Armut in Deutschland: Realität für 14,2 Millionen Menschen oder statistische Spielerei?

Ein leerer Einkaufswagen. Lebenshaltungskosten und Kaufkraft sind entscheidende Faktoren für spürbare Armut. Symbolbild: Pixabay Licence

Lebenshaltungskosten und Kaufkraft sind entscheidende Faktoren für spürbare Armut. Symbolbild: Pixabay Licence

Wirtschaftsliberale Medien stellen Paritätischen Armutsbericht infrage. Was ist an der Kritik dran und welche Rolle spielt die Kaufkraft?

Sozialverbände sprechen von einer Schande für ein reiches Land wie Deutschland: Laut Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands ist die Zahl der Menschen, die in Deutschland in Armut lebten, im Jahr 2022 auf 14,2 Millionen gestiegen.

Somit waren 16,8 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen – fast eine Million mehr Menschen als vor der Corona-Krise im Jahr 2019 und 2,7 Millionen mehr als 2006.

Fast zwei Drittel der Armen sind nicht arbeitslos

Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach (wenn auch nicht alle in Vollzeit) oder sind in Rente oder Pension. Rund 20 Prozent der Armen sind Kinder.

Dabei zeigten sich große regionale Unterschiede: Während in Bayern jede achte Person von Armut betroffen ist, ist es in Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Hamburg jede fünfte Person, in Bremen sogar fast jede dritte.

Im Vergleich zum Vorjahr sei die Armutsquote in Berlin besonders stark gesunken (von 20,1 auf 17,4 Prozent), während sie in Hamburg, in Schleswig-Holstein und im Saarland besonders stark gestiegen sei, teilte der Paritätische am Dienstag mit. Dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider nannte die Befunde "durchwachsen". Einen Grund zur Entwarnung gebe es aber nicht.

Armut in Deutschland: Keine echte Trendwende in Sicht

So scheine der Trend stetig wachsender Armut auf Bundesebene zwar auf den ersten Blick gestoppt, aber noch lange nicht gedreht. Im Vergleich zum zweiten Corona-Jahr 2021, als die Armutsquote mit 16,9 Prozent einen Höchststand erreicht hat, ging sie nach Zahlen des Paritätischen Gesamtverbands 2022 nur um 0,1 Prozentpunkte zurück.

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, nannte es am Dienstag "eine Schande für so ein reiches Land wie Deutschland", dass hier jedes fünfte Kind von Armut betroffen sei. "Der neue Höchststand zeigt, dass Hilfen offenbar nicht dort ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden."

Doch die bei Wirtschaftsliberalen gängige Infragestellung der Definition von Armut ließ nicht lange auf sich warten. Sie bemisst sich am mittleren Einkommen, das aber nicht mit dem Durchschnittseinkommen zu verwechseln ist.

Der Mittelwert, an dem die Armutsquote gemessen wird

Es wird also nicht das Einkommen aller Haushalte addiert und das Ergebnis dann durch die Zahl der Haushalte geteilt, sondern der Mittelwert (Median) wird, errechnet, indem alle Haushalte nach Einkommen der Reihe nach geordnet werden, wobei das Einkommen des Haushalts in der Mitte den Median darstellt.

Nach einer EU-Konvention wird die Grenze zur Armutsgefährdung bei 60 Prozent dieses Mittelwerts gezogen. Die Armutsgefährdungsschwelle lang demnach 2022 für Single-Haushalte bei 1.186 Euro, für Alleinerziehende mit einem kleinen Kind bei 1.542 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 2.490 Euro.

Die Ökonomin Dorothea Siems zieht in der Tageszeitung Die Welt diese Definition von Armut in Zweifel:

Bei diesem relativen Armutsbegriff geht es jedoch nicht um eine existenzielle Armut, wie es sie in Entwicklungsländern gibt, sondern um die Einkommensverteilung. Wenn alle Menschen in Deutschland mit einem Schlag doppelt so viel Einkommen zur Verfügung hätten, bliebe der Anteil der Armutsgefährdeten exakt gleich.

Dorothea Siems, Welt.de

Inflation: Die Reallöhne sind gesunken

Sicher: Wenn sich die Lebenshaltungskosten nicht ebenfalls verdoppeln würden, gäbe es natürlich auf einen Schlag viel weniger Menschen in spürbarer Armut. Aber wie realistisch ist eine solche Entwicklung, wenn der bisherige Trend genau in die andere Richtung zeigt?

Die Reallöhne, also das Geld, das Erwerbstätigen inflationsbereinigt zur Sicherung ihres Lebensstandards zur Verfügung steht, sind 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 4,1 Prozent gesunken.

Wer in einer Großstadt eine Mietwohnung sucht, wird außerdem feststellen, dass viele der Angebotsmieten bei weit über einem Drittel des Medianeinkommens liegen. Wer nur 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat, könnte am Ende des Monats durchaus Probleme bekommen, den Kühlschrank zu füllen. Da Vermieter das wissen, wollen sie von Interessierten auch häufig Gehaltsnachweise oberhalb des Medianeinkommens sehen.

Was Armut im Alltag für Betroffene bedeutet, beschreiben einige von ihnen anhand konkreter Beispiele unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen in sozialen Netzwerken.

Hierzu fehlen Daten: Kaufkraftbereinigte regionale Armutsquoten

Ein Kritikpunkt, den der Paritätische in Sachen Armutsdefinition als diskussionswürdig bezeichnet, sind die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in verschiedenen Städten und Regionen. "Das Problem liegt allerdings darin, dass eine tragfähige Kaufkraftbereinigung regionaler Armutsquoten mangels geeigneter Daten trotz wissenschaftlichen Fortschritts in diesem Bereich derzeit schlicht nicht möglich ist", erklärt der Sozialverband.