Ausländer in Japan: Honne oder Tatemae?

Seite 4: Ist die japanische Gesellschaft bereit für Fremde?

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Auch wenn die LDP es anders sieht, viele der neuen Immigranten werden in Japan Wurzeln schlagen, heiraten, Kinder bekommen. Die hierarchische, exklusive und auf Disziplin und Konformität ausgerichtete japanische Gesellschaft macht es den Neuankömmlingen nicht einfach, sich zu integrieren. Offener Alltagsrassismus ist selten, doch es gibt unzählige Verhaltensregeln und Vorschriften, die von Japanern minutiös befolgt werden. Die ausnahmslose Anpassung an gesellschaftliche Normen wird von Fremden erwartet, auch von ausländischen Schulkindern.

Vor wenigen Monaten machte der Fall einer 18-jährigen japanischen Schülerin Schlagzeilen: Sie verklagte die Präfektur Osaka auf ca. 17.000 Euro Schadenersatz, weil sie von der Schuldirektion gezwungen wurde, ihre natürlichen braunen Haare schwarz zu färben. Bei Nichterfüllen der Anordnung drohte ihr der Schulverweis. Alle paar Tage wurde sie einer Follikel-Inspektion unterzogen und zum Nachfärben aufgefordert. Die Schülerin hatte daraufhin Hautreizungen entwickelt und wurde dennoch von einer Schulveranstaltung mit dem Hinweis ausgeschlossen, sogar eine blonde Austauschschülerin hätte sich dieser Regel untergeordnet. Denn ein japanisches Schulkind muss, wie die Mehrheit der Japaner, schwarzes Haar haben.

Ein immer selteneres Bild auf Japans Straßen. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

Die Schule schob zunächst jede Schuld von sich, die Schulbehörden beschwichtigten, es würde sich um einen Einzelfall handeln, bis andere Jugendliche, viele von ihnen mit ausländischen Eltern, von ähnlichen Erfahrungen berichteten. Befragungen in Mittelschulen von Tokio und Osaka ergaben schließlich, dass rund 60 Prozent davon dieselben Regelungen haben und diese auch strikt kontrollieren.

Die Unterdrückung der Individualität und soziale Kontrolle wird in japanischen Schulen ohne Rücksicht auf ethnische Abstammung durchgesetzt. Der Mythos von einem monokulturellen und monoethnischen Land lebt fort und wird auch in den Schulbüchern kultiviert. Eine vor bereits vor 10 Jahren durchgeführte Umfrage der Zeitung Asahi Shimbun ergab, dass 20 bis 30 Prozent aller Kinder der damals größten Ausländergruppe der brasilianischen Gastarbeiter keine Schule besuchten. Das waren über 10.000 Kinder, die entweder die Schule verließen oder den Schulunterricht nie aufgenommen haben. Wie sich die Situation heute darstellt, seit Hunderttausende neue Migranten ins Land geströmt sind, war bislang in den Medien kein Thema.

kanko kogai oder "Tourismusverschmutzung

Die antichinesische und antikoreanische Rhetorik, der sich die Abe-Regierung regelmäßig bediente, hinderte Millionen Touristen aus diesen beiden Ländern nicht daran, Japan zu besuchen. Dank dem billigen Yen, Visa- und Einreiseerleichterungen für Festlandchinesen und einer massiven Ausweitung des Streckennetzes asiatischer Billigfluglinien, erlebt Japan einen bisher nie gekannten touristischen Boom.

Allein 2017 kamen mit 28.7 Millionen ausländischer Gäste um 17 Prozent mehr als im Jahr davor, das war das sechste Wachstumsjahr in Folge - 2012 waren es noch 8.3 Millionen Besucher. Dabei kommt jeweils ein Drittel aus China und aus Südkorea, gefolgt von Taiwan und Hong Kong. Das macht den Tourismus zu einem der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige. Die Regierung peilt bis 2020 sogar 40 Millionen ausländische Gäste an. Um noch mehr Menschen, vor allem vom chinesischen Festland anzulocken, soll nun das Glücksspiel in Casinos legalisiert werden.

