"Atomkraft ist Zivilisation"
Während die Lage im japanischen AKW Fukushima weiterhin kritisch ist, forcieren die osteuropäischen Regierungen den Bau neuer Atomkraftwerke
Am Mittwochabend gab die russische Gesundheits-, und Verbraucherbehörde Rospotrebnadzor wiederholt Entwarnung: An keinem der 26 Kontrollpunkte an der russischen Pazifikküste wurde erhöhte Radioaktivität gemessen. Zum Glück also weiterhin alles in Ordnung zwischen Kamtschatka und Wladiwostok, obwohl dem nicht gerade weit entfernten Japan (zwischen der Insel Sachalin und dem Unglücksreaktor Fukushima liegen knapp 1.000 Kilometer) eine atomare Katastrophe droht.
Aber was soll's, "so ist nun einmal das Leben", schrieb am Dienstag in einem Kommentar ein Autor der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti und zeigte dabei wenig Verständnis für die momentane Anti-Atomkraft-Stimmung in Westeuropa. Höhere Energiepreise und sogar Engpässe für die Wirtschaft prophezeit der Autor der russischen Nachrichtenagentur, für den es nur eine Möglichkeit gibt: Ohne Atomenergie geht es nicht, vor allem nicht in Westeuropa.
Worte, die in westeuropäischen Ohren seltsam klingen. Vor allem, weil die Osteuropäer die Gefahren der Atomkraft selbst erfahren hatten. In knapp fünf Wochen ist der 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, unter deren Folgen vor allem Weißrussland und die Ukraine bis heute zu leiden haben. Das Gebiet um den Unglücksreaktor, deren Sarkophag dringend erneuert werden muss, ist immer noch Sperrgebiet. Die Zahl der Krebserkrankungen und genetischen Schäden bei Neugeborenen liegt über den Durchschnitt.
Doch zum Umdenken hat diese Erfahrung nicht beigetragen. In Russland beispielsweise wird zwar nur 17,8 Prozent der Stromenergie durch Atomkraft erzeugt, doch weltweit ist Russland der größte Atomenergiehersteller. Und in absehbarer Zeit soll sich an dieser Dominanz auch nichts ändern. In den nächsten Jahren werden in Russland weitere Atommeiler, unter anderem in Kaliningrad, entstehen, die Energie nicht nur für den Binnenmarkt, sondern auch für den Export produzieren sollen.
Doch nicht nur Strom will Russland verkaufen. Die staatliche Agentur für Atomenergie Rosatom will auch ihr Know-how zu Geld machen und engagiert sich beim Bau von Nuklearanlagen im Ausland. Und ihren jüngsten Deal feierte sie am Dienstag. Gleich am ersten Tag des Staatsbesuches von Tayyip Erdogan in Moskau vereinbarten Russland und die Türkei eine noch engere Zusammenarbeit im Energiebereich. Dazu gehört die russische Unterstützung beim Bau der ersten Atomkraftanlage in der Türkei, die trotz aller Kritik im In- und Ausland demnächst errichtet werden soll (AKP will AKW).
Auch Weißrussland setzt trotz Erfahrung mit Tschernobyl auf ein russisches AKW
Die Vereinbarung mit der Türkei ist jedoch nicht der einzige Erfolg, den die russische Atomindustrie am Dienstag feierte. Während Präsident Medwedew den türkischen Ministerpräsidenten empfing, weilte Premierminister Wladimir Putin im weißrussischen Minsk. Das wichtigste Ergebnis dieses Besuchs war die Unterzeichnung eines Abkommens über die Errichtung des ersten Atomkraftwerks in Weißrussland, das trotz litauischer Bedenken in Ostrowez, knapp 50 Kilometer von Vilnius, entstehen und dessen erster Reaktor voraussichtlich 2016 ans Netz gehen wird.
