Ausländer in Japan: Honne oder Tatemae?
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Aufgrund der Vergreisung der Bevölkerung werden ausgerechnet von der nationalistischen Regierung mehr Ausländer ins Land gelassen, es fehlen Arbeiter, während die Akademiker-Arbeitslosigkeit hoch ist
Ironischerweise wird es der Amtszeit des rechtskonservativen japanischen Ministerpräsidenten Shinzō Abe beschieden sein, eine soziale Revolution in Gang gesetzt zu haben, die das Selbstverständnis der Japaner erschüttern könnte. Ausgerechnet unter seiner Regierung erlebt das traditionell isolationistische und fremdenskeptische Land einen bisher nie gekannten Zustrom von Ausländern. Ihre Zahl ist seit dem Amtsantritt Abes vor fünfeinhalb Jahren geradezu explodiert.
Diese Politik entstammt weniger einer pragmatischen Einsicht oder einer plötzlichen Wandlung der regierenden rechtsnationalistischen Liberaldemokratischen Partei, kurz LDP. Vielmehr war es eine pragmatische, wenn auch desperate Entscheidung, zu der die Regierung gedrängt wurde: Japans Bevölkerung schrumpft derart rasch, dass dem Land Arbeitskräfte ausgegangen sind.
In dieser historischen Entscheidung geraten zwei unterschiedliche Interessen aneinander. Die Nationalisten halten am Mythos der ethnischen Homogenität um jeden Preis fest und befürchten eine Gefährdung der "einzigartigen Kultur Japans" durch die Fremden. Zahlreichen Aussagen zufolge wären sogar führende Politiker bereit hinzunehmen, wenn sich Japans Bevölkerung innerhalb der kommenden 100 Jahre halbieren würde. Sie argumentieren mit knappen Ressourcen, die künftig einer kleineren Bevölkerung ausreichend zur Verfügung stünden. Große international agierende Unternehmen und Unternehmerverbände drängten hingegen seit Jahren auf eine Öffnung des japanischen Arbeitsmarktes für Immigranten mit der Warnung, ohne sie würde das Land das Niveau seiner Industrieproduktion nicht halten können. Auch die nahenden Olympischen Spiele in Tokio brachten die Regierung unter Zugzwang. Es fehlen Arbeiter auf den Baustellen, viele mussten für Abes Prestigeprojekt von der durch den Tsunami von 2011 verwüsteten Nordostküste Japans abgezogen werden. Abe hat ein Naheverhältnis zur Keidanren, dem "Verband der Japanischen Wirtschaftsorganisationen", gleichzeitig muss er aber auch Stimmen der Ultrarechten von Nippon Kaigi, einer rechtsnationalistischen Organisation und seines konservativen Stammelektorates beachten. Im Februar 2018 sagte Shinzō Abe: "Während wir zu unserer Position gegen die Etablierung einer Einwanderungspolitik stehen, wollen wir Beschränkungen in Bezug auf die Aufenthaltsdauer für ausländische Spezialisten und technische Experten einführen. Indem wir uns auf Bereiche konzentrieren, wo echter Bedarf besteht - vorausgesetzt, dass wir Ausländern nicht erlauben, Familienmitglieder mitzunehmen - würden wir gerne systemische Veränderungen erwägen."
In einer für die japanische Ausdrucksweise typisch vagen Wortwahl meinte der Staatschef demnach, dass eine weitere Öffnung, vor allem für unqualifizierte Arbeiter zwar unabdingbar sei, allerdings mit der Einschränkung, dass es diesen Menschen verwehrt bleiben werde, Teil der japanischen Gesellschaft zu werden. Nach einer festgelegten Periode müssten sie wieder in ihre Länder zurück. Diese Periode wurde erst kürzlich von drei auf maximal fünf Jahre ausgedehnt, eine geplante Gesetzesnovelle wird unter bestimmten Kriterien zusätzliche fünf Jahre erlauben.
Japanische Lösung
Bei der Migrationspolitik entschied man sich für eine "japanische Lösung". Das soziale Konzept von Honne und Tatemae bezeichnet in Japan den Kontrast zwischen den eigenen persönlichen Gefühlen, Wünschen und den Äußerungen und dem Benehmen nach außen, also der Fassade, die von der Gesellschaft erwartet wird. Das ist das stets freundliche japanische "Gesicht" in der Öffentlichkeit.
Im weitesten Sinne dient dieser Verhaltenskodex der Erhaltung der gesellschaftlichen Harmonie. In diesem Geiste werden nun unqualifizierte Gastarbeiter in großer Zahl ins Land geholt, ohne diese als solche zu bezeichnen und ohne sich seitens der Regierung einer öffentlichen Debatte über Einwanderung stellen zu müssen. Dass ausgerechnet nationalistische Politiker, allen voran der Premierminister Shinzō Abe, diese Diskussion unterdrücken, zeugt von der puren Not, die sie antreibt. Offiziell verbietet die Regierung Ausländern, unqualifizierte Tätigkeiten auszuüben, eingeladen werden ausschließlich hochqualifizierte Fachleute für eng definierte Industriesparten.
Andererseits werden im Rahmen des sogenannten "Foreign Trainee Program" "technische Praktikanten", oder "Sprachstudenten" aus Entwicklungsländern, die in Japan offiziell die Sprache und einen Beruf erlernen sollen, mit einem Studenten-Visum ins Land geholt. Die Zahl dieser "Praktikanten" und "Studenten" beläuft sich derzeit auf gut eine halbe Million Menschen und soll bis 2024 um weitere 500.000 aufgestockt werden.
