Aus dem Schwarzbuch der deutschen Übersetzungen
Über Paulina Borsooks "Schöne neue Cyberwelt. Mythen, Helden und Irrwege des Hightech"
Auf ein Buch, dessen Erscheinungsgeschichte bereits ein Drittel eines anderen Buches - nämlich David Hudsons Rewired1 - füllte, ist man gespannt. Und mit Paulina Borsooks Werk über libertäre Ideologie in der Welt des Silicon Valley verhält es sich so. Unter dem Titel The Deadly Embrace sollte es bereits 1996 von HardWired Books veröffentlicht werden. Doch der Verlag kündigte den Vertrag nach kritischen Äußerungen Borsooks über die von Louis Rossetto und Wired vertretene libertäre Ideologie.2 Rossetto bestritt einen Zusammenhang von Vertragskündigung und Äußerungen, griff aber Borsooks Thesen scharf an.3 Schließlich veröffentlichte die Autorin statt eines Buches das berühmte Essay Cyberselfish4 - eines der ersten über libertäre Ideologie im High-Tech-Bereich.
Im letzten Jahr erschien in den USA nun doch noch ihr lange angekündigtes Buch über dieses Phänomen. In Deutschland hat sich der Deutsche Taschenbuchverlag ein Jahr mit der Übersetzung Zeit genommen. Ist sie deswegen besonders gut geworden? Nein! Das Buch strotzt vor Übersetzungsfehlern. Selbst die Schlüsselbegriffe libertarianism und technolibertarians werden falsch und - was noch schlimmer ist - inkonsequent übersetzt. Der deutsche Übersetzer verwendet für libertarianism unter anderem Technoliberalismus5, "spezifischer Neoliberalismus"6 und einfach Neoliberalismus.7. Dabei hätte ein Mitlesen in Borsooks Buch gereicht, um den Übersetzer auf die Folgen solchen Tuns aufmerksam zu machen:
Übersetzungsprogramm mit dem Namen "Hubert Beck"?
Es erscheint vielleicht zu verallgemeinernd, alle diese Leute in den einen Topf libertär' zu werfen, aber es ist das beste Wort, das ich zur Beschreibung einer derart tiefen und breiten, doch notwendig mehrdeutigen kulturellen Strömung finden konnte. Ich kenne keinen anderen nahe liegenden Fachbegriff [...]
schreibt Paulina Borsook zu ihrer Begriffswahl. Und konsequenterweise trennt sie deshalb zwischen "neoliberals" und "libertarians."8 Warum nur hat sich der Übersetzer nicht daran gehalten? Oder war hier vielleicht doch nur eine Übersetzungssoftware am Werk? Ein Blick an den Anfang des Buches ergibt: Entweder hat jemand ein nicht besonders leistungsfähiges Übersetzungsprogramm mit dem Namen "Hubert Beck" geschrieben, oder die Fehler gründen sich doch auf menschliches Versagen.
Gut - es ist schwierig, ein deutsches Wort für libertarianism zu finden. Aber "Neoliberalismus" heißt schon etwas anderes - diese Übersetzung ist also schlicht falsch (Vgl. Kapitalismus und Freiheit). Und auch "ein Freiheitlicher"9 ist zumindest in Österreich nicht das, was Borsook mit a libertarian meint. Scheute der Übersetzer vielleicht den Einsatz von Neologismen? Das kann kaum sein - an anderer Steller erfindet er nämlich munter Wörter wie "Extropisten."10 Auch mit dem Verwenden englischer Ausdrücke scheint er kein grundsätzliches Problem zu haben: "cryonics", "hive mind" und "nerd" werden im Original belassen.11
Die Fehlübersetzungen von libertarians und libertarianism wären nicht so schlimm, wenn Beck nicht auch noch das amerikanische liberal (in etwa sozialliberal) ebenfalls mit liberal übersetzen würde.12 Und wo Gegensätze mit dem gleichen deutschen Wort übersetzt werden, da bricht zwangsläufig Verwirrung aus. Hinzu kommt noch, dass er das Adjektiv libertarian unter anderem mit wirtschaftslibertär13 und technolibertarians mit Technolibertäre14 übersetzt. Gleichzeitig macht er aber auch aus dem amerikanischen liberal nicht nur ein deutsches liberal, sondern manchmal auch ein libertär.15 Wer da das Original nicht kennt, kann dem Buch nur mehr schwer folgen.
