Auf der Suche nach der verlorenen Inkubationszeit

Seite 3: Zeit zu reden und Zeit zu handeln

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Während die Gesundheitsbürokraten am Genfer See sorgfältig abwägen, schreiten die chinesischen Behörden zur Tat. "Um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu stoppen", so präsentiert der Sprecher der "Tagesschau" am 23.01.2020 die Weltnachricht kurz vor dem Wetterbericht, "hat China mehrere Millionenstädte abgeriegelt". Es folgen Aufnahmen aus Wuhan, das unter Quarantäne gestellt Szenen aus einem Zombiefilm wachruft. Es gebe einen "massiven Andrang" auf Krankenhäuser. Um 10.00 Uhr am Vormittag war die Millionenstadt von der Außenwelt abgeriegelt worden. Dies, so ein Sprecher der WHO nicht unzutreffend, "ist beispiellos in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit". Insgesamt werden circa 50 Millionen Menschen unter Quarantäne gestellt.

Während die hochnervösen Chinesen zu historisch präzedenzlosen Maßnahmen greifen, sind andere gelassen. "Wir haben ein viel transparenteres China", erklärt der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn im Schweizer Luxusort Davos. Seit der Sars-Epidemie habe sich viel geändert. "Tatsächlich sind die Handlungen Chinas viel effektiver, bereits in den Anfangstagen", so Spahn zu einem Zeitpunkt, als die Effektivität der Maßnahmen völlig offen ist. Aber wirklich wichtig sei, dass man die Dinge in der richtigen Perspektive sehe. "In Deutschland sterben bis zu 20.000 Menschen an der Grippe. Also im Vergleich dazu nehmen wir das ernst, wir sind vorbereitet, wir bereiten uns weiter vor, aber man muss das in der richtigen Perspektive sehen."

Jens Spahn hält die Gesundheitssysteme Europas und der USA für gut gewappnet. "Sobald jemand mit einer Infektion ausfindig gemacht wird", so Minister Spahn, "kommt er auf die Isolierstation eines Krankenhauses. Wir werden sehr schnell erkennen, wen er in den vergangenen Tagen getroffen hat, und wir werden entscheiden, ob wir etwas unternehmen müssen. Also wir wissen wirklich, was wir tun und wir sind vorbereitet." Deutschland habe während seiner G20-Präsidentschaft sogar eine Echtzeit-Übung für Gesundheitsminister veranstaltet. Zur Ebola-Epidemie vor fünf Jahren habe man herausgefunden, dass man aufgrund von Intransparenzen viel zu spät reagieren könnte. "Das hat sich definitiv geändert", so Minister Spahn.

Zur selben Zeit warten internationale Forscher mit handfesten Informationen auf. Das Krankheitsbild sei dem von Sars sehr ähnlich. Von anfänglich 41 infizierten Personen in Wuhan hätten ein Drittel keinen Kontakt zu der vermuteten Ausbruchsstelle am Fischmarkt in Wuhan gehabt - ein deutlicher Hinweis auf die effiziente Übertragbarkeit des Virus unter Menschen.

Als besonders überraschend wird die Entdeckung asymptomatischer Infektionen eingestuft, welche den Ausbruch verstärken könnten. Das Virus habe das Potential, eine Pandemie zu verursachen. "Wir müssen auf der Hut sein, dass sich der aktuelle Ausbruch nicht zu einer anhaltenden Epidemie oder sogar einer Pandemie entwickelt", so ein Bericht am 24.01.2020. "Es ist jetzt die Zeit zu handeln."

"Kein Grund zur Sorge"

Das Coronavirus ist nun auch allabendlich in den Hauptnachrichten ein Thema. "Das neuartige Coronavirus", so die "Tagesschau"-Sprecherin am 25.01.2020, "breitet sich knapp einen Monat nach dem ersten Auftreten in China weiter aus." Die USA und Frankreich, so die beiläufige Meldung, wollten ihre Staatsbürger nun aus Wuhan evakuieren. "Dass erste Einzelfälle nun auch in Krankenhäusern in Frankreich bestätigt wurden", so die Stimme der "Tagesschau", sei "für Experten kein Grund zur Sorge." Professor Drosten erklärt: "Für mich ändert das Ankommen von Einzelfällen in Frankreich gar nichts an der Einschätzung der Lage." Die neuen wissenschaftlichen Daten aus China seien "viel wichtiger". Das Ganze sei "sehr, sehr ähnlich wie SARS". An deutschen Kliniken, so die Einschätzung der "Tagesschau", sei man vorbereitet.

Berichten der Washington Post zufolge hätten sich bereits zu dieser Zeit, Ende Januar, die täglichen Briefings amerikanischer Geheimdienstberichte überwiegend mit COVID-19 beschäftigt. Aus diesen Berichten sei die Gefahr, die von dem Virus ausgeht und dessen Potential, eine Pandemie zu verursachen, ersichtlich geworden. Doch nach dem historisch beispiellosen "Lockdown" von 50 Millionen Menschen bedurfte es keiner Geheimdienstberichte mehr, um das Ausmaß der Bedrohung zu erahnen. Mit einer unzureichenden Informationsgrundlage lassen sich verzögerte Reaktionen auf die Bedrohung nicht erklären - eher schon mit dem Unvermögen, auf hinreichende Informationen adäquat zu reagieren.

Wem die apokalyptischen Fernsehbilder aus China nicht Hinweis genug waren, der konnte sich auf die Prognosen ausgewiesener Fachleute stützen. Dreißig mal höher als offiziell bestätigt könnte die Zahl der Infektionen in Wuhan sein, warnten die Forscher der medizinischen Fakultät der University of Hong Kong University am 27.01.2020. Damit sei zwar noch längst nicht sicher, dass es zu einer Pandemie kommen werde. "Aber wir müssen darauf vorbereitet sein", so der Leiter des Teams, "dass diese spezifische Epidemie sich gerade zu einer globalen Epidemie ausweitet." Genau an diesem Tag wurde der erste Fall einer Infektion in Deutschland bestätigt.

PD Dr. Thomas Schuster war fester Autor im Feuilleton der FAZ und Hochschullehrer für Journalistik an der Universität Leipzig. Seine Bücher "Staat und Medien - über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit" und "Die Geldfalle - wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen" sind bei Fischer und im Rowohlt erschienen.