Auf dem Weg in die Tyrannei?
Patrioten gegen die Verfassung: Das politische System der USA und die Eingriffe der Regierung Bush
Die Vereinigten Staaten von Amerika, die mit all seinen Vorzügen und Nachteilen als Musterbeispiel eines demokratischen Staates gelten, befinden sich am Scheideweg. Die Regierung Bush ist dabei, essentielle Bestandteile der Verfassung zu umgehen oder außer Kraft zu setzen und somit den pluralistischen Charakter der US-amerikanischen Gesellschaft zu untergraben. Der Machthunger im Weißen Haus ist zwar erschreckend, aber nicht überraschend oder neu. In Verbindung mit historischen Ereignissen wird rückblickend eine Tendenz erkennbar, vor der Amerikas Gründerväter in weiser Voraussicht gewarnt haben.
Als am 21. Juni 1788 New Hampshire als neunter Bundesstaat die von der Constitutional Convention erarbeitete US-Verfassung ratifizierte, stellte dies den erfolgreichen Abschluss der jahrelangen schwierigen Arbeit der Delegierten der verfassungsgebenden Versammlung dar.
Allerdings war den Verfechtern der neuen Verfassung klar, dass eine, auf deren Grundlagen beruhende, zentrale Bundesregierung nur Erfolg haben könne, wenn die Verfassung in sämtlichen ehemaligen amerikanischen Kolonien Großbritanniens, aus denen die Vereinigten Staaten hervorgehen sollten, unterzeichnet werden würde – was am 29. Mai 1790, mit der Ratifizierung im Staat Rhode Island, erreicht wurde.
Verfassung statt Tyrannei
"Grundlage der freien Regierung ist das Misstrauen ... Misstrauen lässt uns Sicherungsvorschriften in die Verfassung aufnehmen, die jene bindet, denen wir verpflichtet sind, Macht anzuvertrauen." Thomas Jefferson, (1743 - 1826), US-amerikanischer Jurist, Gutsbesitzer und 3. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, verfasste die Unabhängigkeitserklärung
Die neue US-Verfassung wurde unter dem Eindruck zweier, teils gegensätzlicher Erfahrungen erarbeitet: In Gesellschaft und Politik bestand ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlicher Autorität, hervorgerufen durch eine, aus Sicht vieler Bewohner der nordamerikanischen Kolonien, willkürliche Politik des britischen Empires in den amerikanischen Kolonien (willkürlich, da die britische Obrigkeit eine Wirtschaftspolitik zu Lasten der Kolonien betrieb und jeglichen Protest dagegen mit autoritären Zwangsmaßnahmen einzudämmen versuchte).
Die ideologische „Ummantelung“ des daraus entstehenden amerikanischen Bewusstseins wurde aber nicht zuletzt durch die englische Oppositionsliteratur und deren radikale (John Trenchard, Thomas Gordon), bzw. konservative (Henry St. John Bolingbroke) Strömungen entscheidend beeinflusst – aber auch klassische römische und attische „Bürgertugenden“ und der christliche Protestantismus prägten diese „spezifisch amerikanische Country-Ideologie“ mit, die letztendlich die Grundlage der Unabhängigkeitserklärung wie auch des -krieges bildete.
Nach dem Ende desselben allerdings resultierten die Erfahrungen mit dem, teils handlungsunfähigen, „vagabundierenden“ Kontinentalkongress der 1780er Jahre und mit der Instabilität der Einzelstaaten zu einer Abkehr von den radikalen, föderativen Maximen, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung formuliert worden waren.
Statt der losen „Konföderation einzelner Staaten“ rückte eine „Union der Vereinigten Staaten“, die von einer Bundesregierung gesteuert werden, aber auch föderative Elemente enthalten sollte, ins Blickfeld der verfassungsgebenden Versammlung.
Diese Lösung stellte einen Kompromiss zwischen dem konservativ-aufklärerischen Lager innerhalb der Gründerväter (welches unter anderem von John Adams vertreten wurde) und dem radikal-republikanischen Lager dar (bspw. vertreten durch Samuel Adams).
Das Amt des Präsidenten: „Fötus der Monarchie“?
