Atomkrieg 2024: Näher am Abgrund als je zuvor
Die atomare Bedrohung hat 2024 ein historisches Ausmaß erreicht. Weltweit verfügen Staaten über knapp 13.000 Atomwaffen. Was geschieht, wenn die Abschreckung versagt?
Der Atomphysiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker befasste sich intensiv mit dem Phänomen der Macht.1 Die eigentlichen Antreiber im politischen Schachspiel um Positionen im Weltgefüge seien machtpolitischen Ursprungs. Trotz der Vielfalt unterschiedlicher Machtmittel sei das militärische Gewaltpotenzial das sichtbarste und gefährlichste Instrument internationaler Macht.
Die Anwendung militärischer Gewalt zur Zielerreichung erfolge unter Abwägung noch vertretbarer Risiken. Imperiale Motive und Interessenlagen spielten dabei eine große Rolle.
Oft sind Führungs- und Atommächte in Kriege involviert oder unmittelbar Kriegsparteien. In diesen Fällen gibt es kaum ein wirksames Regulativ, das das Kriegsgeschehen eindämmen könnte. Selbst die Einhegung regionaler Konflikte wie im Sudan oder in Israel scheiterte bisher an der Hartnäckigkeit der involvierten Kriegsparteien.
Es sind vorwiegend die Beziehungen zwischen den Weltmächten, die von Misstrauen geprägt sind. Das Verhältnis zwischen Russland und den USA ist in der Rüstungskontrolle und Abrüstung auf einem Tiefpunkt angelangt.
Abschreckung mit Atomwaffen: ein nur kurzes Zeitfenster!
Weizsäcker warnte schon vor über 40 Jahren, dass die atomare Abschreckung der Menschheit nur ein kurzes Zeitfenster einräume, um dem Frieden auf der Welt eine Chance zu geben.
Die Existenz der Atomwaffen hat zu einer grundsätzlichen Veränderung im Umgang der Machtblöcke zueinander geführt. Im Bewusstsein der zerstörerischen Wirkung dieser Waffen ist es bisher noch zu keiner direkten militärischen Auseinandersetzung gekommen. Unter dem Druck und der Belastung gegenseitiger Zerstörung ist ein unmittelbares Aufeinandertreffen bisher nicht eingetreten.
Durch zielgenaue Trägermittel, die jeden Punkt der Erde mit gewaltiger Zerstörung treffen können, dürfte ein Krieg zwischen den Atommächten kein vernünftiges Mittel der Politik sein.
Heute steht einer möglichen Gewinnerwartung eines Angriffskrieges ein gewaltiges Schadensrisiko gegenüber. Noch zu Moltkes Zeiten galt, dass der Krieg ein Element der von Gott eingesetzten Weltordnung sei.
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Die Existenz globaler Vernichtungskraft signalisiert die Notwendigkeit, sich in der Anwendung militärischer Macht zu mäßigen. Ein Krieg zwischen konkurrierenden Atommächten ist mit einem hohen Risiko der Selbstzerstörung verbunden.
Der zu erwartende Schaden wird erheblich größer sein als der mögliche Gewinn. Dieses Sicherheitsverständnis entspricht dem einfachen Modell, Macht durch Gegenmacht auszugleichen.
Innerhalb dieser Logik ist Kriegsverhütung nur über die Fähigkeit zur Kriegsführung glaubwürdig. Kriegsführungsfähigkeit beschränkt sich nicht auf eine spezielle Waffenart, sondern umfasst das gesamte Spektrum konventioneller und auch atomarer Waffen.
Das tragende Fundament der heutigen Sicherheitspolitik basiert auf der Abschreckung. Sie soll einen möglichen Gegner davon überzeugen, dass sich ein Angriff nicht lohnt. Sie ist nur als rationales Denkmodell funktionsfähig.
Abschreckung kann nur dann wirksam sein, wenn der Kontrahent sie als glaubhaft einschätzt. Das setzt voraus, dass neben der Fähigkeit zur Verteidigung auch die Entschlossenheit dokumentiert werden muss, die eigenen Zerstörungsinstrumente im Ernstfall einzusetzen.