Die Übersetzung liefert auch jenseits der Schlüsselbegriffe haufenweise Material für ein Schwarzbuch der deutschen Übersetzungen. Schon bei der Überschrift hapert es. Das Huxley-Zitat von der schönen neuen Cyberwelt mag zwar ein Aufmerksamkeitsfänger für den deutschen Bildungsbürger sein - es widerspricht aber dem Inhalt des Buches. Utopische Dystopien wie die Huxleys sind Entstehungsbestandteil libertärer Ideologie (Vgl. Das Recht auf Unglück). Im Original heißt das Buch Cyberselfish: A Critical Romp Through The Terribly Libertarian World Of High-Tech16 und beschreibt exakt das, worum es im Buch geht. Der deutsche Titel suggeriert das Gegenteil: Huxleys alles kontrollierender Apparat in seiner Dystopie aus den 1930er Jahren17 ist gerade die ideologische Opposition der staats- und kontrollfeindlichen libertären Ideologie, um die es in Borsooks Buch geht. Das steht auch im Buch und wird von Borsook zur Schilderung eines der Widersprüche libertärer Ideologie geschildert.18 Hat der Erfinder dieses deutschen Titels das Buch gelesen? Vielleicht. Hat er es auch verstanden? Wohl kaum.
EuroTechnoSchweinefleisch
Eine Spezialität des Übersetzers ist der Umdrehungsübersetzung: So wird etwa aus value added in der Übersetzung added value - was daran deutscher sein soll, bleibt offen.19 Auch mit Analogien geht er recht sorglos um: So muss sich der Leser fragen, was er wohl meint, wenn er von "Fachhochschulen" (gemeint sind Land Grant Universities)20 und "Verwaltungswissenschaft" (gemeint ist "Business Administration" - also eigentlich "Betriebswirtschaft" - eine weitere der vielen Fehlübersetzungen) 21 spricht. Student übersetzt er in eindeutigem Schulzusammenhang mit Student22, coder (Programmierer) mit Kodier23 und geeks mit Freaks.24 Anthropologists gibt Beck gegen den Kontext nicht mit Ethnologen oder Kulturwissenschaftler sondern mit Anthropologen (Humangenetiker) wieder.25 Dafür sind ethnic studies (Minderheitenstudien) für ihn Ethnologie.26
Redensarten wie with chips on their shoulders (etwa mit arroganter Attitüde) - überträgt Beck einfach wörtlich - ohne sich um den Sinn zu kümmern.27 Auch EuroTechnoPork - eine Anspielung auf pork barrel (Geldzuwendungen der Regierung an örtliche Verwaltungsstellen, um deren Unterstützung zu gewinnen), mit der staatliche Technologieprojekte in Europa kritisiert werden - wird völlig sinnfrei mit EuroTechnoSchweinefleisch übersetzt.28
Weil Beck den Schlüsselbegriff increasing returns aus Netzwerkökonomischen Theorien offenbar nicht kennt und mit "steigende Gewinne" fehlübersetzt, gleiten weitere Teile des Buches ob der Übersetzung in die Unverständlichkeit ab und ergeben keinen Sinn mehr.29 Manche Sätze wie The FCC (die amerikanische Regulierungsbehörde für Funk- und Telekommunikation) is dead werden sogar ganz weggelassen.30 Sie waren wohl zu schwierig. Erst gegen Ende des Buches wird die Übersetzung etwas besser. Hier scheint sich Herr Beck langsam eingelesen zu haben. Am Schluss des Buches übersetzt er sogar liberalism mit Linksliberalismus.31
Ähnlich wie mit dem Text wurde mit dem Buchumschlag umgegangen. Das Original ziert vor einem roten (!) Hintergrund die rechte (!) Hälfte einer Hornbrille, das Glas zerkratzt, in der Mitte mit Klebeband geflickt, wie sie in zahllosen Highschool-Filmen das Erkennungszeichen des Nerds ist. Ein Cover, das tatsächlich genau das optisch darlegt, um was es Borsook geht. Preisverdächtig. Der Umschlag der deutschen Ausgabe zeigt dagegen eine Art Star-Wars-Todesstern vor blauem Hintergrund. "Machen wir doch was, was irgendwie nach Science Fiction aussieht" dachten sich die "Kreativen" in den Verlagsstuben wohl - und schufen jenes sinnfreie Nichts, das nun die Übersetzung ziert.
