Auf der Suche nach der verlorenen Utopie

Schöne neue Cyberwelt und ein Abstecher zum Militär: Das Science Fiction Jahr 2002

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Während sich heute das allgemeine Gefühl verstärkt, tatsächlich in einer SF-Welt zu leben, ist die Idee einer besseren Welt vom überall grassierenden "Gegenwartschauvinismus" (Wolfgang Jeschke) zurückgedrängt worden. Die weitere Zukunft interessiert hauptsächlich als Rentenfrage. Gleich mehrere Artikel in der neuen Ausgabe des SF-Jahrbuchs, das von Jeschke im Heyne-Verlag herausgegeben wird, beschäftigen sich aber mit dem Thema der Utopie.

Was heute fehlt, sind nicht die technologischen Zukunftsvisionen, die von Cyborgs, Klons, Neurochips, Bewusstseinsdownloads alles aufbieten, was die Techniker und Naturwissenschaftler in ihren Laboren ausbrüten, sondern die sozialen Utopien. "Für technisch orientierte Zeitgenossen hieß die Utopie am Anfang des Jahrhunderts schlicht Cybertopia: eine bessere Welt dank Informations- und Kommunikationstechnologien", schreibt der SF-Autor und Futurologe Karlheinz Steinmüller in einem fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2100. Die soziale Utopie sei in eine globale der Kommunikationsnetze mutiert. Er lässt als Gründe für diesen Utopie-Mangel verschiedene Argumente Revue passieren: Das Ende der realsozialistischen Systeme habe den politisch-utopischen Anspruch diskreditiert; die Beschleunigung der allgemeinen Entwicklungen lasse keine Zeit für die Reife eines utopischen Konzepts, und die Ausstrahlungskraft der zumindest ansatzweise realisierten Technologien sei stärker als die der Ideen. Steinmüller selbst präsentiert keine Utopie der nächsten hundert Jahre, sondern treibt die Tendenz der Virtualisierung einfach auf die Spitze und hält seinen ironisch endenden Vortrag vor Cyborgs und Simulacra in "Virtualien".

Robert Hector erinnert in einem Beitrag noch einmal an die klassischen utopischen Visionen, ausgehend von Thomas Morus` "Utopia" (1516), das den Begriff prägte, und Campanellas "Sonnenstaat" (1623). Die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Solidarität ist in einer Welt, in der Millionen verhungern und auch Teile der bisher wohlstandsverwöhnten Ersten Welt in die Strudel der Globalisierung zu geraten drohen, keineswegs überflüssig geworden. Sein Beitrag mündet in eine Kritik der "kapitalistischen Vernunft".

Der SF-Herausgeber Sascha Mamczak meint, die utopische Literatur habe in der SF seit dem zweiten Weltkrieg eine "reflexive Auszeit" genommen. Die SF verschaffe den Utopien ein "literarisches Rückzugsgebiet", in dem über Fragen des menschlichen Zusammenlebens nachgedacht werden könne. Es stimmt, dass das Konstruieren einer imaginären Welt, die nach anderen Regeln der Physik, der Biologie und des Sozialen funktioniert, eine Grundfreiheit der SF bedeutet, die nicht gebunden ist an die realistische Abbildung von Wirklichkeit. Nur werden diese Szenarien seltener mit dem Anspruch geschrieben, ein Vorbild, ein Modell für die Wirklichkeit sein zu wollen.

"Ökotopia" von Ernest Callenbach aus dem Jahre 1975 ist ein Beispiel für eine ökologisch intendierte Utopie aus der jüngeren Zeit. Ansonsten sind positive Utopien im zwanzigsten Jahrhundert selten. Vielleicht ist das Zeitalter der utopischen Texte aber auch einfach vorbei. Die großen Sinn-Systeme wie die Religion, gegen die die klassischen Utopien geschrieben wurden, befinden sich im Niedergang. Die Komplexität der modernen Gesellschaften und die zunehmende Individualisierung lassen einen umfassenden allgemeingültigen Gesellschaftsentwurf kaum noch möglich erscheinen. Der "Traum" einer besseren Welt aber ist nicht ausgeträumt.

SF im Dunstkreis des Militärs

Eine "Utopie" ganz anderer Art präsentiert der Schriftsteller Thomas M. Disch in seinem Text "Republikaner auf dem Mars. SF als Militärstrategie". Es handelt sich um eine weitere deutsche Übersetzung eines Kapitels aus seinem Buch "The dreams our stuff is made of. How SF conquered the world" von 1998. Nachdem im letzten Jahrbuch SF als Sektenphänomen (siehe: Die Literatur am Abgrund der Zeit) abgehandelt wurde, beschäftigt Disch sich nun mit der Faszination der SF für die Raumfahrt und ihrer militärischen Nutzung.

Die seit einiger Zeit laufenden Tests für einen "Raketenschild" stehen in der Tradition der "Strategic Defense Initiative" (kurz: SDI) von Präsident Reagan, die dieser Anfang der achtziger Jahre ins Leben rief. Einige SF-Autoren, darunter Jerry Pournelle und Ben Bova, gefielen sich offenbar in der Rolle von Militärratgebern und propagierten SDI. Das ganze Arsenal an (fiktiven) Waffensystemen wurde in Konzeptpapieren aufgeboten: von boden- und raumgestützten Lasern über anfliegende Raketen rammende Satelliten bis hin zur Forderung, die Forschung von "Teilchenstrahlwaffen" zu forcieren. Disch nennt das Projekt "Reagans großen Bluff" und räumt ihm keine Chance auf Verwirklichung ein - damals SF geblieben, droht es heute in einem zweiten Anlauf auf technisch verbesserter Basis jedoch noch Realität zu werden.

Widersprechen möchte man Disch, wenn er Weltraumforschung per se als "abgehoben und gleichgültig gegenüber menschlichen Belangen" charakterisiert. Disch ist der Meinung, das ganze Raumfahrtprogramm sei eine Sache der rechten Republikaner, die dort noch einmal den Wilden Westen erobern wollen.

"Der Weltraum wird als die Neue Grenze dargestellt, wo die Misslichkeiten des gewöhnlichen Lebens - beschwerliche Jobs ohne Zukunft, niedriger Status - behoben werden sollen, wie es bei einer früheren Expansion in den amerikanischen Westen der Fall war. Der Weltraum," lästert er, "ist wie Texas, nur größer."

Dass politische Süppchen mit dem Raumfahrtprogramm gekocht, Raketenschilde für die Generäle und Weltraumhotels für die Reichen geplant werden, erschöpft aber nicht das ganze kulturelle Potenzial der Raumfahrt.

Ein umfangreiches Informationsangebot mit der Aufführung international vergebener SF-Preise, der Besprechung neuer Bücher, Filme, Hörspiele, Computerspiele aus dem Zeitraum 00/01 rundet das Buch ab.

Wolfgang Jeschke (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2002, Wilhelm Heyne Verlag, München 2002, 859 S., 19,95 EUR