"Auch mit halbem Kopf kann ein Soldat glücklich sein"

Seite 2: "Aber dich haben sie schon genau so belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun"

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Nun endlich will ich zu jenem Text kommen, der illustriert, wie man schon vor hundert Jahren deutsche Soldaten vera[eppelt] hat. Der an Zynismus wohl kaum zu überbietende Fund ist mir bei meinen regionalen Mundartforschungen unter die Augen gekommen. Sein Autor ist der münsterländische Katholik Karl Wagenfeld (1869-1939), der selbst nie auf einem Kriegsschauplatz als Soldat eingesetzt war.

Als Anhänger eines schon vor dem ersten Weltkrieg rassistisch infizierten "Stammesdenkens" und als Chefideologe des Westfälischen Heimatbundes baute er Brücken hin zur völkischen Bewegung, auf denen sich dann später auch ein nahtloses Zusammengehen mit dem Nationalsozialismus vollzog. Wagenfeld selbst wurde aufgrund seiner präfaschistischen Prägung bereitwillig Mitglied der NSDAP. Noch immer halten einige unbelehrbare Zeitgenossen ihn nur für den Vertreter eines ernsten "konservativen Katholizismus". Nach dem jüngsten Forschungsbeitrag, den der Historiker Karl Ditt über ihn vor kurzem im Sammelband "Fragwürdige Ehrungen!?" zur westfälischen Straßennamen-Debatte veröffentlicht hat, wird eine solche Einordnung wohl kaum noch möglich sein.

Während des Ersten Weltkrieges hat sich Karl Wagenfeld als plattdeutscher Kriegslaientheologe, Kriegspropagandist und Hasslyriker betätigt, was ich in einer neuen Studie zur westfälischen Kriegsdichtung 1914-1918 ausführlich darstelle. Alle "kompromittierenden Texte" dieses Komplexes hat man in der nach 1945 veranstalteten Wagenfeld-Werkausgabe gezielt ausgeklammert, so dass sie seit einem knappen Jahrhundert kaum rezipiert worden sind. Dazu gehören auch die plattdeutschen Feldbriefe an die Frontsoldaten: mit Rezepten gegen den Schützengrabenstumpfsinn, heiteren Aufmunterungen, forschen Draufschlag-Sprüchen, "deutschen Pfingstpredigten", Opferbelehrungen und kriegszielpolitischen Programmen.

Den unschlagbarsten "Trost" der ganzen Reihe enthält das sechste Sammelheft der Feldbriefreihe "An'n Herd" von 1917 auf den Seiten 54-63. Wagenfeld erzählt den Soldaten im Schützengraben von seiner Bahnrückreise nach einem erhebenden Aufenthalt an der Ostsee. Er hat Halt im "heiligen Köln" gemacht, dort mit einem wütenden Faustschlag ausgerufen, dass die Feinde den deutschen Rhein nicht bekommen, am Bahnhof Schwerstverwundete gesehen und schließlich eine "Ausstellung für Kriegsfürsorge, Kriegsbeschädigten-Fürsorge, Berufsausbildung und Umbildung" besucht.

Dort gibt es ein "Denkmal der christlichen Liebe" zu sehen, einen wahren Altar für den versehrten Menschenleib - als Kontrast zur "Kriegskirche des Teufels". Früher waren "Krüppel" ohne Arme oder Beine nur eine Last für ihre Mitwelt, doch die Kölner Ausstellung lehrt nun - auch den Dichter - eine revolutionär neue Sichtweise. Modernste Prothesen ermöglichen im Verein mit "Willenskraft und Übung" fast ein ganz normales Leben. Die futuristische Mensch-Maschine-Symbiose ist schon weit fortgeschritten zu diesem Zeitpunkt. Beim Lesen kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auch halbe Soldatenköpfe sind gar kein Problem mehr …

Den Blick auf die historische Realität der medizinischen und sozialen Staatssorge für die Veteranen von 1914-1918 müssen wir hier aussparen (im Internet findet man einiges dazu und ebenso Anschauungsmaterial zum Erscheinungsbild überlebender Kriegsopfer mit halben Köpfen oder abgetrennten Gliedmaßen). Ich dokumentiere nachfolgend den neuniederdeutschen Mundarttext von Wagenfeld durch eine möglichst wortgetreue hochdeutsche Übersetzung, deren Verbreitung ausdrücklich erwünscht ist. Ein weiterer Kommentar ist danach nicht nötig.