Arbeitszeiterfassung: Lücken bei Umsetzung und Ausgestaltung
Das spanische Dekret bietet wenig Arbeitnehmerschutz. Gemessen am Urteil des Europäischen Gerichtshof ist es ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte
Es war der internationale Frauenkampftag in Spanien. Während Millionen Frauen auf die Straße gingen und streikten, beschloss der Ministerrat noch eilig, dass die Arbeitszeiten zukünftig im Land umfassend erfasst werden müssen.
Dabei war die spanische Regierung schon über ihre Dialogunfähigkeit gestürzt und aufgelöst, vorgezogene Neuwahlen für den 28. April waren schon angesetzt. Trotz allem wurden eilig noch Dekrete verabschiedet. Das Dekret zur Arbeitszeiterfassung wurde am 12. März im Gesetzesblatt (BOE) veröffentlicht, ohne jede vorherige Debatte im Parlament. Die Unternehmen im Land bekamen einen Zeitraum von zwei Monaten eingeräumt und müssen nun offiziell seit dem 12. Mai die geleisteten Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten dokumentieren.
Zwischen 2,4 und 3,9 Millionen wöchentlich unbezahlte Überstunden
Dass Maßnahmen nötig sind, da ist man sich in dem Land weitgehend einig. Nach Angaben der Statistikbehörde bewegte sich die Zahl der wöchentlich unbezahlten Überstunden in den letzten Jahren zwischen 2,4 und 3,9 Millionen jede Woche. Das entspricht bis zu 100.000 Vollzeitstellen und ein Lohnausfall von etwa zwei Milliarden Euro pro Jahr mit den entsprechenden Ausfällen für die Steuer- und Sozialkassen.
Bei mehr als der Hälfte aller Beschäftigten übersteigt die Wochenarbeitszeit sogar die Hürde von 40 Stunden und knapp 50% aller geleisteten Überstunden werden nach Angaben der Statistiker nicht entlohnt. Allein zwischen Januar und März sollen es mehr als 34 Millionen Stunden sein, war das Ergebnis der letzten Statistik. Und das erlaubt sich Spanien bei einer Arbeitslosenquote von 14%, die in Europa nur von Griechenland übertroffen wird.
Dass die Arbeitszeiten kontrolliert (und eigentlich auch bezahlt) werden müssten, daran besteht eigentlich ohnehin kein Zweifel mehr. So hat auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) vergangene Woche die Notwendigkeit für eine Umsetzung einer Arbeitszeitkontrolle für die gesamte EU bestätigt.
Der Gerichtshof stellt fest, dass ohne ein System, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann, weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden kann, so dass es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich ist, ihre Rechte durchzusetzen.
EuGH
Die objektive Bestimmung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit sei zur Feststellung der Höchstarbeitszeit und der Ruhezeiten aber unerlässlich, erklärt der EuGH in Luxemburg.
Um die praktische Wirksamkeit der von der Arbeitszeitrichtlinie und der Charta verliehenen Rechte zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
EuGH
Klage gegen die Deutsche Bank
Geklagt hatte die spanische Gewerkschaft CCOO gegen die Deutsche Bank. Doch ausgerechnet diese Gewerkschaft ist mit dem Dekret, das im Wahlkampf mit der heißen Nadel von den Sozialdemokraten (PSOE) gestrickt wurde, nicht zufrieden. "Verworren" nennt die Sekretärin für Gewerkschaftsaktion Mari Cruz Vicente den Text.
Der Spiegel behauptet allerdings, unter Bezug auf nicht genannte "Experten", es handele um eines der "strengsten" Gesetze der Welt. Tatsächlich werden praktisch keine Ausnahmen gemacht und es werden massiv Daten erhoben, die vier Jahre gespeichert werden müssen. Doch Umsetzung und Ausgestaltung sind weitgehend offen.
Ob es sich wirklich um eines der strengsten Gesetze handelt, muss sich also noch herausstellen. Bisher besteht mehr Unklarheit als Klarheit. Nicht nur die CCOO sondern auch Arbeitsrechtler argumentieren, dass sogar unklar ist, ob das Dekret nun tatsächlich zwingend seit dem 12. Mai umgesetzt werden muss.
Man wisse nicht, ob mit den Betriebsräten und Gewerkschaften "die Maßnahmen ausgehandelt oder sie schlicht informiert werden müssen", sagt auch die CCOO-Sprecherin Cruz Vincente, deren Gewerkschaft der sozialdemokratischen Regierung nahesteht. Tatsächlich hat die Arbeitsministerin weitere Zweifel nach dem Stichtag genährt. Magdalena Valerio erklärte, man werde "Spielraum" einräumen, wenn in der Firma verhandelt wird.
"Was ist mit den Pausen?"
