Aus Sicht der Wissenschaftstheorie

Seite 3: Psychiatrie schafft sich selbst ab

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Beispiele wie dieses sind in der Geschichte der Psychiatrie aber die seltene Ausnahme geblieben. Zudem hat sie Krankheiten an die Neurologie "verloren", sobald man gesicherte Hinweise auf eine Gehirnstörung hatte. Das gilt beispielsweise für die Epilepsie, die man nach Hans Bergers Entdeckung des Elektroenzephalogramms (EEG) mit bestimmten Entladungen im Nervensystem in Zusammenhang bringen konnte. Vor Jahren spekulierte ich deshalb schon einmal in einem Fachaufsatz, dass die molekularbiologische Psychiatrie sich vielleicht selbst abschafft, wenn sie denn jemals erfolgreich wäre.

Der essenzialistische Ansatz psychischer Störungen steht also gleich doppelt unter Druck: Einerseits gibt es trotz intensivster Bemühungen seit mehr als hundert Jahren kaum gelungene Beispiele. Andererseits könnte die "Konkurrenz" durch die Neurologie der klinischen Psychologie und Psychiatrie den Garaus machen.

Alternative Biomarker

Dennoch ist das essenzialistische Denken über psychische Störungen weiter stark verbreitet. In Form sogenannter Biomarker spricht man jedoch nicht mehr hochtrabend vom Wesen einer Erkrankung. Dieses müsste, wie bereits gezeigt, nicht nur bei jedem Krankheitsfall vorliegen. Es dürfte umgekehrt auch nicht zu einer ganz anderen Krankheit gehören, so wie ein Kupferatom nicht auch gleichzeitig ein Zinkatom sein kann.

Für einen zuverlässigen Biomarker würde es bereits reichen, die Diagnose einer psychischen Störung beim Vorliegen beispielsweise eines Gendefekts oder eine Gehirnstörung sehr wahrscheinlich zu machen. Dieser Befund wäre dann gleichzeitig ein guter Kandidat für die Ursache und Behandlung der psychischen Symptome. Schließlich wäre die Klassifikation der Störungen ein Leichtes: Man müsste sozusagen nur das Buch der Natur richtig lesen, schon wüsste man, was Störung A von Störung B unterscheidet.

Allerdings hat auch der schwächere Essenzialismus in Form von Biomarkern das Problem, trotz tausender Publikationen jedes Jahr, die das Gegenteil suggerieren, an einem Mangel an guten Beispielen zu leiden. Die gefundenen Effekte sind oft zu schwach, damit praktisch unbedeutend und schließlich zu unspezifisch, da sie häufig auch mit einer ganzen Reihe anderer Störungen in Zusammenhang gebracht wurden.

Härtetest für Biomarker

Dank des 2013 erschienenen DSM-5, das in den ersten beiden Teilen ausführlicher diskutiert wurde, lässt sich eine Bilanz ziehen: Als man Ende der 1990er mit den Planungen für die fünfte Ausgabe des psychiatrischen Diagnosehandbuchs begann, standen Biomarker ganz oben auf der Agenda. Der Benchmark für den Erfolg des Ansatzes ist nun die Anzahl der Störungen, für die in der Zwischenzeit zuverlässige Biomarker gefunden wurden.

Das wirft zunächst die Frage auf, wie viele psychische Störungen es überhaupt gibt. Diese lässt sich für das DSM-5 gar nicht so einfach beantworten. Es hängt auch davon ab, wie man zählt. Die Ergebnisse liegen dann bei rund 150, 300 oder gar 600, wenn man Varianten als eigene Störungen zählt. Sagen wir schlicht, dass es mehrere Hundert sind.

Entscheidend ist nun, dass es für keine einzige dieser vielen Störungen ein zuverlässiger Biomarker in das DSM geschafft hätte. Der Frankfurter Neurologe Stefan Frisch diskutiert zwar eine Ausnahme für Demenzen. Doch kann man erstens fragen, ob das wirklich psychische Störungen sind und nicht neurologische, und zweitens sind die dort genannten Biomarker eher spekulative Anhaltspunkte für die Zukunft als klare diagnostische Kriterien für heute.

Nach wie vor müssen Psychiaterinnen oder klinische Psychologen vor allem nach den Symptomen ihrer Patientinnen und Patienten schauen, die sich in deren Denken, Erleben und Verhalten äußern; eben psychologisch, nicht biologisch. Man könnte damit schlussfolgern, dass das essenzialistische Denken sowie der molekularbiologische Ansatz psychischer Störungen gescheitert sind. In der klinischen Praxis funktionieren sie jedenfalls nicht; und das müsste in einer praktischen Wissenschaft wie der Medizin doch eine wichtige Rolle spielen!

Sozialkonstruktivismus

Ein Gegenmodell ist der sozialkonstruktivistische Ansatz. Für diesen sind psychische Störungen Definitionen, die in einer Gesellschaft und vor einem kulturell-historischen Hintergrund von Menschen gemacht, also konstruiert werden. In einem gewissen Sinne stimmt das trivialerweise, da die Kategorien von Fachleuten mit bestimmten Wissen und unterschiedlichen Interessen am Konferenztisch verabschiedet werden, wie bereits in den ersten beiden Teilen oder dem Interview mit dem Epidemiologen Peter de Jonge erklärt wurde ("Es gibt keine Depressionen"). Dieser sprach von einem Verfahren nach der BOGSAT-Methode. Das steht für: "Bunch Of Guys Sitting Around a Table", also eine Anzahl Kerle, die zusammen am Tisch sitzen.