Mit diesem Atomkraftwerk, das von der Rosatom-Tochter Atomstroiexport erbaut werden und mit einem russischen Staatskredit finanziert wird – im Januar sprach Putin von 6 Milliarden Dollar –, endet ein zweijähriges Ringen. Bereits Anfang 2009 vereinbarten die beiden Staaten den Bau der Anlage. Da es aber in den darauf folgenden Monaten zu einigen Unstimmigkeiten zwischen Moskau und Minsk kam, die im Sommer vergangenen Jahres ihren Höhepunkt fanden (Lukaschenko: Ein toter Journalist und Ärger mit Moskau), kam das Projekt zum Stocken. Erst nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen in Weißrussland begann man mit der Realisierung der Pläne.
Einen nicht unerheblichen Anteil daran hat der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko. Noch im Februar tadelte seinen Energieminister, da dieser angeblich "die Pläne hinausgezögert habe" und forderte ihn auf, zur Not das Projekt auch ohne russische Hilfe in den nächsten fünf Jahren zu realisieren. "Mit wem Sie bauen werden - mit Chinesen, Koreanern oder Russen - interessiert mich wenig. Die Arbeit muss eingeleitet werden", soll Lukaschenko auf einer Regierungssitzung gesagt haben.
Dass Lukaschenko so sehr auf Atomenergie setzt, ist wenig überraschend. Ausgerechnet mit russischer Technologie und russischem Geld versucht sich der autoritär regierende Lukaschenko zumindest energiepolitisch von Russland zu emanzipieren – ein Ziel, das er seit mehreren Jahren verfolgt. 2007 bemühte sich die weißrussische Regierung um einen Kredit bei der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds für den Bau eines Kernkraftwerks und versuchte gleichzeitig die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe herunterzuspielen. Die schon eh umstrittenen offiziellen Opferzahlen wurden gesenkt und im September 2007 wurde gar ein Gesetz verabschiedet, mit dem die Unterstützungszahlungen für die Liquidatoren und Opfer des Tschernobyl-Reaktors zeitweise eingestellt wurden. Auch die Spätfolgen der Tschernobyl-Katastrophe wurden mit dem Gesetz neu geregelt, zum Nachteil der Opfer. So wird lediglich Schilddrüsenkrebs vom weißrussischen Staat als direkte Folgeerkrankung von Tschernobyl anerkannt und zahlt dementsprechend nur diesen Erkrankten Sozialleistungen. Eine rigorose Politik, die nun Erfolg hat. Bis zu 28 Prozent der weißrussischen Stromproduktion werden voraussichtlich in dem neuen Atomkraftwerk hergestellt.
Ukraine will neun neue Reaktoren bauen, spart aber an Tschernobyl und Liquidatoren
Doch nicht nur Weißrussland bemühte sich in den letzten Jahren um neue Atomkraftwerke und musste dabei Rückschläge hinnehmen, sondern auch die Ukraine. Als Ersatz für die schrittweise Abschaltung des Atomkraftwerks in Tschernobyl, dessen letzter Reaktor 2000 vom Netz ging, plante die damalige Regierung von Präsident Leonid Kutschma seit Mitte der 90er Jahre den Bau zwei neuer AKWs in Chmelnyzkyj und Riwne. Unterstützung erhielt sie dabei ausgerechnet vom Kanzler jener Koalition, die 2000 in Deutschland den Atomausstieg beschloss. Quasi im Alleingang offeriertewww.spiegel.de/politik/ausland/a-26235.html Gerhard Schröder 1999 der Ukraine einen Kredit in Höhe von 3 Milliarden DM. Erst nachdem die Proteste aus der SPD und den Grünen immer lauter wurden, verwarf Schröder seine Kreditpläne.
Von ihren atomaren Vorhaben rückte die Ukraine dennoch nicht ab. Mit dem Bau der Anlagen in Chmelnyzkyj und Riwne wurde begonnen, lediglich die seit Jahren anhaltenden Finanzprobleme des Landes haben bewirkt, dass die beiden Kernkraftwerke bis heute nicht im Betrieb sind. Doch auch in diesem Fall kam Hilfe aus Moskau. Als Ergebnis der von dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch betriebenen Annäherung zwischen Russland und der Ukraine, sprang für Kiew nicht nur ein neuer Gaspreis heraus, sondern auch der Einstieg Russlands in die ukrainische Atomindustrie. Zwischen 2015 und 2030 will die Ukraine gemeinsam mit Rosatom neun neue Reaktorblöcke errichten, wodurch der Anteil der Atomenergie auf 70 Prozent steigern würde.