Die so angeworbenen Menschen sollen spätestens nach fünf Jahren in ihre Länder wieder zurückkehren - zumindest theoretisch. In Wirklichkeit haben sie in den letzten Jahren das Bild japanischer Städte nachhaltig verändert. Nepalesische Restaurants, chinesische und vietnamesische Tante-Emma Läden und nicht-japanisch aussehende Schulkinder sind für die meisten Japaner eine gänzlich neue Erfahrung. Windige Vermittlungsagenturen für Allerlei und private Sprachschulen von zweifelhafter Qualität sprießen aus dem Boden.
2017 stieg die Zahl der Ausländer im Vergleich zum Jahr davor um fast 7 Prozent auf über 2.47 Millionen Menschen an, 1.28 Millionen davon waren Gastarbeiter. Bei den Letztgenannten gab es eine Steigerung um 18 Prozent. Ausländer machen derzeit 1.95 Prozent der Bevölkerung Japans aus - im Vergleich zu anderen OECD Ländern wenig, doch allein 2015 kamen knapp 400.000 Arbeitsmigranten nach Japan. Nach Deutschland, den USA und Großbritannien war es die höchste Zahl unter allen entwickelten Ländern. Der Trend ist also eindeutig. Allerdings beinhaltet die Gesamtzahl der Ausländer auch ca. eine Million Menschen koreanischer und chinesischer Abstammung, die seit Generationen in Japan leben, teilweise japanische Namen tragen und ihre Muttersprachen verlernten, denen dennoch die Staatsbürgerschaft verwehrt bleibt. Auch bei den ca. 170.000 Brasilianern, die in Zeiten des Wirtschaftsbooms als billige Arbeitskräfte ins Land geholt wurden, handelt es sich in überwiegender Zahl um ethnische Japaner, deren Vorfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in das südamerikanische Land emigriert waren. Trotz ihres japanischen Aussehens und ihres kulturellen Hintergrunds sind sie mit Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert.
Die meisten der Neuankömmlinge stammen aus China, gefolgt von Vietnam, Philippinen und Nepal. Junge Nepalesen fallen aufgrund ihres Äußeren besonders auf. Die meisten kommen mit einem Studentenvisum ins Land. Schon in ihrer Heimat müssen sie sich verpflichten, in Japan einen Sprachkurs zu absolvieren, der aus eigener Tasche zu bezahlen ist. Nach dem Unterricht, so der Deal der Rekrutierungsfirmen, können sie sich bis in späte Abendstunden und am Wochenende in Fabriken und Betrieben als "Trainees" etwas dazu verdienen. Der Stundenlohn liegt zwischen 700 und 1000 Yen (5 bis 8 Euro). Davon sind die Sprachschule, die Wohnung und die Verpflegung zu bezahlen - keine leichte Aufgabe in einem Land mit deutlich höherem Preisniveau als in Westeuropa.
Weil sie offiziell als nicht angestellt gelten, sind sie rechtlos und auf das Wohlwollen ihrer Arbeitgeber angewiesen. Erst in April 2018 machten Fälle mehrerer Vietnamesen Schlagzeilen, die, statt wie vereinbart, bei einer Baufirma ausgebildet zu werden, zu Aufräumarbeiten an kontaminierten Orten in Fukushima oder gar am Gelände des havarierten Atomkraftwerks eingesetzt wurden. Dabei hatte die Firma ihre Gefahrenzulagen einbehalten. Andere vietnamesische Arbeiter berichteten von Misshandlungen, Zahlungsweigerung, wahllosen Kündigungen oder von vertuschten Arbeitsunfällen. Die Anzahl der Vietnamesen hat sich innerhalb von fünf Jahren vervierfacht und lag Mitte 2017 bei rund 230.000. Ähnlich ist die Entwicklung bei chinesischen Migranten. Diese tendieren allerdings dazu, selbst kleine Unternehmen, etwa Restaurants oder Geschäfte zu gründen.
Die Regierung möchte sich die "richtigen" Ausländer rauspicken. Touristen und geladene "Praktikanten" sind willkommen, denn sie bleiben nur vorübergehend. Andere Fremde sind nach wie vor unterwünscht. Wer es als politischer Flüchtling ins Land schafft, Syrer oder Rohingyas aus Myanmar etwa, hat auf japanischem Boden keine Chance. Japan erledigte 2017 nur 20 Asylanträge positiv und das bei einer Rekordzahl von 20.000 Schutzsuchenden. Seit dem Kriegsausbruch haben nur zwölf Syrer politisches Asyl erhalten.
Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2020 versucht sich Japan das Image einer globalisierten, toleranten Nation zuzulegen. Freiwillige mit Englischkenntnissen sollen die Besucher durch Spielstätten und touristische Sehenswürdigkeiten lotsen. Doch auch hier ist viel tatemae im Spiel. Erhebungen der OECD zeigen, dass die Anzahl der japanischen Austauschstudenten kontinuierlich sinkt. Noch 2004 studierten rund 83.000 japanische Staatsbürger auf ausländischen Universitäten, 2014 waren es nur noch 53.000, die meisten davon nahmen an kurzen Austauschprogrammen teil. Auch die Zahl der Mittelschüler, die ins Ausland gingen, fiel zwischen 2014 und 2015 um 15%.
Hauptgründe sind neben den Kosten und mangelnden Sprachkenntnissen auch der Zeitdruck an Japans Schulen, die keine außerschulischen Aktivitäten zulassen. Zudem wird, anders als früher, eine Auslandserfahrung bei der Jobsuche in Japan mittlerweile eher als Nachteil ausgelegt. In 2015 studierten nur knapp 700 Japaner länger als ein Jahr im Ausland, ganze fünf in Harvard, während die US-Eliteuniversität von chinesischen und indischen Studenten überflutet wird.