Dabei können sich im Laufe der Zeit Definitionen ändern, wie es bei Depressionen im DSM-5 geschah. Dort wurde das Trauer-Kriterium für Depressionen aufgeweicht, wie im ersten Teil beschrieben. Andere Störungen verlieren ihr Dasein als eigenständige Kategorie, etwa die Asperger-Variante von Autismus. Sie ist im breiten Autismus-Spektrum aufgegangen. Wieder andere verschwinden gänzlich, so wie die sexuelle Aversionsstörung. Dabei ging es um eine starke Abneigung gegen genitalen sexuellen Kontakt mit einem anderen Menschen. Manche entstehen neu, so wie das Cannabisentzugssyndrom. Dieses ist durch Entzugserscheinungen nach starkem und langem Cannabiskonsum charakterisiert.

Historische Irrwege

Die stärksten Argumente für den sozialkonstruktivistischen Ansatz stellen aber wohl die soziopolitischen Irrwege von klinischer Psychologie und Psychiatrie dar. Das Beispiel Homosexualität wurde bereits erwähnt. Interessant ist dabei nicht nur das Nachvollziehen der Entscheidungsprozesse, die in den 1970er Jahren schließlich zum Entfernen gleichgeschlechtlicher sexueller Vorlieben aus der amtlichen Fassung psychischer Störungen führten.

Wissenschaftstheoretiker haben diese mit der Entscheidung der Internationalen Astronomischen Vereinigung verglichen, Pluto nicht länger als Planet anzusehen. Dabei fällt auf, dass sowohl unter Psychiatern als auch unter Astronomen Machtspiele und verschiedene Interessen eine Rolle spielen. Es "menschelt" also überall, selbst in der "harten" Wissenschaft.

Skurril muten aus heutiger Sichtweise vielmehr auch die damaligen wissenschaftlichen Versuche an, Menschen (und vor allem Männer) von ihren gleichgeschlechtlichen Neigungen zu "heilen". Im Namen von Wissenschaft und gesellschaftlichen Normen gingen manche bis zur Dekonditionierung mit Stromstößen, sogar Hirnoperationen und anschließender Überprüfung des "Therapieerfolgs" mithilfe angeworbener Prostituierter. Das geschah in einer Zeit, wohlgemerkt, in der sogar Pornografie noch in vielen Ländern verboten war!

Beispiel multiple Persönlichkeiten

Das Beispiel der Multiplen Persönlichkeitsstörung könnte amüsant sein, ginge es dabei nicht auch um schwer traumatische Erfahrungen einiger Menschen. In den 1970er und 1980er Jahren kam es in den USA zu einer Epidemie, nachdem Medien und Marketingexperten einige Fälle popularisiert hatten. Dabei erhöhte sich die Anzahl der unterschiedlichen Persönlichkeiten, unter denen die Patientinnen und Patienten angeblich litten: Waren es anfangs meistens zwei oder drei, hatten die Betroffenen schließlich im Mittel 17 verschiedene Persönlichkeiten mit immer bizarreren Zügen.

Es entstanden Romane, Filme, Brettspiele und sogar eigene "Split Bars" für Menschen mit multiplen Persönlichkeiten, wie der Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking ausführlich nachvollzog. In der amtlichen Fassung gibt es die Störung heute gar nicht mehr. Im DSM-IV von 1994 wurde dafür die neue Kategorie der Dissoziativen Identitätsstörung eingeführt. Kritiker behaupten, die Persönlichkeiten würden durch Therapeuten im Rahmen einer Psychotherapie nicht entdeckt, sondern selbst erzeugt.

Das frappierendste (ernst gemeinte) Beispiel aus der Medizingeschichte dürfte aber die Drapetomanie sein. Im Jahr 1851 veröffentlichte der nordamerikanische Arzt Samuel Cartwright in einer medizinischen Zeitschrift den Vorschlag, den unkontrollierbaren Drang eines Sklaven zur Flucht als psychische Störung aufzufassen. Ideen für eine "Therapie" lieferte er gleich mit: die richtige Balance zwischen Belohnen und Strafen, die die Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis gleich Kindern hält.

Definitionen und Probleme

Wie ich bereits vorher schrieb, hat es wenig Sinn, die heutige klinische Psychologie oder Psychiatrie immer wieder mit diesen historischen Beispielen anzugreifen. Schon in einem trivialen Sinne sind psychische Störungen menschengemachte Definitionen, siehe die Entstehung der amtlichen Fassung. Die Frage, welche nun die "echte" Depression sei, macht dies schon deutlich: die Emil Kraepelins (1856-1926), genannt "manisch-depressives Irresein", die nach DSM-III von 1980, die des DSM-5 von 2013 oder vielleicht erst die übernächste Definition im Jahre 2046?

Es ist wichtig, darum aber nicht die Probleme der Menschen weniger ernst zu nehmen oder für weniger real zu halten: Bloß weil psychische Störungen Konstrukte von Fachleuten sind, bilden sich Menschen psychische Probleme nicht ein! Zudem würde man auch das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man die körperliche Gebundenheit unseres Denkens, Erfahrens und Verhaltens ignoriert und damit biologische Ansätze von vorneherein ablehnt.

Selbst wenn - jedenfalls bisher - keine Essenzen psychischer Störungen gefunden wurden, ja nicht einmal zuverlässige Biomarker, dann sind die Probleme darum im Einzelfall nicht weniger biologisch. Es gilt Fall für Fall zu untersuchen, welche Störung primär auf gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen ist, welche mit den zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat und wo es primär um ein körperliches Problem geht, das übrigens auch persönliche Erfahrungen oder gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln kann.

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