Die schrecklichen Ereignisse in Japan gehen an der ukrainischen Politik jedoch nicht spurlos vorbei. Wie der ukrainische Energieminister Juri Bojko am gestrigen Donnerstag erklärte, werde die Regierung die Ereignisse in Japan analysieren und notfalls die eigene Atompolitik revidieren. Grund dafür ist die aktuelle Forderung der Opposition, das Regierungsabkommen mit Russland über den Bau der zwei Reaktorblöcke im Atomkraftwerk Chmelnyzkyj aufzulösen. Doch sowohl die Ankündigung der Regierung als auch die Forderung der Opposition sind nichts mehr als ein weiterer Akt im ukrainischen Politzirkus. Beiden Seiten ist bewusst, dass die Ukraine 51 Prozent ihres Stroms in den vier betriebenen Kernkraftwerken produziert. Und trotz aller aktuellen Annäherung an Moskau, fürchtet auch die Regierungstruppe um Präsident Janukowitsch die Energiedominanz Russlands und verspricht sich ausgerechnet von der Atomkraft, ähnlich wie Lukaschenko teilweise finanziert vom Kreml, eine gewisse Unabhängigkeit.
Und dann gibt es noch einen anderen gravierenden Grund, der die Ukraine an ihrer Atomindustrie festhalten lässt. Das Land ist einfach finanziell zu klamm, um aus der Atomindustrie auszusteigen. Doch dies ist aber auch die größte Gefahr für die Sicherheit der ukrainischen Kernkraftanlagen. Seit der Unabhängigkeit des Landes haben die Angestellten der AKW-Betriebe wiederholt gestreikt, da sie ihre Löhne nicht ausgezahlt bekamen. Und wie leer die Kassen der Ukraine sind, zeigt Tschernobyl. Für die Schützhülle um den Unglücksreaktor werden nach Angaben der ukrainischen Regierung in diesem Jahr 125 Millionen Dollar benötigt. Doch im leeren Staatshaushalt ist für diese Zwecke nur die Hälfte der Summe vorgesehen. Und wie sehr die Regierung bei Tschernobyl spart, wurde diese Woche deutlich. Am Mittwoch demonstrierten über 1.000 Liquidatoren von Tschernobyl gegen die von der Regierung beschlossene Kürzung ihrer Renten und Einschnitten bei ihrer Medizinversorgung.
Tschechische Repuplik will AKW Temelin erweitern
Doch nicht nur in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion setzt man weiterhin auf die Atomindustrie. Auch in den ehemaligen Ostblockstaaten, die heute Mitglieder der Europäischen Union sind, spielt die Atomkraft eine wichtige Rolle. So gewinnt die Slowakei 54 Prozent ihres Stroms in ihren AKWs. Ein Anteil, der in den nächsten Jahren sogar gesteigert werden soll, da das Atomkraftwerk Mochovce um zwei weitere Reaktoren erweitert werden soll.
Auch in der benachbarten Tschechischen Republik, wo die Kernenergie einen Anteil von 32 Prozent an der Gesamtstromerzeugung hat, sind momentan Erweiterungen geplant, was vor allem in Deutschland und Österreich zu Bedenken führen könnte. Denn ausgerechnet das umstrittene AKW Temelin soll für 20 Milliarden Euro um zwei weitere Reaktoren erweitert werden. Verantwortlich dafür ist der staatliche Konzern CEZ, quasi ein Staat im Staate mit eigener Gesetzgebung (Stromkonzern mit eigener Gesetzgebung), der den in Temelin gewonnenen Strom auch gerne exportieren würde. Und einen ersten Markt hat man bereits ausfindig gemacht: Deutschland nach seinem möglichen Atomausstieg. Da ist es nicht verwunderlich, dass Prag dieser Woche verlauten ließ, dass die tschechischen Kernkraftwerke sicher seien. Die 130 bekannten Störfälle, die sich bisher allein in Temelin seit den 1980er Jahren ereignet haben, übersieht man in Prag gerne.
