satz des kaum noch zitierfähigen Karl Marx erinnert. Denn nur die seinerzeit provokante Rede vom Sein, das mit seinen erdrückenden Tatsachenbefunden das Bewusstsein des Menschen bestimmt, vermag hinreichend zu erklären, warum die einen von Aufschwung und nahender Vollbeschäftigung reden, während die anderen keine klare Vorstellung mehr davon haben, wie sie trotz Fulltimejob auch nur einen bescheidenen Lebensunterhalt finanzieren sollen.

Nach der am vergangenen Freitag veröffentlichten und seitdem viel diskutierten Studie (PDF-Datei) der Universität Duisburg-Essen arbeiteten im Jahr 2006 bereits 6,5 Millionen und damit 22 Prozent aller abhängig Beschäftigten zu sogenannten Niedriglöhnen, die seit 2004 überdies kontinuierlich gesunken sind. Die durchschnittliche Bezahlung in diesem Bereich liegt nach Auskunft der Autoren Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf in Westdeutschland derzeit bei 6,89 Euro, in den ostdeutschen Bundesländern bei 4,86 Euro.

Bei einer vierzigstündigen Wochenarbeitszeit ergibt sich so ein Monatslohn von gut 1.100 Euro beziehungsweise rund 800 Euro. Die monatliche Differenz ist marginal im Vergleich zum Unterschied, der Billiglohnempfänger und Spitzenverdiener voneinander trennt, beträgt zwischen Ost- und Westdeutschland aber immerhin mehr als 300 Euro.

Das Problem einer „Armut trotz Vollzeitarbeit“ ist seit vielen Jahren bekannt) (PDF-Datei), für mehrere Branchen gut dokumentiert entfaltet jetzt aber offenbar eine besondere Dynamik. Doch damit nicht genug: Die Zahl der Beschäftigten mit Bruttostundenlöhnen von bis zu 5 € ist nach Erkenntnissen des federführenden Instituts Arbeit und Qualifikation von 1,5 Millionen im Jahre 2004 auf 1,9 Millionen im Jahre 2006 gestiegen.

In der erweiterten historischen Perspektive nehmen sich die Zahlen noch dramatischer aus: Seit 1995 ist der Niedriglohnanteil in Deutschland um gut 43 Prozent angewachsen, und die jeweilige Lohnuntergrenze kann immer neu definiert werden. Der Staat übt in diesem Bereich offenbar eine Vorbildfunktion aus, wie das Beispiel der zahllosen Ein-Euro-Jobber zeigt, die trotz guter Leistungen und viel Engagement von vornherein keine Chance auf eine feste Anstellung haben.

Offenbar wächst also nicht nur der Umfang des Niedriglohnsektors in Deutschland, sondern es gibt auch deutliche Anzeichen dafür, dass sich das Lohnspektrum nach unten weiter ausdehnt.

Institut Arbeit und Qualifikation

Mythos Vollbeschäftigung oder: „Wohlstand und Arbeit für Alle“

„Wir halten am Ziel der Vollbeschäftigung fest. Arbeit bedeutet Teilhabe, gesellschaftliche Anerkennung und persönliche Selbstverwirklichung“, erklärten die Sozialdemokraten Anfang des Jahres per Beschluss des SPD-Parteivorstandes. Einen Monat später hielt Olaf Scholz dieses Ziel bereits für „erreichbar“. „Ich möchte, dass kein Bürger im Land länger als ein Jahr arbeitslos ist“, gab der Bundesarbeitsminister zu Protokoll. Mitte April wurde der Aufruf des SPD-Präsidiums zum 1. Mai unter dem Motto „Vollbeschäftigung ist möglich“ veröffentlicht, und bei der Konferenz der Dortmunder SPD am 19. April stellte Außenminister Frank-Walter Steinmeier bereits verblüfft fest:

Vor zwei Monaten habe ich zum ersten Mal das Wort „Vollbeschäftigung“ wieder in den Mund genommen. Seitdem hat es eine erstaunliche Verbreitung gefunden - der Bundeswirtschaftsminister spricht plötzlich davon, und diese Woche sogar der Bundespräsident. Wir Sozialdemokraten freuen uns über jede Unterstützung! Und ich bin überzeugt, dass wir dieses Ziel in den nächsten zehn Jahren erreichen können, wenn wir entschlossen eine richtige Politik für Wachstum und Arbeit machen.

