"Auch mit halbem Kopf kann ein Soldat glücklich sein"

Seite 3: Textdokumentation zu Karl Wagenfeld: Hochdeutsche Übersetzung aus den plattdeutschen Feldbriefen an die Frontsoldaten (1917)

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[…] Aber gestern habe ich in Köln etwas gesehen, das ist ein großes Stück Heiligtum. Keine Kirche, nein, ein großes Fabrikgebäude birgt das Heiligtum in sich. Denkt nicht, das Heiligtum wäre ein Heiligenbild oder ein Überbleibsel von einem großen oder kleinen Heiligen - nein, das Heiligtum ist die große, große Menschenliebe, wie es die Ausstellung für "Kriegsfürsorge, Kriegsbeschädigten-Fürsorge, Berufs-Ausbildung und Umbildung" laut und eindringlich predigt, Tag für Tag zu Tausenden von Menschen.

Ein altes Sprichwort sagt: "Wo unser Herrgott eine Kirche baut, da baut der Teufel eine Kapelle." Mit diesem großen Krieg baut der Teufel, so scheint mir, einen großen Dom zu seiner Ehre, ein Dom, in dem Hass und Tod auf dem Hochaltar sitzen. Und da baut unser Herrgott eine Kapelle, in der auf dem Altar die christliche Liebe ihren Platz hat. Und so eine Kapelle für die christliche Liebe ist die Kölner Ausstellung.

Wenn man an einem großen Bahnhof steht, und es kommt ein Zug vom Roten Kreuz mit Verwundeten, und die Krankenträger tragen auf ihren Tragen ein Häufchen Elend nach dem anderen heraus, dann tut einem das Herz im Leibe weh bei dem Gedanken: was wird aus all den armen Kerlen, die sich da für uns die Knochen kaputt schießen lassen? Und Ihr, die Ihr draußen all die abscheulichen Wunden seht, die der Krieg in Menschenleiber gerissen hat, Ihr denkt sicher oft: der bleibt sein Leben lang ein trauriger Krüppel, sich selbst und anderen zur Last. Ich sage ganz ehrlich, ich habe auch oft so gedacht, aber seitdem ich die Ausstellung in Köln gesehen habe, denke ich über eine ganze Masse Dinge doch anders.

Was war früher ein Mann, der beide Arme oder Beine verloren hatte? - Ein armes Tier, auf Gottes Barmherzigkeit und die der Menschen angewiesen. In der Ausstellung hingen alte Bilder aus dem Nationalen Hygienemuseum in Dresden, auf denen das ganze Elend von solchen armen Tieren dargestellt war, wie sie sich mit Müh und Not fortschleppten. Den einen oder anderen von solchen armen Teufeln haben wir ja selbst auch sonst schon gesehen. Und heute? Die Ausstellung zeigt, wie Menschenliebe und Menschenverstand diesen Leuten helfen will und kann. Dass ein Mann mit zwei künstlichen Beinen wieder gehen kann, sogar ohne Stock gehen kann, das habe ich schon gesehen; aber was ein Mensch machen kann, der beide Arme ab hat bis auf ein paar Stümpfe, was er machen kann mit zwei künstlichen Armen, dabei hat mir doch der Verstand still gestanden.

In der Ausstellung war so ein Mann - er war Amerikaner und hieß Smith - der führte allen Leuten vor, dass er mit seinen künstlichen Armen und Händen alles tun kann, was ein Mensch mit seinen Armen, die ihm unser Herrgott hat wachsen lassen, auch macht. Der Mann kämmte sich mit einem Kamm, schnürte sich die Schuhe auf und zu, aß mit Messer, Gabel und Löffel, goss sich aus einer Flasche etwas ins Glas und trank, steckte sich eine Zigarette an, schrieb mit Feder und Tinte, schnallte sich selbst die Arme ab und wieder an, zog sich den Rock an und - was noch längst nicht jedermann kann - rasierte sich den Bart ab - und das alles mit - merkt Euch das gut! - mit zwei künstlichen Armen! Dass dieser Mann das nicht sofort am ersten Tag konnte, als er seine Arme bekam, das ist ja wohl klar - als wir die erste Hose bekamen, als wir uns das erste Mal rasierten, da hat das auch ein kleines oder großes Malheur gegeben - aber man sah an diesem Mann doch, was Willenskraft und Übung erreichen können. Und ich meine, das ist was, was man einem jeden, der im Krieg einen kleinen oder großen Knacks wegbekommen hat, nicht laut genug zurufen kann: Wenn du im Krieg einen Arm oder ein Bein oder alle beide verlierst, lass den Kopf nicht zu tief hängen! Es ist ja schlimm, gewiss, aber mit Ausdauer, mit Willenskraft und Übung kannst Du etwas fertigbringen, was man bis jetzt gar nicht für menschenmöglich gehalten hat, Du kannst ein Mensch sein, der genau wie die Gesunden sich helfen und sein Brot verdienen kann. Denk nicht, du wärest nichts mehr wert! Kopf hoch! Wolle bloß - und Du kannst!