Ob diese Verhandlungen notwendig sind, ist auch der Vereinigung der Prüfer angesichts der unklaren, verworrenen und unkonkreten Formulierung des Dekrets nicht wirklich klar. Sie gehen einstweilig davon aus, dass kein Grund für eine Sanktion besteht, wenn Verhandlungen über die Ausgestaltung laufen. Denn das Dekret sagt kryptisch, dass die Arbeitszeiterfassung "über Verhandlungen" organisiert und dokumentiert wird "oder, wenn dies nicht der Fall ist, über eine Entscheidung des Unternehmers nach "Konsultation" der Arbeitnehmervertreter.
Auch die Umsetzung gibt allen Beteiligten viele Rätsel auf. Denn wie die Arbeitszeit erfasst werden soll, wurde auch nicht bestimmt, sonst hätte man die Regierung als "inflexibel" kritisiert. So sorgen sich die Unternehmer zum Beispiel, dass nur "Beginn und das Ende des Arbeitstages" dokumentiert werden muss. Was ist mit Pausen, die nicht entlohnt werden, fragen sie unter anderem.
Vermutlich wusste auch die Regierung bei der Verabschiedung etlicher Dekrete im Wahlkampf nicht, wie sie real umgesetzt werden sollen. Es war auffällig, wie oft die Sozialdemokraten insgesamt Gesetze dekretiert haben und sogar noch viele Dekrete verabschiedet haben, als das Parlament schon aufgelöst war.
Monatelang wurden zuvor Problemfelder nicht angegangen und im Parlament nicht über dringende Fragen debattiert. Und bei der Arbeitszeiterfassung stellen sich in der heutigen Gesellschaft und Arbeitswelt viel Fragen. Oft kommen Beschäftigte heute nicht mehr an einer Stechuhr in der Firma vorbei. Wie werden zum Beispiel Bauarbeiter auf der Baustelle, Außendienstmitarbeiter oder Beschäftigte im Homeoffice erfasst?
Keine gesellschaftliche Debatte zu wichtigen Fragen
Es gäbe eine Menge praktischer und rechtlicher Komplikationen, erklärt deshalb auch die CCOO-Sprecherin. Werden digitale Fingerabdrücke eingeführt, die Beschäftigten zukünftig über eine Telefon-App mit Geolokalisation kontrolliert? "Da werden viele sensible Daten produziert", weist sie auf nur ein Problemfelder hin.
Über solche Fragen und Probleme fand praktisch keine gesellschaftliche Debatte statt. Und diese sensiblen Daten müssen natürlich auch gemäß den Datenschutzrichtlinien lange Zeit sicher aufbewahrt werden. Eine teure Herkulesaufgabe für eine kleine Bar, einen Friseursalon oder die Metzgerei an der Straßenecke. Ohnehin oft angeschlagen, fürchten etliche um ihre Existenz, da zusätzlicher Verwaltungs- und Sicherungsaufwand anfallen und Strafen drohen.
Es geht dem spanischen Staat mit seinen leeren Sozialkassen mit dem Dekret natürlich auch darum, das Hinterziehen von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen zu erschweren. Es ist in vielen Jobs in Spanien üblich, dass die Beschäftigten offiziell nur halbtags beschäftigt sind, aber den ganzen Tag arbeiten und nicht selten sogar mehr als acht Stunden.
Das gilt oft im Dienstleistungssektor, der Tourismusindustrie und in vielen kleinen Betrieben. Aber auch hier ist kaum Änderung zu erwarten. Dass Strafen zwischen 626 und 6.250 Euro tatsächlich abschrecken, darf bezweifelt werden, da zudem bekannt ist, dass Kontrollkapazitäten fehlen.
Reales Umsetzungsproblem
Weiterhin können sich Chefs eine deutlich geringere Stundenzahl von den Beschäftigten täglich abzeichnen lassen, wie es derzeit zum Teil schon über einfache Listen geschieht. Real werden dann auch keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge für die real geleistete Arbeit abgeführt und weiterhin werden den Beschäftigten die Überstunden auch nicht bezahlt.
"Wir haben ein reales Umsetzungsproblem, wenn es keine Bereitschaft der Firma gibt", erklärt der Sprecher der Gewerkschaft UGT, Gonzalo Pino. Die ohnehin längst überbordendende spanische Bürokratie wird weiter aufgebläht.
Freiwillige Verzichte ...
Gewerkschaften berichten längst zum Beispiel von Beschwerden von Hotelangestellten auf der Ferieninsel Mallorca. Manche Hotels hätten von ihren Angestellten verlangt, dass Dokumente mit Arbeitszeiten unterschrieben werden, die nicht der Realität entsprächen. Erfahrungsberichte von Zeitungen in der ersten Woche seit Einführung der Arbeitszeiterfassung zeigen auch, dass die Beschäftigten zum Teil sogar gezwungen werden, "freiwillig" auf die Bezahlung von Überstunden zu verzichten.