Testosteronvergiftete Typen mit arroganter Attitüde und zu viel Zeit
Was entgeht dem deutschen Leser nun durch diese unbrauchbare Übersetzung? Ein wichtiges und schlaues Buch, dessen Angriffe gegen libertäre Ideologie jedoch teilweise emotional und unsachlich geführt werden. So bezeichnet Borsook an einer Stelle libertäre Ideologie als Pest,32 die vorherrschende Internet-Kultur ist in ihren Augen paranoid und eine Welt von testosteronvergifteten Typen mit arroganter Attitüde und zu viel Zeit.33
Trotzdem hegt Borsook den Anspruch, die libertäre Ideologie nicht nur schildern, sondern auch erklären zu wollen. Dabei definiert sie, was dem Gebiet angemessen ist, libertäre Ideologie weniger mit einem expliziten Bekenntnis als vielmehr mit dem Vorhandensein eines Musters von Ideologemen:
Wäre man im Frankreich des 12. Jahrhunderts geboren, würde einem kaum auffallen, wie das Christentum jede der eigenen Bewegungen beeinflusste - ebenso verhält es sich mit libertärer Ideologie im Hightech. Unzählige Male habe ich in Diskussionen mit klugen, netten Hightech-Typen erlebt, dass sie verächtlich die Behauptung von sich gewiesen haben, Libertäre zu sein (nach dem Motto: ich bin doch keiner von diesen Verrückten), und umgehend eine klassisch libertäre Bemerkung über den dummen Staat, die Weisheit des Marktes oder Ähnliches von sich gaben.
Doch ihre Kernthese, warum libertäre Ideologie in diesem Bereich so stark vertreten ist, wirkt etwas simpel: Nämlich dass sich aus zu viel Arbeit am Computer ein Mangel an menschlichem Empfinden in der High-Tech-Branche ergibt:
"Wie viele politische Denkschulen machen die Technolibertären aus einer Persönlichkeitsstörung eine Philosophie."34
Abgesehen davon, dass sich z.B. die weit weniger libertären deutschen oder skandinavischen Computerkulturen mit dieser These nicht besonders gut erklären lassen, widerspricht auch die MIT-Hackerkultur oder die Stallman-Fraktion der Free-Software-Bewegung diesem in seiner Schlichtheit fast magischen Erklärungsversuch. Doch Paulina Borsook verallgemeinert in ihrem Urteil um Geeks nun mal gerne:
Die Vorstellung, aus Freude zu lesen, zum Beispiel Bücher - mit welchen indirekten Daten auch immer und möglichst nicht so utilitaristisch (wie, sagen wir, Belletristik) -, ist ihnen zutiefst fremd.
Science Fiction fällt für Borsook offenbar nicht unter die Belletristik - wie erklärt sie sich sonst den Einfluss der jeweiligen Lieblingslektüre auf das Werk von Lee Felsenstein (Heinleins Revolt in 2100) 35 oder Robert Morris (John Brunners Shockwave Rider).36 Das Heinlein-Postulat aus Revolt in 2100, dass Geheimhaltung der Grundpfeiler jeder Tyrannei ist 37, war nicht nur ein Teil der Ethik der amerikanischen Studentenrevolte der 1960er, sondern auch der der Hacker. 38
Noch mehr Schwierigkeiten als mit Geeks hat Borsook mit Extroprianern.39 Hier bemüht sie sogar das Stockholm-Syndrom der Identifikation mit dem Geiselnehmer als Erklärung, scheitert aber letztlich trotzdem und muss eingestehen, dass ihr die Quellen libertärer Ideologie im Technologiebereich so unergründlich bleiben wie "die Rückkehr der schrecklichen Siebziger-Jahre-Mode in den neunziger Jahren."40
Total-doll Hypernerd-Freunde
Ganz allgemein ist Borsooks Buch zu viel Erlebniserzählung und zu wenig Analyse. Es enthält zu viel persönliche Erfahrung, zu viele Absätze beginnen mit "Einer meiner total-doll41 Hypernerd-Freunde42, zu wenig Widersprüche libertärer Ideologie werden aufgezeigt und zu viel Empörung ins Feld geworfen. Borsook kann ihren Urteilsdrang nur schwer zügeln. Egal, ob es sich um die Qualität von beiläufig erwähnten Filmen wie Johnny Mnemonic oder um das Kunstverständnis ihrer Dates handelt: Für die Autorin sind die Attribute "gut" und "schlecht" fest mit jedem genannten Substantiv verbunden. Sie ist liebenswürdig in ihrer Forderung nach Philanthropie, penetrant in ihrer Anklage des aus ihrer Sicht schlechten Kunstgeschmacks der Geeks.43 Auf die Idee, dass Code selbst Kunst sein kann, kommt sie nicht.
Manche Widersprüche, die tatsächlich zum Entstehen libertärer Ideologie führen, erkennt sie dagegen nicht, weil sie das Funktionieren des amerikanischen Gesellschaftssystems als zu unproblematisch ansieht:
Nationale und bundesstaatliche Institutionen bieten ein funktionierendes Rechtssystem (nicht perfekt, aber besser als die meisten, in denen man leben könnte), das garantiert, dass die Gerichte Auseinandersetzungen über geistiges Eigentum und Wirtschaftsspionage regeln können.
