Asyldebatte: Muss das Grundrecht bald wieder unters Messer?
Nach Schuldzuweisungen zeichnet sich Einigung ab: Lindner scheint fast sicher zu sein, dass auch die Grünen mitmachen würden. Bei wem die Debatte üble Erinnerungen weckt.
Nach Schuldzuweisungen sowohl innerhalb der Ampel-Koalition als auch zwischen Regierungsparteien und Union deutet sich eine Einigung an, die für Asylsuchende die Chancen auf ein Bleiberecht in Deutschland verschlechtern dürfte. Innerhalb der Ampel-Koalition hatte am Samstag zunächst die FDP die Grünen wegen ihrer mutmaßlich zu liberalen Haltung attackiert:
"Ob bei Reformen auf europäischer Ebene oder bei der Einstufung der sicheren Herkunftsländer: Die Grünen sind in der Migrationspolitik ein Sicherheitsrisiko für das Land und erschweren durch realitätsferne Positionen konsequentes Regierungshandeln und parteiübergreifende Lösungen", sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai am Samstag der Deutschen Presse-Agentur.
Habeck offen für "moralisch schwierige Entscheidungen"
Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zeigte sich jedoch offen für "moralisch schwierige Entscheidungen" in der Asylpolitik. Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland verwies er auf die Überlastung der Kommunen. Zugleich betonte er, es sei bereits "schwierig für viele Grüne" gewesen, dass die Ampel-Regierung dem Gemeinsamem Europäischen Asylsystem Geas zugestimmt habe – und damit unter anderem der Verlagerung von Asylverfahren an den Außengrenzen der EU.
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Auch die Grünen müssten "die Wirklichkeit annehmen und die konkreten Probleme lösen – auch, wenn es bedeutet, moralisch schwierige Entscheidungen zu treffen", erklärte Habeck.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) interpretiert das bereits als Ankündigung, notfalls auch einer Grundgesetzänderung zuzustimmen, die das Asylrecht weiter beschneidet – und möglicherweise von einer ganz großen Koalition über die CDU mit Friedrich Merz an der Spitze und die CSU bis hin zur AfD abgenickt wird. Am Samstag stellte er selbst einen Bezug zu den frühen 1990er-Jahren her:
Wir brauchen eine Wende in der Migrationspolitik wie den Asylkompromiss Anfang der 1990er-Jahre. Ich begrüße, dass sowohl Robert Habeck als auch Friedrich Merz dies offenbar genauso sehen. Bei den Grünen ist das ein neuer Schritt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen. Denn für Veränderungen, die das Grundgesetz betreffen könnten, brauchen wir einen übergreifenden Konsens.
Christian Lindner, Bundesminister der Finanzen, 23. September 2023
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bekannte sich erst einmal formell zum Grundrecht auf Asyl. Er stellte aber mögliche zusätzliche Maßnahmen an der Grenze zu Polen in Aussicht und mahnte effektivere Abschiebungen an.
Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock betonte am Sonntag noch einmal, wie sehr sie schon gemeinsam mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser für "geordnete Verhältnisse" durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem kämpfe:
Gemeinsam mit Nancy Faeser kämpfe ich in Verantwortung für unsere Kommunen daher mit aller Kraft dafür, dass unsere deutschen Anliegen aufgenommen werden und es in Europa zu einem Asylsystem kommt, das auch im Krisenfall funktioniert statt Tür und Tor für Chaos zu öffnen.
Annalena Baerbock am 24. September
Dass selbst die Grünen eine solche Rhetorik übernehmen und Lindner die frühen 1990er-Jahre erwähnt, weckt bei Teilen der migrantischen Communities üble Erinnerungen. Denn damals hatten Regierende und Staatsapparat auf eine Welle der rassistischen Gewalt nicht etwa mit hartem Durchgreifen gegen militante Neonazis reagiert, sondern mit jener Verschärfung des Asylrechts, die Lindner jetzt als positives Beispiel dient.
1993 war unter anderem das Prinzip der "sicheren Drittstaaten" eingeführt worden, das die Chancen auf Asyl in Deutschland sofort drastisch reduzierte und einen Großteil der Verantwortung auf Mittelmeer-Anrainerstaaten abschob.
Opferanwalt aus NSU-Prozess warnt vor Konsequenzen der Debatte
"Wenn jemand fragt, wann gewaltsamer Protest jemals etwas gebracht hat, kann man auf den Asylkompromiss der 90er verweisen, als Nazis mordend und brandschatzend die Politik vor sich hertrieben - so nachhaltig, dass diese es sich 30 Jahre später noch zum Vorbild nimmt", kommentierte die Journalistin und Schriftstellerin Özge Inan am Samstag auf der Plattform X, ehemals Twitter.
Mehmet Daimagüler, der als Anwalt fünf Jahre lang Angehörige von NSU-Mordopfern vor Gericht vertreten hat, sieht einen Zusammenhang zwischen der damaligen Radikalisierung der Täter und der politisch-medialen Stimmungsmache im Land. Dieser Terror sei "eine Folge der politischen Debatten der 90er-Jahre" gewesen – und der Art und Weise, Menschen zu klassifizieren, schrieb Daimagüler, der heute Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus ist, an diesem Montagmorgen. "Wie wir heute debattieren und entscheiden, wird Konsequenzen haben."
Die Linke-Politikerin Clara Anne Bünger kritisierte in diesem Zusammenhang auch Baerbocks Aussage über das angeblich unvermeidliche "Chaos", wenn es keine "Reform" gebe, als "gefährliches Agenda-Setting".
Bundespolitiker, die über Bundesmittel für Integrationsmaßnahmen entscheiden, berufen sich in dieser Debatte immer wieder auf Länder und Kommunen, die in letzter Zeit verstärkt vor einer Überlastung gewarnt hatten. Bis Ende August registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr als 204.000 Erstanträge auf Asyl – 77 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Mit Folgeanträgen, die abnahmen, waren es 2023 bisher rund 220.000 Anträge und damit ein Plus von 66 Prozent. Dazu kamen mehr als eine Million Menschen wegen des Krieges aus der Ukraine, die keinen Asylantrag stellen müssen.
Laut Bundesinnenministerium werden "zusätzliche grenzpolizeiliche Maßnahmen" aktuell geprüft. Ressortchefin Nancy Faeser (SPD) sagte der Welt am Sonntag auf die Frage, ob es zu Polen und Tschechien kurzfristige stationäre Grenzkontrollen geben werde: "Aus meiner Sicht ist das eine Möglichkeit, Schleuserkriminalität härter zu bekämpfen." Entscheidend bleibe der Schutz der EU-Außengrenzen, so Faeser.
Den Vorschlag von CSU-Chef Markus Söder, eine jährliche "Obergrenze" für die Aufnahme von Geflüchteten einzuführen, lehnt die Bundesinnenministerin aber bisher ab. Das internationale Recht spreche dagegen, sagte Faeser am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will".