Willen - und Du kannst, das sah man an Kriegsbeschädigten, die in der Ausstellung an Maschinen mit einem Arm gerade so flink arbeiteten wie andere mit zweien; das sah man auch auf vielen Photographien, auf denen Leute mit künstlichen Armen und Beinen alles taten, was Leute mit gesunden Knochen können. Nicht bloß in Fabriken, nein, auch in der Landwirtschaft. Da gab es Sensen, Pflüge, Spaten, Mähmaschinen für Einarmige und "Beinbeschädigte", mit denen diese alles so machen können, als wenn sie gesund wären. Darum [soll], wer Malheur hat, nicht den Mut verlieren. Der Mensch kann alles, was er will - er muss bloß wollen. Aber nicht bloß die, welche die Arme oder Beine kaputt oder verloren haben, können wieder brauchbare Menschen werden; selbst die, die es am Kopf traf, dass man meinen sollte, sie wären geliefert, kann man wieder herstellen, so dass man still steht und sich wundert. Da gab es Photographien und Köpfe aus Wachs, auf denen sah man die scheußlichsten Verwundungen, die man sich denken kann; der halbe Kopf war oft weg, wenn die in die Hände der Ärzte kamen. Und wenn man dann daneben zum Vergleich die Bilder sah, wie die Doktoren sie wieder zurechtgemacht hatten! Man soll es nicht für möglich halten! Solange das größte Stück vom Kopf noch drauf sitzt, braucht kein Mensch die Hoffnung aufgeben.

Selbst die, die einen Schuss ins Gehirn, mitten in den Verstandeskasten bekommen hatten, so dass der Verstand in die Brüche gegangen war, so dass sie nicht mehr denken und sprechen, lesen, schreiben und rechnen konnten, sind von den Ärzten und geduldigen Trainern wieder auf die Reihe gebracht worden, so dass sie mit allem wieder fertig werden können. Selbst für die Blinden, die Ärmsten von allen Armen, haben Menschenliebe und Menschenklarheit allerlei ausgedacht, so dass sie arbeiten und sich als Menschen fühlen können, die der Welt noch zu etwas nütze sind - und das ist ein Gedanke, der über manche schwere Stunde hinweg hilft.

Und auch die, die der Krieg so getroffen hat, dass sie ihr altes Gewerbe nicht weiter treiben können, brauchen nicht verzweifeln. Dann heißt es eben: Umlernen! "Man wird so alt wie eine Kuh und muss doch immer lernen dazu!" So heißt es ja schon immer. Zum Lernen wird man sein Leben lang nicht zu alt. Es geht immer noch. Ich sage Euch, ich habe Arbeiten von Kriegsbeschädigten gesehen, die umgelernt hatten, Arbeiten, die ein Stolz für die ganze Ausstellung waren. Ich will nur einige Beispiele nennen: ein Schuhmacher, der den Pechdraht nicht mehr ziehen konnte, hat Bilder gemacht, die sich sehen lassen können; ein Gewerkschaftssekretär, der blind geworden war, war Blindenlehrer; ein Fußbodenverleger und ein Wagenmacher hatten sich im Zeichnen für ihr Gewerbe ausgebildet, ebenso ein Maurer und noch viele andere. Guter Wille, der bewirkt Wunder!

Und dann noch eine Sache! Die schönen Häuschen, die auf der Aufstellung standen! Sie sind für wenig Geld zu bauen, und Kriegsbeschädigte sollen an allen Ecken im deutschen Reich, jeder in seiner Heimat, Gelegenheit haben, sich für das Geld, das sie vom Staat kriegen, ein eigenes Haus auf eigenem Grund zu einem billigen Preis anschaffen zu können! Darum, wen der Krieg geschlagen hat, und alle, die er noch schlagen kann: Kopf hoch! Menschenliebe und Menschenwille wollen und können helfen! Gott gibt keine Wunde, ohne nicht auch die Salbe dafür zu geben.

Nun könnte ich Euch noch eine ganze Masse erzählen von dem, was ich auf der Ausstellung gesehen habe, aber der Brief wird zu lang. Bloß das will ich noch sagen, damit man auch einen kleinen Begriff davon bekommt, was für unsere Soldaten da draußen getan wird vom Staat, vom Roten Kreuz und von der "Liebestätigkeit" im Lande. Und mir scheint, es ist viel, was geschieht, und wenn es Euch da draußen hart und sauer wird, dann muss Euch der Gedanke daran, dass getan wird für Euch, was menschenmöglich ist, doch gut tun und Euch helfen, auszuhalten und standhaft zu bleiben bis zum Sieg.

Im Westen sank die Sonne als glühender Ball und malte den Himmel feurigrot, als der Zug mich wieder ins Münsterland brachte. Im Westen Kriegsglut und Blut, in der Heimat Ruhe und Frieden. In Westen und Osten Hass gegen Euch, Hass, der Euch umbringen will. In der Heimat Liebe, die Euch gutmachen will, was Ihr für uns tut. Gott helfe uns! Wir können es nicht alleine.

Guod befuohlen!
En hiärtlick Kumpelment
Jue Landsmann
KARL WAGENFELD

Quelle des plattdeutschen Originaltextes: An’n Herd VI.: Jans Baunenkamps Höllenfahrt, Therese Schulte Kloßfall u.a. = Plattdeutsche Feldbriefe von Karl Wagenfeld. Warendorf: J. Schnellsche Verlagsbuchhandlung (C. Leopold) [1917], Seite 56-63.