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Eng gekoppelt mit der Abschreckung ist das Prinzip des Gleichgewichts. Es besagt, dass sich die Gewichte aller politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfte in ihrer Gesamtheit die Waage halten müssen, um den Frieden und die Sicherheit des betroffenen Staates zu erhalten.
Nun ist es bis heute nicht gelungen, das angestrebte Gleichgewicht dauerhaft zu stabilisieren. Indem man Gleichgewicht forderte, suchte man stets die eigene Überlegenheit, den eigenen Vorteil.
Da sich Gegner ständig misstrauen und erst dann sicher fühlen, wenn sie stärker sind als der andere, ist eine Balance niemals stabil. Die sich ständig aufschaukelnden Bedrohungsängste führen in der Folge zu einem unbegrenzten Rüstungswettlauf.
Atomkriegsgefahr größer als zu Zeiten des Kalten Krieges
Weltweit besitzen die Atomwaffenstaaten knapp 13.000 Atomwaffen. Es gibt keine Gewähr dafür, dass diese Waffen bei einem Versagen der Abschreckung nicht zum Einsatz kämen.
Wir stehen heute in einer politischen Grenzsituation, bei der wir uns keine entscheidenden Fehler mehr leisten dürfen. Bei einem Versagen kämen Zerstörungspotenziale zum Einsatz, die das Leben auf unserer Erde auslöschen würden.
Ein Atomkrieg könne nicht gewonnen und dürfe niemals geführt werden. Das Zitat stammt nicht aus der Friedensbewegung, sondern aus einer gemeinsamen Erklärung der Atomwaffenstaaten USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich vom Januar 2022.
"Nukleare Teilhabe": Mehr Sicherheit in Europa?
Die nukleare Teilhabe der Nato enthält konkrete atomare Kriegsführungsoptionen mit weitreichenden Konsequenzen: Nuklearwaffen könnten chirurgisch gezielt und begrenzt eingesetzt werden.
Rüstungstechnisch führt diese Entwicklung zur Miniaturisierung der Atomwaffen mit hoher Zielgenauigkeit sowie sicherheitspolitisch zu einer Herabstufung der nuklearen Schwelle.
Risiken der geplanten Stationierung von US-Marschflugkörpern ab 2026 in Deutschland
In einer kurzen "Gemeinsamen Erklärung" vereinbarten am Rande des Nato-Gipfels Anfang Juli 2024 in New York die USA und die Bundesrepublik die Stationierung amerikanischer Langstreckensysteme:
Ab 2026 sollen nur in Deutschland Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Raketen und neue Hyperschallwaffen stationiert werden, die konventionell und – wenn gefordert – auch mit Atomsprengköpfen bewaffnet werden könnten. Mit über 2.000 km Reichweite könnten sie im Tiefflug in nur wenigen Minuten Zielobjekte in Russland erreichen und bekämpfen.2
Damit schließen wir eine Fähigkeitslücke im Bündnis und stärken die Abschreckung!
Verteidigungsminister Boris Pistorius
Historisch einmalig ist wohl seit Gründung der Bundesrepublik, dass ein Bundeskanzler allein eine solch weitreichende Entscheidung trifft, ohne den Deutschen Bundestag einzubinden, ohne eine parlamentarische Debatte und einen kritischen Diskurs mit den Abgeordneten aller Fraktionen zu führen.
Beschlossen wurde das Rüstungsprojekt ohne ein gleichzeitiges Verhandlungsangebot an Russland – wie beim Nato-Doppelbeschluss unter Helmut Schmidt. Ein dichtbesiedeltes Land wie die Bundesrepublik würde zur Zielscheibe russischer Atomraketen.
Die Reaktionszeiten verkürzen sich und die Gefahr eines Atomkriegs in Europa würde sich dramatisch erhöhen. Mit der Vereinbarung über die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026 wurde eine offensive Rüstungsmaßnahme beschlossen, die einen weltweiten Rüstungswettlauf auslösen könnte.
