Auf der Suche nach der verlorenen Inkubationszeit

Seite 2: Die Virusbombe platzt

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Nachdem Fälle im Ausland sowie Ansteckungen in China bekannt geworden waren, die sich nicht auf den Fischmarkt in Wuhan zurück verorten ließen, platzt am 20.01.2020 die Bombe: Das neue Coronavirus, so ein führender chinesischer Mediziner im Fernsehen, könne sich von Mensch zu Mensch verbreiten. Das Virus war in weiteren chinesischen Provinzen, außerhalb des Ausbruchsortes, nachgewiesen worden. Selbst medizinisches Personal schien schon infiziert worden zu sein. Ebenfalls am 20.01.2020 wird der erste bestätigte Fall einer Infektion in Südkorea gemeldet. Zu dieser Zeit befinden sich Hunderte von Millionen Chinesen aus Anlass des chinesischen Neujahrsfestes auf der Heimreise.

Das Virus erreicht nun auch die deutschen Hauptabendnachrichten. "Das neuartige Coronavirus in China", so der Sprecher der "Tagesschau" am 20.01.2020, "breitet sich überraschend schnell aus." Bereits mehr als 200 Menschen seien an dem neuen Lungenleiden erkrankt. Medizinisches Personal mit Masken, Menschenmassen, Temperaturscanner an Kontrollstellen - der Bildbericht illustriert die Meldung und zeigt den Mediziner Dr. Zhong Nanshan beim Interview im chinesischen Fernsehen, als er von der Übertragbarkeit des Virus spricht. "Mit dieser Nachricht ist klar", so die Stimme der "Tagesschau" aus dem Off, "eine weitere Ausbreitung des Virus in China wird wahrscheinlicher und die Kontrolle der Krankheitswelle schwieriger."

Der Virologe Christian Dorsten wird in einem Interview des Spiegel am darauf folgenden Tag mit den Worten zitiert, dass sich die Übertragung des Virus "erstaunlich schnell" vollziehe. Zwar sei davon auszugehen, dass die Zahlen "weitaus höher" lägen, als aus den Statistiken hervorgehe. "Aber daraus", so Drosten, "lässt sich nicht ableiten, inwiefern wir es mit einer Pandemie zu tun bekommen könnten." Flughafenkontrollen brächten nur bedingt etwas, da sie nur Menschen mit Symptomen erfassten. Um die Verbreitung der Krankheit aufzuhalten, so Professor Drosten, müssten vor allem die chinesischen Behörden reagieren. In Deutschland bräuchte man "definitiv" keine Angst zu haben.

In einem Lagebericht der WHO wird die Situation am 21.01.2020 zusammengefasst: Bislang gebe es 282 bestätigte Fälle in den vier Ländern China, Thailand, Japan und Südkorea. Sechs Menschen seien an der Infektion in Wuhan verstorben. Von den 278 Fällen in China seien 51 Fälle ernsthaft erkrankt und 12 in kritischem Zustand. Die WHO stehe mit allen vier genannten Ländern in direktem Kontakt und stehe auch anderen Ländern auf Anfrage zur Verfügung. In China, Japan, und Südkorea werden, so die WHO, Infektionen aktiv verfolgt. Die öffentliche Risikokommunikation sei in allen betroffenen Ländern verstärkt worden.

Dass die tatsächlichen die veröffentlichten Fallzahlen stark übersteigen, wie auch der deutsche Virologe vermutet hatte, davon sind mehrere internationale Forschergruppen mittlerweile überzeugt. Die Schätzungen der nicht erfassten Infektionsfälle variieren, haben aber eines gemeinsam: Sie bewegen sich bei einem Mehrfachen der offiziell erfassten Zahlen. Berechnungen von Forschern des Imperial College London zufolge könnte es sich zu diesem Zeitpunkt, etwa in der dritten Januarwoche, um mehr als 1.700 Fälle handeln. Einem Team der medizinischen Fakultät der University of Hong Kong zufolge könnten sich zwischen 1.300 und knapp 1.700 Ansteckungsfälle in Wuhan ergeben haben.

