Aus Sicht der Wissenschaftstheorie

Seite 2: Interessen leiten Klassifikationen

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Man könnte meinen, dass es hier nicht so viel zu diskutieren gäbe und Schneeflocken doch recht einfache Strukturen besäßen. Der Physikprofessor Kenneth Libbrecht vom California Institute of Technology, ein Spezialist für Kristalle und die Entstehung von Mustern im Eis, vergleicht aber vier verschiedene Klassifikationssysteme, die Schneeflocken in 10, 35, 41 oder gar 80 verschiedene Kategorien unterteilen.

Wer hat jetzt Recht? Wahrscheinlich hängt die Antwort auch davon ab, was man mit so einer Klassifikation anfangen möchte. Damit kommen menschliche Interessen ins Spiel, die sich schwerlich mit dem essenzialistischen Ansatz vertreten. Was ist das "Wesen" der Schneeflocken? Vielleicht gibt es keins. Bei einer Essenz wird in der Regel davon ausgegangen, dass sie unabhängig vom Denken der Menschen existiert, also nicht etwa erst durch unsere Einteilung entsteht, so wie die Anzahl der Protonen im Atomkern der Elemente.

Psychologische Essenz

Dass sich Essenzen nicht so leicht ausmachen lassen, scheint für viele Dinge zu gelten, die sich auf unterschiedliche Weise aus anderen Teilen zusammensetzen können. Ein häufiges Missverständnis ist, dass das Wesen von etwas immer eine natürliche Kategorie sein muss. Sigmund Freud wird beispielsweise manchmal unterstellt, er habe Passivität als die Essenz der Frau angesehen. Mit Blick auf die Originalquellen lässt sich das jedoch nicht halten. Es sprach eher von einer Neigung zum passiven Verhalten. Diese sei, so Freud, der Frau zudem auch gesellschaftlich aufgezwungen worden.

Dennoch zeigt das Beispiel, dass Essenzen ebenfalls psychologischer Natur sein können. Würde man aber tatsächlich behaupten, das Wesen der Frau sei die Passivität, dann müssten alle Frauen - und auch nur Frauen! - passiv sein. Das ist natürlich schon empirisch Unsinn. In der Idee einer Neigung kommt bereits zum Ausdruck, dass es kein prinzipieller Unterschied ist. Durch die Behauptung, die Neigung sei sozial angelernt, wird auch die Bedingung verletzt, dass Essenzen vom Menschen unabhängig existieren müssen.

Essenzialismus und Psychiatrie

Was bedeutet der essenzialistische Ansatz nun für die Klassifikation psychischer Störungen? Im 19. Jahrhundert orientierte man sich in der Psychiatrie am medizinischen Modell, demzufolge eine Krankheit durch einen bestimmten Erreger ausgelöst wird. So wie Tuberkulose von bestimmten Bakterien hervorgerufen wird, vermutete man auch für psychische Störungen bestimmte Mikroorganismen als Ursache.

Gestützt wurde diese Vermutung durch die psychiatrischen und neurologischen Symptome im Spätstadium der damals weit verbreiteten Syphilis: etwa Größenwahn oder fortschreitende Lähmung. Den dafür verantwortlichen bakteriellen Erreger entdeckte man schließlich 1905. Durch Antibiotika, man denke an die Entdeckung des Penicillins, das übrigens der ganzen Welt ohne patentrechtliche Einschränkungen zur Verfügung gestellt wurde, konnte man einige Jahrzehnte später das Auftreten der psychiatrisch-neurologischen Symptome verhindern.

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