Gefahr durch Cyber-Waffen und KI
Durch den Einsatz von Cyber-Waffen und KI besteht die Gefahr, dass die Kontrollsysteme der Atomwaffen erheblich gestört werden könnten. Der Kontrollverlust erhöht das Risiko von Fehleinschätzungen und Fehlalarmen. Dadurch würde die Atomkriegsgefahr rapide ansteigen.
Deshalb wäre es besonders wichtig, Kriege und den aktuellen Konfrontationskurs zwischen großen Nationen zu beenden. Vertrauen und gute Kommunikationskanäle müssen wieder aufgebaut werden, und das sollte zwischen allen Nationen erfolgen, auch solchen, die sich derzeit als Gegner betrachten.
Andreas von Westphalen, Telepolis
Sipri-Report warnt vor weltweiter Aufrüstung
Weltweit wird aufgerüstet – in Asien, im Nahen Osten, in den USA und seit etlichen Jahren auch wieder in Europa. Davon profitiert die Rüstungsbranche. Die 100 weltweit größten Rüstungshersteller verkauften 2023 Waffen für 632 Milliarden US-Dollar.
Das sind satte 4,2 Prozent mehr als im Jahr davor, wie die jüngsten Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri zeigen. Bereits im April meldete das Institut für 2023 weltweit Militärausgaben von insgesamt rund 2,4 Billionen Dollar, was eine Steigerung um 6,8 Prozent im Vergleich zu 2022 bedeutete. Laut Sipri verzeichneten die Rüstungskonzerne in den USA einen Anstieg um 2,5 Prozent auf insgesamt 317 Milliarden Dollar.
Das sind nach Berechnungen der schwedischen Friedensforscher etwa die Hälfte der weltweiten Rüstungsausgaben. Die Rangliste wird angeführt von den Waffenschmieden Lockheed Martin Corp., RTX, Northrop Grumman Corp., Boeing und General Dynamics.
Anteil der Herkunftsländer der 100 größten Waffenbauer am globalen Rüstungsmarkt in Prozent: | |||
USA | 50,0 | Italien | 2,4 |
China | 16,0 | Israel | 2,2 |
Vereinnigtes Königreich | 7,5 | Südkorea | 1,7 |
Frankreich | 4,0 | Deutschland | 1,7 |
Russland | 4,0 | Japan | 1,6 |
Transeuropäisch | 3,3 | Andere | 5,1 |
Quelle: Sipri |
Der russische Rüstungskonzern Rostec, der in der weltweiten Rangfolge auf Platz sieben liegt, verzeichnet für 2023 einen Zuwachs von 49 Prozent. Ein Beleg für die erfolgreiche Umstellung auf Kriegswirtschaft. Das Unternehmen, zu dem die wichtigsten Waffenwerke Russlands gehören, steigerte seinen Umsatz auf 21,7 Milliarden US-Dollar.
Die deutschen Rüstungsunternehmen konnten laut Sipri 2023 ihre Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr steigern. Die vier umsatzstärksten deutschen Unternehmen sind Rheinmetall, ThyssenKrupp, Hensoldt und Diehl. Diese lagen 2023 zusammengerechnet bei 10,7 Milliarden US-Dollar, ein Plus von 7,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Rheinmetall (Platz 26) zum Beispiel, als größter Rüstungskonzern der Bundesrepublik, hat nach Sipri-Angaben seine Kapazitäten für die Produktion von 155-mm-Munition gesteigert und seinen Umsatz mit der Lieferung von Leopard-Panzern sowie Neuaufträgen ankurbeln können.
Die Folge: ein Plus von zehn Prozent auf 5,5 Milliarden Dollar. Weiterhin hat Rheinmetall einen Höchstwert an Bestellungen zu verzeichnen: Die Auftragsbücher seien mit einem Gesamtwert von über 50 Milliarden Euro gut gefüllt.
Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW).