Ausgangssperre nur für Arme in Madrid
Nachdem sechs Wochen die Lage beschönigt wurde, greift die rechte Regionalregierung nun doch zum teilweisen Lockdown, um eine zweite allgemeine Ausgangssperre zu vermeiden
Schon vor sechs Wochen hatte sich klar abgezeichnet, was auf die spanische Hauptstadtregion Madrid zukommt. Das wollte die Rechtsregierung in Madrid im Tourismussommer genauso wenig wahrhaben wie die sozialdemokratische Zentralregierung - und im Ausland ließ man sich zum Teil mit geschönten Zahlen an der Nase herumführen. Doch es war klar, dass sich die Realität und dauernd steigende Infektionszahlen nicht lange verheimlichen lassen würden. Inzwischen füllten sich die Krankenhäuser und die Intensivstationen in Madrid wieder mit Coronaviruspatienten, während Madrid unter den Augen der sozialdemokratischen Zentralregierung zum zentralen europäischen Hotspot wurde.
Das spanische Gesundheitsministerium hat am Dienstag erneut 241 Tote gemeldet, 106 davon allein in Madrid. In den vergangenen sieben Tagen seien 468 Menschen an Covid gestorben, 171 in Madrid.
Da inzwischen die Krankenhäuser und ihre Intensivstationen wie im Frühjahr wieder an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen und sich erneut in Madrid eine Katastrophe wie im Frühjahr abzeichnet, hat die rechte Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso am Montag schließlich doch Maßnahmen umgesetzt und eine Ausgangssperre für verschiedene Teile der Region verhängt.
Betroffen sind knapp eine Million von gut 6,5 Millionen Menschen in Madrid, allerdings bisher nur die, die in den ärmeren südlichen Stadtteilen und den angrenzende Städten leben. Das sorgt für massive Empörung. Zudem wurden 37, für viele Bewohner unbekannte "Gesundheitsbezirke" gewählt, deren Grenzen zum Teil quer durch die Stadtteile verlaufen. So befindet sich bisweilen eine Straßenseite im Lockdown, die gegenüberliegende nicht. Der Journalist Antonio Maestre, der für die Zeitschrift "Marea" arbeitet, bringt die absurde Auswahl in eldiario.es auf den Punkt. Obwohl die Geschäftsmeile im Herzen Madrid mehr festgestellte Infektionen als die ärmere Stadt Fuenlabrada ausweist, wurde sie in Quarantäne genommen. Sogar Lavapíes im Zentrum wurde ausgespart, das fast doppelt so viele Infektionen wie Fuenlabrada feststellt.
Sogar die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung fragt angesichts der umstrittenen Maßnahmen: "Lockdown nur für Arme?" Die Frage lässt sich leicht mit Ja beantworten. Sinnvoll ist das Vorgehen aber ohnehin nicht. Denn der ärmere Teil der Bevölkerung muss weiter zur Arbeit, um die Wohnungen der Reichen zu reinigen und um sie in Kneipen und Restaurants zu bedienen. Es ist das bekannte sinnbefreite Handeln einer rechten Regionalregierung, die sich nur durch Stimmen der rechtsextremen VOX an der Macht hält.
Die arme Bevölkerung wird deshalb mit harten Maßnahmen und einer Ausgangssperre überzogen, um Aktivitäten zur Virusbekämpfung vorzutäuschen. Im Kern geht es der Regionalregierung aber um etwas anderes: "Wir müssen unbedingt einen neuen Alarmzustand vermeiden", rechtfertigte Ayuso ihr Vorgehen. Damit das wirtschaftliche Leben nicht erneut völlig zum Erliegen kommt, muss eben nun der ärmere Teil der Bevölkerung drakonische Maßnahmen in der Hoffnung über sich ergehen lassen, dass darüber Infektionsraten allgemein gesenkt werden könnten. Die betroffenen Menschen dürfen ihre Wohnung derzeit nur noch verlassen, um zur Arbeit oder in die Schule zu gehen oder um sich um kranke und bedürftige Menschen kümmern.
"Das ist kein Lockdown, das ist Segregation"
Schon am Wochenende kam es zu massiven Protesten gegen dieses Vorgehen, die in den betroffenen Gebieten als "stigmatisierend, diskriminierend und ungerecht" angesehen werden, wie es die Dachorganisation der Anwohnerverbände in einem Manifest schreibt. Die FRAVM fordert deshalb, entweder alle oder keinen Stadtteil abzuriegeln. Viele betroffenen Bewohner sehen das ähnlich. "Unsere Stadtteile sind keine Gettos", riefen zum Beispiel Bewohner im Stadtteil Villaverde bei Protesten.
Auf einem Transparent war zu lesen: "Du willst, dass ich im Haus bleibe, nachdem ich in einer voll besetzten Metro die halbe Stadt durchquert, nachdem ich deine Straße gesäubert, deinen kranken Vater gepflegt, dir Essen serviert oder ein Paket von Amazon gebracht habe." "Das ist kein Lockdown, das ist Segregation", wurde das zum Beispiel Vorgehen im Stadtteil Vallecas bewertet und der Rücktritt von Ayuso gefordert. Auf Twitter gibt es einen entsprechenden Hashtag: #NoEsConfinamientoEsSegregación. Wegen der massiven Polizeipräsenz riefen die Menschen mit erhobenen Händen in Vallecas auch: "Das sind unsere Waffen."
Dass die Maßnahmen reichlich willkürlich sind, haben verschiedene Tageszeitungen schon herausgearbeitet. So wird offiziell von der Regionalregierung behauptet, dass man Gesundheitsbezirke mit 1000 Covid-Fälle pro 100.000 Einwohner unter die merkwürdige Quarantäne gestellt habe. Aber unter den 37 gab es schon am Montag drei (Francia, Las Margaritas und Sánchez Morate), die nicht auf die Zahl 1000 kamen. Dafür gab schon fünf Bezirke (Doctor Trueta, Las Fronteras, Lavapiés, Miguel Servet und Sierra de Guadarrama) die zum Teil sogar sehr deutlich über der magischen Zahl 1000 lagen. Trotz allem erhielten sie keine Ausgangssperre. Inzwischen wurde nachgelegt. Jetzt sind es schon 16 Gesundheitszonen, die die magische Marke von 1000 festgestellten Neuinfektionen überschreiten, aber weiter nicht unter Quarantäne gestellt werden.
Neoliberale Konservative haben in Madrid das Gesundheitssystem gefährlich zusammengespart
Angesichts des Chaos in Madrid, wo das Virus seit langem völlig außer Kontrolle ist, kann man von jeder Reise in die spanische Hauptstadtregion nur weiter abraten. Die Lage dort ist auch aus anderen Gründen fatal, denn lange Jahre unter den neoliberalen Konservativen haben auch dafür gesorgt, dass das Gesundheitssystem zusammengekürzt wurde. So verfügt Madrid in der Primärversorgung nur noch über 6,8 Ärzte pro 10.000 Einwohner, nur in den Exklaven Ceuta und Melilla ist die Lage noch schlechter. Im Durchschnitt sind es 7,5.
Madrid ist aber auch die Region, in der besonders in den letzten Jahren im Gesundheitswesen privatisiert wurde. Da auch die Bezahlung dort schlecht ist, im Durchschnitt verdienen Ärzte brutto 51.000 Euro im Jahr, also noch schlechter als im Nachbarland Portugal, kehren immer mehr Ärzte wegen Überlastung, schlechter Arbeitsbedingung und Bezahlung dem Madrider Gesundheitswesen wie Cristina Sanz den Rücken. Sie spricht von "strukturellen Problemen", die lange Jahre "fehlender Investitionen" und "Kürzungen nach Kürzungen" hervorgerufen hätten.
In Madrid und Andalusien stellt auch Euromomo längst wieder eine deutliche Übersterblichkeit fest. Dass sich die Lage in Andalusien, das ebenfalls von der Rechten mit Unterstützung von VOX regiert wird, sehr negativ entwickelt hat, darauf hatte Telepolis mehrfach aufmerksam gemacht. Auch dort waren die Zahlen offensichtlich geschönt.
Insgesamt weist Spanien erneut die höchste Übersterblichkeit in Europa aus - wie im Frühjahr. Offiziell sollen in Spanien bisher gut 30.000 Menschen am Coronavirus gestorben sein. Auch diese Zahl ist geschönt. Sogar das Statistikamt (INE) stellte für das Frühjahr schon bis zum 24. Mai eine Übersterblichkeit von 44.000 fest. Bekannt ist, dass man viele alte Menschen - gerade in Madrid - in Altersheimen sterben ließ, die nie auf das Virus getestet wurden und in der Statistik nicht auftauchen.
Der rechten Regionalpräsidentin Ayuso sprang ausgerechnet der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez bei
Sánchez traf sich am Montag mit Ayuso in deren Amtssitz. In einer nationalistischen Aufwallung wurde vereinbart, nun eine Kommission zu gründen. Für viele Linke im Land ist es absolut unverständlich, dass Sánchez der "politischen Leiche" beigesprungen ist, die eine "Gefahr" für die Bewohner sei. Die bekannte Autorin und Journalistin Cristina Fallarás schreibt in einem offenen Brief an Sánchez, dass es sich um eine "Beleidigung für Millionen Bürger" handelt. Besonders nervt die Journalistin, dass Sánchez deren "rassistische" und "faschistische Kriminalisierung" unkommentiert stehen ließ, mit der Ayuso "Krankheit, Einwanderung und Kriminalität vereint".