Frank-Walter Steinmeier

Auch für den aktuellen Regierungspartner gehört die Vollbeschäftigung zu den „Kernzielen der Sozialen Marktwirtschaft“, die da lauten: „Wohlstand und Arbeit für Alle“. Die Christdemokraten machen allerdings keinen Hehl daraus, dass die Bereinigung der Arbeitslosenstatistik darüber hinaus zu einer „Korrektur“ des Parteienspektrums führen soll.

Nimmt die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter ab und nähern wir uns dem Ziel der Vollbeschäftigung, dann wird die Linke sowieso ein Übergangsphänomen bleiben.

Roland Pofalla, CDU-Generalsekretär

Ralf Brauksiepe, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, würde die vermeintlich positiven Zahlen der Bundesagentur für Arbeit denn auch gern für die eigene Leistungsbilanz verbuchen.

Wir haben 1,6 Mio. Menschen aus der Arbeitslosigkeit geholt, jeden Tag entstehen 1.400 neue Arbeitsplätze. In einigen Regionen Deutschlands herrscht bereits Vollbeschäftigung. Wir wollen das überall schaffen und werden deshalb Kurs halten.

Ralf Brauksiepe

In einem wesentlichen Punkt unterscheiden sich die Koalitionspartner allerdings. Die SPD plädiert für einen flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohn, den die CDU mit deutlicher Mehrheit ablehnt. Die Christdemokraten wollen stattdessen weiter Beschäftigungsimpulse setzen, etwa durch die Ausdehnung des Zeitarbeitssektors, und die Frage der Entlohnung den Tarifparteien überlassen.

Deregulierung, Outsourcing und Lohnabschläge

Das Problem ist nur: die abhängig Beschäftigung können in vielen Bereichen keine Interessenvertretung mehr aufbieten und müssen sich allein an den Angeboten der Arbeitgeber orientieren. Überdies hat der Europäische Gerichtshof der öffentlichen Hand jüngst untersagt, die Vergabe von Aufträgen zwingend an die Einhaltung von Tarifverträgen zu koppeln.

Folgerichtig wächst der Anteil der Billiglöhne vor allem in den Branchen, in denen das Lohnniveau ohnehin schon unterdurchschnittlich niedrig ist. Durch die von der Politik beschlossene und schnell umgesetzte Deregulierung der Zeitarbeit, intensives Outsourcing und häufige Lohnabschläge bei Minijobs dürfte sich der Abwärtstrend auch in naher Zukunft weiter fortsetzen.

Die Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation beleuchtet in diesem Zusammenhang einen bislang wenig beachteten Aspekt. Die Ausdehnung des Niedriglohnbereichs, in dem übrigens immer mehr Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung (1995: 58,6 Prozent – 2006: 67,5 Prozent) arbeiten, zieht auch langjährige, feste und tariflich abgesicherte Arbeitsverhältnisse in Mitleidenschaft.

Durch billigere Minijobber/innen, aber auch Zeitarbeitskräfte und die Möglichkeit des Outsourcing von Tätigkeiten in Bereiche ohne Tarifbindung oder mit niedrigen Tariflöhnen ist das Lohngefüge am unteren Rand des Lohnspektrums erheblich unter Druck geraten. Um Arbeitsplätze im Betrieb zu halten oder zurück zu gewinnen, sehen sich Gewerkschaften und Betriebsräte häufig gezwungen, der Streichung von Zuschlägen, der Verlängerung von Arbeitszeiten oder der Kürzung von Löhnen zuzustimmen.

Institut Arbeit und Qualifikation

Internationale Vergleiche

Seit Pisa & Co. hat sich Deutschland daran gewöhnt, internationale Leistungsvergleiche aus der Perspektive des Nachzüglers zu betrachten. Der Bereich der Niedriglohnentwicklung macht da keine Ausnahme. Nach den Berechnungen von Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf weist Deutschland mittlerweile den höchsten Niedriglohnanteil unter den kontinental-europäischen Ländern auf und hält Kurs auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten, für die ein Wert von rund 25 Prozent angenommen wird. Die sich hier abzeichnende Tendenz scheint von noch größerer Bedeutung zu sein als die bloßen Zahlen, denn der Niedriglohnsektor wurde in den vergangenen Jahren in keinem Land so stark ausgebaut wie in Deutschland.

Auch die Absenkung der Löhne ist vergleichsweise beispiellos. Kalina und Weinkopf führen diese Entwicklung auf den Umstand zurück, dass in vielen anderen europäischen Ländern bereits gesetzliche Mindestlöhne zwischen 8 und 9 Euro eingeführt oder entsprechende Vereinbarungen zwischen den Tarifparteien getroffen wurden.