Anhand der Erfahrungen mit den mächtigen einzelstaatlichen Parlamenten wurde Wert darauf gelegt, die zukünftige Bundesregierung, im Sinne einer ‚balance of power’, möglichst unabhängig und selbständig gegenüber dem zukünftigen Washingtoner Kongress zu gestalten.
Dies führte letztendlich zum Amt des Präsidenten (und Vizepräsidenten) als Oberhaupt der Exekutive, in dem Skeptiker schon den „Fötus der Monarchie“ zu erkennen glaubten. 1 Betrachtet man die dem Präsidenten - gemäß dem Verfassungskonvent von Philadelphia – zustehenden Kompetenzen, ist diese Befürchtung nicht ganz von der Hand zu weisen: So ist der Präsident gleichzeitig Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Staatschef und Regierungsoberhaupt.
Andererseits muss er, ganz im Sinne der oben erwähnten ‚balance of power’, die Zustimmung des Kongresses bzw. des Senates zur Ernennung hoher Regierungsbeamter, wie ebenfalls von Richtern und Ministern, einholen, was auch für die Ratifizierung außenpolitischer Verträge gilt.
Zur Entscheidung über Krieg und Frieden schrieb George Madison 1793: “[die Verfassung enthält] die fundamentale Doktrin, […] dass die Macht, den Krieg zu erklären, vollständig und alleine bei der Legislative liege.“ So wurde es dann auch in der Verfassung verankert, denn mit dieser Regelung glaubte man, militärische Alleingänge insofern auszuschließen, als dass der Einsatz dieser Macht keiner einzelnen Person, sondern den gewählten Volksvertretern im Kongress oblag.
Gewaltenteilung und Freiheitsrechte
Die vom Verfassungskonvent erarbeitete Konstitution beinhaltet desweiteren folgende elementare Bestandteile: Sie schreibt, weltweit erstmalig, die Teilung der Staatsgewalt in drei separaten Teilgewalten vor - gemäß Montesquieus Werk „Vom Geist der Gesetze“ (1748). Diese Teilgewalten sollten durch die Exekutive (Regierung), die Judikative (Gerichte) und die Legislative (2-Kammer-Parlament, nach britischem Vorbild) auf Bundes- und Staatsebene repräsentiert werden.
Neben den politischen Theorien von John Locke, Baron de Montesquieu und der antiken attischen Demokratie bilden Anleihen aus dem britischen Rechtssystem die Grundlage der US-Verfassung, wie etwa die in Artikel 1, Absatz 9 untergebrachte Suspension Clause. Sie beinhaltet das Recht Inhaftierter, einem Gericht vorgeführt zu werden und einen Antrag auf ein Haftüberprüfungsverfahren zu stellen (Writ of Habeas Corpus), aber auch die Möglichkeit, dieses Recht im Falle einer Invasion oder einer Rebellion außer Kraft zu setzen.
Ebenfalls dem britischen Vorbild nachempfunden wurde die Bill of Rights (etwa: Freiheitsurkunde), welche die ersten Amendments (Zusätze) der US-Verfassung enthält.
Diese Zusätze wurden auf Druck von Vertretern der Bundesstaaten und prominenter Persönlichkeiten, wie etwa George Madison, einem engen Wegbegleiter George Washingtons, zwischen 1789-91 mit dem erklärten Ziel ratifiziert, die Macht der Bundesregierung zu begrenzen, um eine tyrannische Regierung zu verhindern oder zumindest zu erschweren und damit sicher zu stellen, dass „das Gesetz der König ist“ (Thomas Paine).
Gegen „Blanko“-Durchsuchungsbeschlüsse
John Adams, erster Vizepräsident und zweiter Präsident der Vereinigten Staaten, bemerkte dazu: „[die] Exekutive [dürfe] niemals legislative oder richterliche Macht ausüben“, damit die „Herrschaft von Gesetzen, [im Gegensatz zur] Herrschaft von Menschen [erhalten bleibe]“.
Zu diesem Zweck stellt beispielsweise der fünfte Zusatzartikel zur US-Verfassung unter anderem das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, auf Zugang zu einem Geschworenengericht und das Auskunftsverweigerungsrecht sicher. Der „Fünfte“ basiert auf dem englischen Gewohnheitsrecht, welches im Jahr 1215 mit der Magna Carta etabliert wurde.
