Rüstung als Rettung? Die stille Revolution der deutschen Industriepolitik
Nationale Sicherheitsstrategie: Pistorius und Habeck öffnen Geldhahn für Rüstungsindustrie. Sigmar Gabriels Posten bei Rheinmetall ist kein Zufall.
Mit der von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kürzlich vorgestellten "Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie" plant die Bundesregierung nach eigenen Angaben, die heimische Rüstungsindustrie an die Anforderungen der aktuellen sicherheitspolitischen Lage ("Zeitenwende") anzupassen.
Ein zentraler Punkt der Strategie sieht vor, dass der Staat sich "ausnahmsweise in besonderen strategischen Fällen" an Unternehmen beteiligen kann. Wie das Handelsblatt bemerkte, stellt das in Deutschland bislang – zum Beispiel im Falle der Beteiligung am Sensorik-Spezialisten Hensoldt AG – die Ausnahme dar, anders als etwa im Nachbarland Frankreich.
Habeck erklärte, die Strategie sende ein "klares Signal an die Industrie", dass die Regierung die Rüstungsindustrie als "unverzichtbaren Bestandteil" für Frieden und Sicherheit in Europa betrachte und unterstützen werde.
Angesichts der veränderten Bedrohungslage durch den "Angriff Russlands auf die Ukraine", heißt es in dem 16-seitigen Papier, sieht sich Deutschland stärker in der Verantwortung, zur eigenen Sicherheit und zur Sicherheit seiner Verbündeten beizutragen.
Dual-Use: Militär hält Einzug in Forschung
Um eine "robuste, zukunfts- und leistungsfähige" Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland und der EU zu etablieren, empfiehlt die Strategie die Schaffung eines "europäischen Marktes für Verteidigungsgüter und -dienstleistungen" sowie grenzüberschreitende Rüstungskooperationen.
Das erklärte Ziel, die nationale Sicherheit zu gewährleisten, soll außerdem durch eine Förderung von insgesamt zwölf militärischen Schlüsseltechnologien erreicht werden.
Dazu zählen unter anderem "militärische und sicherheitsrelevante IT- und Kommunikationstechnologien", "Künstliche Intelligenz", "Sensorik", Mittel im "elektromagnetischen Kampf" sowie "Quantentechnologien" und "unbemannte Systeme".
Dabei soll die zivile Forschung mit der militärischen verknüpft werden, um sogenannte Dual-Use-Anwendungen zu entwickeln, die in beiden Bereichen zum Einsatz kommen können.
Staat als "Nachfrager und Ermöglicher"
Der Staat tritt in der neuen Strategie in der Rolle des "Nachfrager(s) und Ermöglicher(s)" auf. Unter dieser Überschrift plant die Bundesregierung zum Beispiel, die "Diversifizierung und Resilienz von Lieferketten" zu stärken, um die Versorgungssicherheit mit sicherheits- und verteidigungsrelevanten Gütern zu gewährleisten.
Die tragende Rolle des Staates umfasst auch einen engen "Dialog mit der Industrie", um "agile und schnelle Planungs-, Haushalts- und Beschaffungsprozesse" zu etablieren und Innovationen schneller für die Streitkräfte und die "Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben" (BOS) nutzbar zu machen.
Diese sollen – auch dank der Zusage zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato auf dem jüngsten Gipfel des Militärbündnisses – eine verlässliche und umfassende finanzielle Ausstattung erhalten, um die "Abnahmesicherheit" für Rüstungsunternehmen zu garantieren.
Ferner sollen Rüstungsunternehmen auch einen verbesserten Zugang zu Krediten und kapitalmarktbasierter Finanzierung erhalten. Allerdings sieht man hier im Strategiepapier noch Nachsteuerungsbedarf:
"Die Anforderungen der Zeitenwende einerseits und die Signalwirkung von Environmental, Social and Corporate Governance (ESG)-Kriterien auf den Zugang (…) zum Finanzmarkt andererseits müssen in Einklang gebracht werden."
Diese potenzielle Barriere plant die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen mit der Deklaration von Rüstung als "nachhaltig" aber schon aus dem Weg zu räumen.
In geeigneten Fällen, so die wohl brisanteste Stelle des Strategiepapiers, könnten außerdem "Vorauszahlungen als Instrument der flankierenden Unterstützung" in Betracht gezogen werden.
Zudem werde – wie eingangs erwähnt – geprüft, ob sich der Staat "ausnahmsweise in besonderen strategischen Fällen" an Unternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie beteiligen kann.
New Force Model der Nato
Die neue Strategie ist nicht alleine darauf ausgerichtet, die deutsche und europäische Rüstungskooperation zu stärken, sondern betont, dass die "euro-atlantische Dimension stets mitgedacht" werde. So setzt sich die Bundesregierung für die "Implementierung neuer Nato-Standards" ein, um die "Interoperabilität und Austauschbarkeit" von Rüstungsgütern zu fördern.
Durch sogenannte Lead-Nation-Konzepte und gemeinsame Beschaffungen mit Partnerstaaten "auf Basis einheitlicher Fähigkeitsforderungen" soll die ""europäische Dimension der Nato" gestärkt werden.
Erst kürzlich gab das Verteidigungsministerium bekannt, die Hubschrauber von Heer und Luftwaffe in einer gemeinsamen Einheit zusammenzufassen, um die "Nato-Fähigkeitsziele" zu erreichen und die "Reaktionsfähigkeit im Bündnisfall" zu verbessern.
Die neue Einheit firmiert unter dem Namen "Aviation Brigade NFM". Die Abkürzung steht für "New Force Model" – das Zukunftsprogramm, mit dem die Nato laut dem Verteidigungsministerium ihre "Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten" auszubauen beabsichtigt.
Sigmar Gabriel soll Rheinmetall kontrollieren
Die deutsche Rüstungsfirma, die derzeit mit Abstand am meisten von Investitionen in den Verteidigungshaushalt profitiert, ist der Düsseldorfer Konzern Rheinmetall.
Dieser verzeichnete in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 ein Umsatzwachstum von 36 Prozent auf 6,3 Milliarden Euro und eine Steigerung des operativen Ergebnisses um 72 Prozent auf 705 Millionen Euro.
Der Konzern hat kürzlich mit seiner neuen Besetzung eines Postens im Aufsichtsrat Aufsehen erregt: Sigmar Gabriel (SPD), der ehemalige Wirtschaftsminister und amtierende Vorsitzende der Atlantik-Brücke. Gabriels Amtsantritt stand ganz im Zeichen des New Force Models der Nato.
Die Bundeswehr müsse "wieder verteidigungs- und damit kriegstauglich gemacht werden, die europäische Säule der Nato wieder abschreckungsfähig werden", berichtet das Handelsblatt.
Der Spiegel hat seine Berichterstattung über die neue Personalie mit dem Verweis auf einen Bericht von 2016 veröffentlicht. Damals – als es wohlweislich noch keine Bedrohungslage durch Russland gab – hieß es, der Wirtschaftsminister "lobbyiert offen für deutsche Rüstungsschmiede".
Es ist dieselbe Rüstungsschmiede, die er nun als Aufsichtsrat kontrollieren soll.