Arbeit um jeden Preis

Wer all diese Zahlen unvoreingenommen betrachtet, muss feststellen, dass unter den momentanen Umständen eine Vollbeschäftigung nur dann erreicht werden kann, wenn sich die Beschäftigten von der Idee der „guten Arbeit“ im Sinne einer erfüllenden, persönlichkeitsbildenden und angemessen bezahlten Beschäftigung weitgehend verabschieden. Nach Erkenntnissen des Deutschen Gewerkschaftsbundes haben die meisten das ohnehin schon getan – und zwar auch dann, wenn sie mit dem Billiglohnbereich (noch) nicht konfrontiert werden.

Glaubt man dem DGB-Index 2007, empfinden nur 12 Prozent ihre Tätigkeit als „gute Arbeit“. 34 Prozent sprechen explizit von „schlechter Arbeit“ und 54 Prozent sind der Meinung, dass sie ihr Geld unter mittelmäßigen Arbeits- und Einkommensbedingungen verdienen.

Die „Initiative Neue Qualität der Arbeit“, die von Bund, Ländern, Sozialpartnern, Sozialversicherungsträgern, Stiftungen und Unternehmen unterstützt wird, beurteilt die Lage in einer aktuellen Broschüre grundsätzlich positiver, hat hinsichtlich der namensstiftenden „Qualität der Arbeit“ aber ebenfalls noch zahlreiche Defizite ausgemacht. Für den langfristigen Erfolg sei schließlich entscheidend, ob diese Maxime auch in den Unternehmen und bei den Arbeitnehmern verankert werde.

Hier haben auch die deutschen Betriebe noch deutliches Verbesserungspotenzial: In Bezug auf die Unternehmenskultur und das Mitarbeiterengagement besteht vielerorts Handlungsbedarf. Dass gehandelt werden muss, ist dabei umso offensichtlicher, seit der Zusammenhang zwischen Engagement und Unternehmenserfolg wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte.

Initiative Neue Qualität der Arbeit

Bis sich auch die Billiglohnempfänger über solche Feinheiten Gedanken machen können, wird noch viel Zeit vergehen. Und so lange sind sie die großen Verlierer des sogenannten Wirtschaftsaufschwungs, glaubt Rudolf Hickel, der einen Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen innehat und hier auch das Institut Arbeit und Wirtschaft leitet. Der streitbare Professor hält „Arbeit um jeden Preis“ für das dominierende Prinzip einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die sich von „tariflich abgesicherter und damit angemessen bezahlter Vollzeit-Vollbeschäftigung“ verabschiedet hat.

Und der Preis, den ein wachsender Teil der Beschäftigten für diese Illusion zu bezahlen hat, ist hoch. Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten sank von 1985 mit 67 Prozent auf 58 Prozent im Jahr 2005 und das Gewicht der unregelmäßigen oder geringfügig Beschäftigten hat zugenommen. Dieser Umbau dient der Durchsetzung von Entlohnungsverlusten früher Vollbeschäftigter. Insoweit hat sich die Massenarbeitslosigkeit für nutznießende Unternehmen ausgezahlt.

Rudolf Hickel

Hickel plädiert in dieser prekären Lage für eine „Reregulierung“ der Arbeitsmärkte.

Die jetzt gepriesene vermeintliche Vollbeschäftigung soll von einer aktiven Politik für vollwertige Vollbeschäftigung ablenken: Dafür müssten die Arbeitsmärkte per starkem Tarifvertragssystem und flächendeckendem Mindestlohn rereguliert und die Binnenwirtschaft durch expansive Lohnpolitik gestärkt werden. Die Finanzpolitik müsste Produktion und Beschäftigung durch öffentliche Investitionen für künftige Generationen stärken. Hinzukommen muss eine Politik der Arbeitszeitverkürzung, die Jobverluste durch Rationalisierungen in Unternehmen auffängt.

Rudolf Hickel

Hickels Vorschläge vertragen sich kaum mit dem Bestreben einer langfristigen Haushaltskonsolidierung, die derzeit von einem sozialdemokratischen Finanzminister vorangetrieben wird. Bis 2011 will Peer Steinbrück Ausgabendisziplin üben und ein Ende der Neuverschuldung erreichen. Ob sein Motto "Deutschland schafft die Null" dann tatsächlich nur für die Staatsfinanzen oder auch gleich für die Lohnentwicklung gilt, bleibt abzuwarten.