Aus Sicht der Wissenschaftstheorie

Seite 4: Körper und Geist zusammen

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Genauso, wie Psychopharmaka die Psyche beeinflussen, wirkt Psychotherapie auf den Körper. Um die Wechselwirkung der beiden wusste die Menschheit wohl schon vor Jahrtausenden - etwa durch Verwendung von Rauschmitteln einerseits oder asketische Disziplin andererseits. Was der beste Ansatz für eine Therapie ist, wissen Betroffene wie Experten oft erst hinterher. Darum ist es auch falsch, das Psychosoziale und das Biologische gegeneinander auszuspielen, wie es etwa die Deutsche Stiftung Depressionshilfe kürzlich mit viel Medienaufmerksamkeit tat (Was sind Ursachen von Depressionen?).

Richtig verstanden ergänzen beide Sichtweisen einander. Wenn ich im nächsten Teil die molekularbiologische Psychiatrie kritisiere, dann liegt das nicht etwa an einer persönlichen Abneigung gegen dieses Forschungsgebiet, sondern schlicht daran, dass der Ansatz die Forschung stark dominiert, ohne zu halten, was er verspricht. Darunter leiden andere Ansätze, was auch den Patienten schadet. Das Verhältnis von Grundlagen- zu Anwendungsforschung einerseits, von biologischen zu psychosozialen Ansätzen andererseits muss stimmen und es muss sich am Patientenwohl orientieren - was könnte sonst Sinn und Zweck der Psychiatrie oder klinischen Psychologie sein?

Pragmatismus

Dieses Sowohl-als-auch-Denken macht sich der dritte wissenschaftstheoretische Ansatz zunutze, nämlich der Pragmatismus. Für diesen steht der praktische Nutzen der Kategorien im Zentrum: Lässt sich damit als Psychiater oder klinischer Psychologe gut arbeiten, lassen sich die Hilfesuchenden sinnvoll unterscheiden, funktionieren die Therapien hinreichend und kann man den Verlauf einer Störung gut vorhersagen?

Gemäß dieser Sichtweise sind philosophische Fragen darüber, was psychische Störungen eigentlich sind, nicht wichtig. Vielleicht sind sie sogar hinderlich, wenn sie eher Probleme auf- als praktische Lösungen abwerfen. Die Klassifikation kann gut sein, selbst wenn sie nicht naturwissenschaftlich untermauert ist; und sie kann auch gut sein, selbst wenn sie gesellschaftliche Normen und Werturteile widerspiegelt. Damit, dass Depression im DSM-III etwas anderes ist als im DSM-5, hat der Pragmatiker keine Probleme, solange er seine Arbeit damit gut erledigen kann.

Wissenschaftlich denkende Menschen werden die beiden letzten Ansätze vielleicht ablehnen, weil sie zukünftigen Klassifikationssystemen psychischer Störungen nicht den Weg weisen: Mit dem Sozialkonstruktivismus wird oft ein hohes Maß an Relativismus verbunden, alles scheint möglich; der Pragmatismus geht vom Status quo aus und wird schrittweise Veränderungen vornehmen, ohne auf einen festen Punkt hin zuzusteuern.

Verlockender Essenzialismus

Der Essenzialismus scheint in dieser Hinsicht verlockend einfach: Wir fragen die Welt und sie verrät uns ihr Wesen. Nach mehr als hundert Jahren wenig ergiebiger Forschung darf man aber wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit schlussfolgern, dass dieser Ansatz bei den psychischen Störungen nicht funktioniert.

Doch selbst wenn wir es hierbei nur oder hauptsächlich mit körperlichen Problemen zu tun hätten, würde daraus noch nicht folgen, dass sich dafür zuverlässige Biomarker finden lassen. Vielleicht reichen unsere Methoden, reicht unser Wissen schlicht nicht aus, der kranken Psyche wirklich auf den Grund zu gehen?

Wie der molekularbiologische Ansatz funktioniert, wird deshalb im vierten und letzten Teil ausführlich besprochen. Alle Beiträge finden sich auch im Telepolis-eBook: "Was sind psychische Störungen?: Grundlagenfragen, gesellschaftliche Herausforderungen, Alternativen zur Biologie".

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