Am 21.01.2020 werden in zwei weiteren Ländern Fälle des neuen Coronavirus von staatlichen Gesundheitsbehörden bestätigt: Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) bestätigen die Infektion mit dem Virus, das zu dieser Zeit noch den Namen 2019-nCoV trägt, bei einem Patienten, der am 15.01.2020 aus Wuhan in den Bundesstaat Washington eingereist war. Die taiwanesischen Gesundheitsbehörden bestätigen einen ersten Fall bei einer Patientin, die ebenfalls aus Wuhan eingereist war und bereits seit dem 11.01.2020 unter Symptomen litt. Zu diesem Zeitpunkt sind somit Ansteckungsfälle in sechs Ländern dokumentiert: China, Thailand, Japan, Südkorea, die USA und Taiwan.

Empiriker und Empirie

Der rasante Anstieg der Fallzahlen macht, wie Der Spiegel formuliert, nun auch internationale Beobachter "stutzig". Es werden Zweifel an der Genauigkeit der Fallzahlen geäußert, die von den chinesischen Behörden veröffentlicht werden. Erinnerungen an die Sars-Epidemie des Jahres 2002 werden wach, als auf den Ausbruch einer neuartigen Infektion zu zögerlich reagiert und die Öffentlichkeit nicht rechtzeitig informiert worden war. Sicher scheint nunmehr, dass sich das Virus auch international ausbreiten könne. Man müsse sich deswegen vorbereiten, so Professor Drosten im "Spiegel", brauche sich aber keine Sorgen zu machen. "Wir haben einen sehr guten Pandemie-Aktionsplan", so Drosten, "der in solchen Fällen greift."

Doch die Risikowahrnehmungen gehen zu dieser Zeit signifikant auseinander. Viele Menschen in Asien bereiten sich in großer Eile auf eine Epidemie vor: In Hong Kong und anderen Teilen Asiens sind Gesichtsmasken und Handdesinfektionsmittel in kürzester Zeit ausverkauft. Taiwan hat bereits ein Exportverbot für Masken verhängt. Die Online-Plattform von Alibaba behauptet, in nur zwei Tagen 80 Millionen Masken verkauft zu haben. Die Gesundheitsbeamten der WHO am Genfer See hingegen lassen sich Zeit: Sie erklären am 23.01.2020 nach einer zweitägigen Dringlichkeitssitzung, sie seien sich uneins, ob es sich um einen internationalen Gesundheitsnotstand handele oder nicht. Die Lage sei jedoch so dringlich, dass man sich in einigen Tagen wieder versammeln wolle.

Für den Fall, dass das Virus dem gespaltenen Votum der WHO-Beamten nicht folgen und sich verbreiten sollte, gibt die WHO eindringliche Empfehlungen. "Es wird erwartet, dass ein weiterer internationaler Export von Fällen in jedem Land auftreten könnte", so die WHO. "Deswegen sollten alle Länder auf eine Eindämmung vorbereitet sein, inklusive aktive Überwachung, Früherkennung, Isolierung und Fallmanagement, Kontaktverfolgung und Prävention der Weiterverbreitung der 2019-nCoV-Infektion und sie sollten sämtliche Daten mit der WHO teilen." Der Generaldirektor der WHO erklärt, "dass der Ausbruch ein sehr hohes Risiko in China und ein hohes Risiko regional und global darstellt". Das Robert-Koch-Institut stuft die Gefahr für Deutschland zu dieser Zeit "als gering" ein.

Gemäß dem Situationsbericht der WHO vom 23.01.2020 wurden bereits 581 Fälle des neuartigen Coronavirus bestätigt, davon 571 Fälle in China. 17 Menschen sind gestorben. Die Fallzahl hat sich gegenüber dem Vortag um 267 erhöht und damit fast verdoppelt. Bestätigte Fälle gibt es nun in 25 chinesischen Provinzen sowie in Hongkong, Macau, Taiwan, Thailand, Südkorea, Japan und den USA. "Es wird erwartet, daß weitere Fälle in andere Länder exportiert werden und dass weitere Übertragungen vorkommen könnten." Unterdessen werden erste Verdachtsfälle aus Mexiko, Kolumbien, Brasilien, Schottland, Frankreich und Russland gemeldet. In Singapur und Vietnam werden erste Fälle bestätigt.