Weiterhin verbietet der vierte Zusatzartikel das Eindringen der Exekutivorgane des Staates - ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss und ohne Benachrichtigung der Betroffenen - in die Privatsphäre der Bürger. Der „Vierte“, dies sei erwähnt, entstand als Reaktion auf bestimmte, von den verhassten britischen Kolonialbehörden genutzte, „Blanko“-Durchsuchungsbeschlüsse (Writs of Assistance), deren Anwendung durch zukünftige amerikanische Regierungen mit Hilfe des „Vierten“ verhindert werden sollte.
Weitere Zusatzartikel enthalten das Recht Angeklagter auf einen unverzüglichen, öffentlichen Prozess, auf Information über die Anklagepunkte sowie Gegenüberstellung und Vorladung von Zeugen (sechster Zusatzartikel) und ein Verbot grausamer und ungewöhnlicher Strafen (achter Zusatzartikel).
Ideale versus Realität
Die Umsetzung der Gewaltenteilung, welche durch ein System der „checks and balances“ (wechselseitige Kontrolle der Verfassungsorgane, zur Herstellung eines Gleichgewichtes innerhalb des Systems) gewährleistet werden sollte, ist in dieser Form weltweit erstmals in der US-Verfassung verankert worden. Dadurch erhielt diese, nach antiken und aufgeklärten Vorbildern strukturierte Verfassung, einen Modellcharakter, der sie zum Vorbild, bzw. zur Ressource für die Verfassungen anderer Nationen machte. Von Anfang an allerdings bestand das Paradoxon, dass die hehren Grundsätze der Revolutionsära durch die existierende (und in einigen Bundesstaaten elementare) Sklaverei in Frage gestellt wurden.
Schließlich führte dieser Zustand die Phrase „all men are created equal“, wie in der Declaration of Independence formuliert und in den meisten einzelstaatlichen Verfassungen verankert, ad absurdum.
Dieser Gegensatz wurde allerdings auch schon damals erkannt und kritisiert, was zum Verbot der Einfuhr von Sklaven ab 1808 führte – welches jedoch nicht durchgesetzt wurde (oder werden konnte). Die Kontroverse zwischen Sklavereigegnern und Sklavereibefürwortern trug nicht unwesentlich zu den Spannungen bei, welche letztendlich zum amerikanischen Bürgerkrieg führten und nach dessen Ende die Sklaverei mit dem 13th Amendment zur Bill of Rights verboten wurde.
Eine erste Bewährungsprobe der freiheitlich-demokratischen Werte, auf denen die junge amerikanische Republik fußte, fand in den Jahren von 1798 bis 1801 statt. Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen mit Frankreich, die in einem - beiderseitig unerklärten - Seekrieg mündeten, erließ die Kongressmehrheit vier Gesetze, die als Alien and Sedition Acts bekannt wurden.
Rechte von Einwanderern
Mit der Verabschiedung dieser Gesetze wurden die Rechte von Einwanderern stark eingeschränkt. Weiterhin wurden Bestimmungen hinsichtlich angeblicher oder tatsächlicher Beleidigung und Verleumdung der US-Regierung seitens der Presse etabliert. In Folge dessen drohten beispielsweise französischstämmigen Journalisten, welche auf Seiten der amerikanischen Opposition die US-Außenpolitik kritisierten, Geld- oder Haftstrafen für „böswillige oder skandalöse Berichterstattung“.
Allerdings wurden drei der vier genannten Gesetze zeitlich begrenzt und ohne Unterstützung durch den amtierenden Präsidenten John Adams erlassen; Adams’ Nachfolger Thomas Jefferson schließlich begnadigte sämtliche Personen, die unter den Bestimmungen der Alien and Sedition Acts verurteilt wurden.
Im Jahre 1801 lehnte der Kongress letztendlich eine Verlängerung dieser Gesetze ab - während allerdings der Alien Enemies Act, der dem Präsident in Kriegszeiten das Recht gibt, in den USA lebende Ausländer im Falle des Krieges mit ihren Herkunftsländern deportieren zu lassen, bis heute Bestand hat.