Mit diesem unverdaulichen Brei versuchte Ayuso wieder einmal von dem grandiosen Versagen ihrer Rechtsregierung abzulenken. Für sie ist das Coronavirus scheinbar ein Polizeiproblem, weshalb sie auf angeblich "2500 Beamten der Guardia Civil und der Nationalpolizei" abgestellt hat. (F) Ayuso, die für Aussprüche ohne Sinn und Verstand bekannt ist, verstieg sich zu sogar zu der Aussage, dass es "ungerecht ist, Madrid wie andere Regionen zu behandeln". Sie forderte eine noch stärkere Sonderbehandlung für die ohnehin privilegierte Hauptstadtregion.
Per Twitter wurde auch über die gemeinsame Pressekonferenz zwischen Sánchez und Ayuso nach dem Treffen massiv geätzt, die vor einem Meer spanischer Fahnen zelebriert wurde. Der ehemalige baskische Justizminister Joseba Azkarraga meinte dazu, dass man wohl gedenke, das "Biest" Coronavirus "mit den Stöcken daran tot zu prügeln". Andere sprechen angesichts der Show von einer "Madrider Vorherrschaft" und von einem "Schwachsinn im Quadrat". Einer, der seit 41 Jahren in Madrid lebt, fragt sich, ob man noch "hinterwäldlerischer" sein kann. "Gibt es wirklich in Madrid viele Menschen, die so denken?"
Und auch in seiner Partei, die über den peinlichen Auftritt von Pedro Sánchez weitgehend schweigt, ist man in Teilen ziemlich entsetzt. Statt Ayuso beizuspringen, die seine PSOE in der Hauptstadtregion über einen Misstrauensantrag eigentlich stürzen will, hatten vor dem Treffen Parteilinke gefordert, die Region endlich unter Zwangsverwaltung nach Paragraph 155 zu stellen, um weitere Tode zu verhindern. Damit sollte auch dafür gesorgt werden, dass das Geld zur Bekämpfung der Pandemie nicht in den Händen von Ayusos Freunden landet, "die aus der Pandemie ein Geschäft machen". Der linke PSOE-Flügel weist in seiner Erklärung auch auf die fehlenden Ärzte, auf die fehlende Covid-Nachverfolgung und Verschwendung von Geldern in Nothospitälern hin. Überschrieben ist die Erklärung mit dem vielsagenden Titel: "Sie lassen uns sterben."
Doch Sánchez hat auch die parteiinterne Kritik überhört und sich ins nationalistische Boot mit der Ultra-Ayuso gesetzt und ihr nun Hilfe versprochen. So hatte Ayuso auch den Einsatz des Militärs gefordert. "Wir brauchen Hilfe der Streitkräfte bei der Desinfektion und zur Verstärkung der Polizei, damit das Gesetz durchgesetzt wird", erklärte sie.
Man darf davon ausgehen, dass dieser Bitte entsprochen wird, denn, so berichtet El País, die der sozialdemokratische Regierung sehr nahe steht, bot Sánchez genau einen Militäreinsatz an und eine entsprechende Operation sei schon vorbereitet. Das ist wohl der einzige Plan, den Sánchez bisher hat, derweil wird weiter Zeit verschwendet, während in einer Kommission über das weitere Vorgehen debattiert wird.
Um nicht komplett mit Sánchez in einen Topf geworfen zu werden, setzt sich der Koalitionspartner Podemos leicht von dem Sozialdemokraten ab. Podemos-Chef Pablo Iglesias erklärte, die Pandemie werde "nicht mit Polizei oder Militär, sondern mit Ärzten und Pflegern und Profis im öffentlichen Dienst bekämpft". Er erinnerte auch daran, dass die Zentralregierung der Regionalregierung 3,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat. Zur fehlenden Kritik von Sánchez an der Ayuso-Politik sagte Iglesias, man sei zur Hilfe "gezwungen". Auf die Frage, ob das bedeute, auch mit deren Vorgehen einverstanden zu sein, meinte aber auch er nur wachsweich, dass er das nicht glaube.
Sánchez Gesundheitsminister Salvador Illa empfiehlt allen in der Hauptstadtregion, sich "freiwillig" eine Ausgangssperre aufzuerlegen. Dass Madrid einen allgemeinen Alarmzustand ausrufen sollte, sieht er weiter nicht. Wie im Frühjahr denkt die Zentralregierung auch weiter nicht daran, den Hotspot endlich abzuriegeln. So können die Bewohner also weiterhin das Virus im ganzen Land verbreiten.