... und Tricks
"Das wird nicht viel nutzen, das kann sehr leicht ausgetrickst werden", meinen Beschäftigte zu dem Dekret. Eine Einzelmeinung ist das nicht, wie auch Telepolis in Erfahrung bringen konnte. In einem Geschäft erklärt eine Beschäftigte, dass auch weiter zum Teil der Lohn unter der Hand - frei von Steuern und Sozialabgaben - ausbezahlt werden wird. "Wer bisher die Überstunden nicht bezahlt hat, wird sie auch weiterhin nicht bezahlen", meint ein anderer Beschäftigter.
Und an diesen Berichten und Aussagen zu dieser Frage ist auffällig, dass die nie mit dem Namen genannt werden, die als Arbeitnehmer über diese Vorgänge berichten. Das hat aber nichts mit ihrer Ehrlichkeit oder Wahrheitstreue zu tun. Das Problem liegt an einer ganz anderen Stelle. Warum sich die Beschäftigten meist gegen illegale Praktiken nicht wehren, ist auch dem über zwei Arbeitsmarktreformen praktisch abgeschafften Kündigungsschutz zu verdanken.
Und diese Tatsache wird von den beiden großen Gewerkschaften, angesichts einer ihnen nahestehenden sozialdemokratischen Regierung, nun kaum angesprochen. Das Versprechen, die Reform der rechten Vorgänger ganz zu schleifen, wurde bisher von den Sozialdemokraten nicht einmal angegangen. Über solche halbgaren Dekrete soll der Eindruck erweckt werden, man würde die Arbeitnehmerrechte stärken.
Befristete Verträge
Auch der UGT-Sprecher Pino spricht nur leise von der Arbeitsmarktreform. Nur hat man sich schon der Wortwahl der Regierung angepasst und will nur noch die "besonders schädlichen" Auswirkungen der letzten besonders aggressiven Arbeitsmarktreform der Konservativen beseitigt wissen. Dabei zogen CCOO und UGT auch im Generalstreik gegen die Reform der Sozialdemokraten 2010 in Feld, mit der der Kündigungsschutz längt weitgehend ausgehebelt wurde.
Es waren diese Reformen, die die Prekarisierung der Beschäftigung massiv vorangetrieben haben. Beschwert sich ein Beschäftigter heute oder klagt per Gericht zum Beispiel die Überstunden ein, wird er einfach auf die Straße gesetzt oder sein befristeter Vertrag nicht verlängert. In Spanien werden derzeit 90% aller neuen Verträge nur noch befristet geschlossen. Fast ein Drittel hat eine Laufzeit von weniger als einer Woche.
Mehr als 22% aller Verträge sind heute in Spanien schon befristet. Vor etwa fünf Jahren waren es noch weniger als 20%. Verkauft wurden aber Arbeitsmarktreformen, um Festanstellung zu fördern. Sie haben das Gegenteil bewirkt, können also getrost wegen ihrer Unwirksamkeit geschleift werden. Die Quote der befristeten Beschäftigung ist in Spanien doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt.
Und dieser Missbrauch findet auch im öffentlichen Sektor statt, weshalb erwartet wird, dass der Europäische Gerichtshof Spanien verurteilen und verpflichten wird, die vielen befristeten Stellen (mehr als eine halbe Million) in unbefristete umzuwandeln.
Kündigungsschutz
Wer also will, dass Ganztagsverträge nicht als Halbtagsverträge laufen, dass Überstunden bezahlt und Arbeitsrechte eingehalten werden und die entsprechenden Abgaben in die Staatskassen fließen, muss vor allem einen Kündigungsschutz schaffen. Das Fatale an dem Dekret der Arbeitszeiterfassung ist auch, dass nun geleisteten Überstunden nicht automatisch bezahlt werden, wenn sie festgestellt werden.
Das System führt nur im besten Fall dazu, dass der Beschäftigte eine Chance hat, sie einklagen zu können. Und nur dann hat auch der Staat höhere Einnahmen. Dieses Risiko werden auch in Zukunft viele Menschen bei der hohen Arbeitslosigkeit und dem praktisch inexistenten Kündigungsschutz nicht eingehen.
Die praktische Wirkung einer Wahlkampfmaßnahme dürfte sich, bis auf die Tatsache, dass die ohnehin extreme Bürokratie weiter aufgebläht wird und Kleinbetrieben die Existenz weiter erschwert wird, in engen Grenzen halten. Das spanische Beispiel zeigt angesichts des EuGH-Urteils jedenfalls, wie man es besser nicht macht.