Gerade die gesetzlichen Verschärfungen zum "geistiges Eigentum" zeigen jedoch, dass die nationalen und bundesstaatlichen Institutionen vorbei am allgemeinen Rechtsempfinden und an der Alltagspraxis auf Betreiben ihrer Wahlkampfkapitalgeber hin diese Auseinandersetzungen zwar regeln können - aber zu Ungunsten der Bevölkerung.
Nach Borsook haben Marx und Engels "viele richtige Dinge über die Ausbreitung des globalen Kapitalismus" zu sagen, "die am Ende unseres Jahrhunderts viel genauer zutreffen als am Ende des ihrigen."44
Rechnet sie jene Äußerung, dass der Staat nichts als "eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre" ist "und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie"45 nicht dazu? Tatsächlich ist von dieser Einsicht in der ersten Hälfte von Borsooks Buch nur wenig zu spüren. Dafür in der zweiten Hälfte umso mehr. Dort hat ihr Staatslob klare Grenzen:
Der Gedanke, dass der Staat den Gebrauch eines Stücks Software verbieten könne, unterscheidet sich kaum von dem, einen Text zu verbieten, noch ist er weniger abstoßend oder durchführbarer. Dass der Staat auch nur versucht, die Evolution des E-Commerce, das globale Wachstum des Netzes zu behindern, ist sinnlos, gegen jede Vernunft, gegen den Fortschritt und die angeblich hochgehaltenen amerikanischen Werte der Redefreiheit und freien Märkte. Algorithmen, die mathematischen Formeln, die zur Ver- und Entschlüsselung von Daten benutzt werden, sind ebenso geistige Artefakte wie literarische Werke, Heavy-Metal-Lieder oder die Produktionsprozesse von Cornflakes. Daher ist es eine fürchterliche Vorstellung, dass der Staat Ideen auf einen Index setzt, wie es die katholische Kirche mit Büchern gemacht hat [...].
Und am Schluss des Buches muss auch Paulina Borsook zugeben, dass es "beängstigend und unaufrichtig" erscheint, "in einer Zeit den Staat zu verteidigen, in der die Regierung [...] immer mehr mit uns als für uns macht."46 Einen dieser Eingriffe erkennt Borsook zwar direkt, aber leider ohne nähere Analyse (Vgl. hierzu [Teil 5 einfügen]) als wichtigen Einfluss auf die Entstehung und Verbreitung libertärer Ideologie im High-Tech-Bereich:
Für viele Leute im Hightech kommen ihre Radikalisierungserlebnisse von dem furchtbaren Umgang der US-Regierung mit den Grundsätzen des Rechts auf freie Rede und des Datenschutzes im Zusammenhang mit der technologischen Entwicklung.
Bionomie auf das Format eines Autoaufklebers reduziert
Wichtig und neu ist ihr Eingehen auf die Rolle der Bionomie für libertäre Ideologie. Für diese populären Metaphern libertärer Ideologie ist Borsooks Buch eine angemessene Polemik:
Bionomie auf das Format eines Autoaufklebers reduziert, liest sich so: Die Wirtschaft ist ein Regenwald.' Und man konnte solche Aufkleber in der Bay Area tatsächlich sehen. Das bionomische Argument lautet, dass ein Ökosystem wie der Regenwald weitaus komplizierter ist als jede Maschine, die man bauen könnte, womit gemeint ist, dass Maschinen und das Denken des Maschinenzeitalters Zeichen des schlechten alten ökonomischen Denkens sind. Niemand kann einen Regenwald managen oder erfinden, und Regenwäldern geht es am besten, wenn man sie in Ruhe sich entwickeln lässt, das ist dann zum Wohl all der glücklichen Affen, hübschen Schmetterlinge und lustigen Tapire, die darin leben. In unserem kapitalistischen Regenwald sind Organisationen und Industrien die Arten und Organismen. Wenn nun ein Konzern etwa für einen einzelnen Tapir steht, was entspricht im Regenwald dann einem einzelnen Menschen? Ein Mitochondrium? (Wobei Beck verlässlich unfähig "mitochondria" mit Fadenwurm fehlübersetzt).
Ein weiterer sehr interessanter Punkt wird von Borsook leider nur kurz angerissen, der des angel money47: Venturekapital und Börsenverluste übernehmen das, was im Fordismus Beschäftigungsprogramme und Steuern machten: sie begrenzen die Konzentration von Kapital und geben Leuten in nicht wirtschaftlichen Bereichen Arbeit. Diese Form des unabsichtlichen Wohlfahrtsstaates aus Anlegerdummheit, kombiniert mit Anlegergier gleicht in interessanter Weise sogar Ayn Rands Idee, staatliche Aufgaben mittels Lotterien durchzuführen.