Polen ist noch unbeirrt durch Fukushima
Eine Ausnahme unter den Staaten des ehemaligen Ostblocks ist Polen. In den 80er Jahren begann man zwar mit dem Bau eines Atomkraftwerks an der Ostseeküste, doch wegen der Katastrophe in Tschernobyl und der gesellschaftlichen Proteste, verzögerten die damals regierenden Kommunisten den Bau. Den endgültigen Todesstoß gaben der Anlage jedoch der politische Umbruch und die damals schwierige wirtschaftliche Situation. 1990 wurden die Pläne endgültig aufgegeben.
Seitdem sind aber 20 Jahre vergangenen und ein Umdenken setzte ein. Die Nachfrage nach "Lugol", einem jodhaltigen Getränk, das polnischen Schulkindern nach der Katastrophe in Tschernobyl verabreicht wurde, ist zwar aufgrund der Ereignisse in Japan gestiegen, doch von einer Panik kann man in Polen nicht sprechen. Ebenso wenig von einer kritischen Haltung gegenüber der Atomkraft, und dies obwohl über Fukushima in den polnischen Medien sehr ausführlich berichtet und diskutiert wird. Doch diese Diskussion ähnelt eher einem Versuch, die Seiten der Zeitungen zu füllen, als einem kritischen Hinterfragen.
Als am Montag der Regierungssprecher Pawel Gras erklärte, dass Polen weiterhin am Bau eines Atomkraftwerks festhalte, das vom staatlichen Energiegiganten PGE betrieben ab 2020 Strom produzieren soll, löste er in der polnischen Bevölkerung keine Panik aus, sondern eher Zustimmung.
Ein Großteil der Polen spricht sich heute für die Atomenergie aus und benutzt dabei die gleichen Argumente wie die Regierung und die Energielobby. Der Stromverbrauch steige, Atomenergie macht das Land unabhängiger von Russland und ist ein wichtiger Schritt bei der Modernisierung der polnischen Energieindustrie, die 94 Prozent ihres Stroms in Kohlekraftwerken produziert und deswegen in Europa einen schlechten Ruf genießt (In Polen ist man über das Scheitern des Klimagipfels nicht unglücklich). Zudem herrscht bezüglich des polnischen Einstiegs in die Atomkraft auch in der normalerweise zerstrittenen Parteienlandschaft weitestgehend Konsens. "Atomkraft ist Zivilisation" sagte dieser Tage ein polnischer Politiker und traf damit die Meinung aller im Sejm vertretenen Parteien.
Dementsprechend entschlossen realisiert Polen seine Atompläne. Bereits im nächsten Jahr können sich Lieferanten von Reaktoren um einen Auftrag bemühen. 2013 soll dann ein geeigneter Standort für das Atomkraftwerk gefunden werden und ab 2016 mit dem Bau begonnen werden. 2020 soll das Werk laut Plan ans Netz gehen.
Ob dieser Zeitplan eingehalten werden kann, ist jedoch fraglich. Schon im vergangenen Jahr hatte die Internationale Atomenergie-Organisation Zweifel an diesem Zeitplan. Fraglich ist aber auch, ob Polen von der Atomenergie auch wirtschaftlich profitiert. "5 Millionen Euro würde Polen ein Megawatt aus einem AKW kosten, während es aus einer Windanlage 1.2 Millionen, bzw. 2 Millionen Euro aus einer Windanlage in der Ostsee wären", sagte diese Woche der ehemalige Vizeminister für Energie Radoslaw Gawlik, heute Mitglied der polnischen Grünen und Kritiker des Vorhabens, in einem Radiointerview. Und was Gawlik von der Atomkraft allgemein hält, machte er in dem Interview auch deutlich. "Zum Glück haben wir nicht diesen Scheiß", sagte er und verwies auf die besorgniserregenden Ereignisse in Fukushima.