Aus der bunten Welt der Medien

Der "Spiegel" entdeckt die Chaos-Tage in München

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Beim "Spiegel" scheint man noch fröhlich recherchieren, muntere Artikel verfassen und beim Schreiben fünf gerade sein lassen zu können. "Spiegel"-Texte haben halt grundsätzlich Gewicht, sorgen für Aufmerksamkeit und werden daher gern bundesweit in Agenturmeldungen verwurstet.

Das neueste Beispiel liefern jetzt die Chaos-Tage, die nach einem Bericht des Hamburger Nachrichtenmagazins in diesem Jahr in München stattfinden sollen. Warum auch nicht, denkt man da sofort spontan. München ist ja eine schöne Stadt. Immer nur Chaos in Hannover ist eh langweilig. Und schließlich hat der "Spiegel" für die Behauptung eine Quelle, die eigentlich nicht besser sein kann. Zitiert werden im Text nämlich "die Veranstalter des Punkertreffens", die im Internet ­ wo denn sonst auch? ­ "melden", dass sich die Szene dieses Jahr auf München statt wie sonst auf Hannover konzentriere. Aber die Veranstalter melden nicht nur, nein, sie nutzen inzwischen das Internet, um ihre Botschaften sogar zu verkünden ­ glaubt man dem "Spiegel":

Nach der "Kür des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten" habe sich die Situation aber "radikal geändert ". Stoiber eine die Anhänger der Chaostage auf eine Weise, wie es "weiland nur Franz Josef Strauß fertig brachte", verkünden die Punks.

Und dann kündigen sie, die Punks oder deren Veranstalter, Ereignisse an, "die den Verantwortlichen schon jetzt Sorgenfalten bescheren dürften". Am Schluss der Meldung werden natürlich auch noch die Spielgefährten der Punks erwähnt, also "die bayerischen Sicherheitsbehörden und der Verfassungsschutz", die angesichts der Aufrufe im Internet ebenfalls Krawalle befürchten. ­ Kurzum: eine "Spiegel"-Geschichte, die so brisant ist, dass sie von der Nachrichtenagentur dpa am vergangenen Wochenende sofort aufgegriffen worden ist und dann bundesweit in unseren Tagezeitungen die Runde gemacht hat.

Was uns wiederum sofort veranlasst hat, "die Veranstalter des Punkertreffens" kurz anzumailen. Um mal nachzufragen, ob denn was dran sei an dem Gerücht, dass die TV-Rechte der Chaos-Tage von ihnen längst an Kirch-Media verkauft worden sein - mit der lukrativen Absicht, das Chaos live und ausschließlich im Pay-TV zu übertragen. - Doch bisher hat sich Karl Nagel leider nicht gemeldet.

Denn die vom "Spiegel" entdeckten Veranstalter sind in Wirklichkeit eine einzige Person: Karl Nagel, der in den neunziger Jahren in den Medien zur Chaos-Tage-Legende reifte, inzwischen aber in Hamburg eher eine ruhige Kugel schiebt. Und wer Nagel kennt, der weiß, dass er zu allem Lust hat, bloß nicht zum Veranstalten von Chaos-Tagen in München.

Das hätte übrigens auch der "Spiegel" schnell mit einem Ortsgespräch herausfinden können, doch der schreibt lieber ab: aus einem Text, der seit Anfang dieses Jahres auf der inzwischen nur noch selten aktualisierten Chaos-Tage-Seite von Karl Nagel steht und über den bereits am 8. Februar die Netzeitung berichtet hat. Und auch die Zitate aus dem Munde der "Veranstalter" stammen tatsächlich wortwörtlich von dieser Netzseite.

Wenn der "Spiegel" seine Quelle sich etwas genauer angeschaut hätte, dann wäre er schnell auf einen kurzen Text von Karl Nagel gestoßen, den wir als schönes Schlusswort zu dieser Medien-Posse gern zitieren:

Die bunte Welt der Journaille
Ich gebe zu, es hat mir immer verdammt viel Spaß gemacht, an und um die Chaos-Tage herum einen Stapel Zeitungen zu kaufen. Es ist aber auch wirklich faszinierend, welch bunte, gruselige und total verschiedenartige Geschichten sich sogenannte "Journalisten" einfallen lassen, um ihre Artikel verkaufen zu können. Da fließt das Blut dann literweise aus der Zeitung - und das nicht nur bei BILD!