Auch hier gab die Regierung dem Druck seitens der Wirtschaftsverbände nach. Die einheimische Tourismusindustrie erlebte seit dem Platzen der Immobilienblase Anfang der 1990er Jahre einen steten Niedergang. Wer einst boomende Kurorte an Thermalquellen, sogenannten Onsens, im Landesinneren besucht, steht nicht selten vor verlassenen Betonburgen und notdürftig geflickten Familienhotels, die sich nur an Wochenenden und an staatlichen Feiertagen ein wenig beleben.

Japanischen Gästen fehlt es entweder an Zeit oder Geld, die Babyboom-Generation vergreist und die Branche hat die Anpassung an die neue Realität verabsäumt. Einheimische Touristen verbringen traditionell nur eine bis zwei Nächte in Hotels, dafür sind sie auch bereit, kräftig in die Tasche zu greifen (wobei im Preis zumeist zwei opulente Mahle inkludiert sind). Ob die ausländischen Besucher diese Orte nun mit einem neuen Leben erfüllen werden, bleibt abzuwarten.

Vorerst steht Japan vor Problemen ganz neuer Art. Die Tourismus-Infrastruktur in den Hauptdestinationen ist durch den Ansturm schlicht überfordert. Einwohner Kyotos und anderer bekannter Orte stöhnen bereits unter den neuen Massen. Wie in Japan üblich wurde dafür rasch ein neuer Begriff kreiert: kanko kogai, etwa "Tourismusverschmutzung".

Wie die Zeitung Asahi Shinbun berichtete, wird Kyoto von ausländischen Touristen geradezu überrannt und die Stadtbewohner lehnen sich, trotz des Geldflusses, zunehmend dagegen auf. Busse und Restaurants seien überfüllt, vor allem stoßen sich die Japaner am Verhalten der Fremden: essen in der Öffentlichkeit, fehlende Manieren, Lärm und Abfall (in Japan gibt es keine Mülleimer, jeder trägt seinen Müll nach Hause, um ihn dort zu entsorgen). Es gibt Berichte über Hotelbesitzer, die ihre Internetseiten nur noch auf Japanisch anbieten und Reservierungen am Telefon nach der Herkunft der Gäste selektionieren. In Tokio wurden rassistische Aufschriften auf Geschäften registriert. Der bekannte Schauspieler Takeshi Kitano merkte dazu in einer Fernsehshow zynisch an, Japan habe seine kulturelle Integrität dem Geld geopfert. Umfragen zufolge haben mittlerweile 80 Prozent der Japaner eine negative Meinung über Menschen aus China.

Und wieder wird an den Premierminister der Vorwurf erhoben: Quantität vor Qualität. Abe gehe es nur um Zahlen. Außerdem würden die Besucher nur an wenige bekannte Hotspots geführt: Tokio, Kyoto, Osaka, Berg Fuji, während andere Teile des Landes vom Boom und dem Geld kaum profitieren würden. Um die entlegenen Orte zu erreichen, mangelt es an der nötigen Infrastruktur und Information. Doch selbst wenn Reisende hinkommen, werden sie veraltete Hotels vorfinden, in welchen keiner mit ihnen in Fremdsprachen kommunizieren kann, sie werden sich vielerorts strikten Regelungen unterordnen müssen (z.B. Frühstück pünktlich um 7 Uhr), sie werden nicht mit Kreditkarte bezahlen und auch nicht Fahrpläne lesen können. Das soll sich laut der Regierung bald ändern. Um die nötigen Geldmittel für Investitionen zu bekommen, soll ab 2019 eine Ausreisegebühr von Besuchern eingehoben werden.

Gegenwärtig konzentriert sich das Land auf die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2020. Wieviel von der neuen, vermeintlichen Offenheit eine schleichende Revolution, also mehr honne und nicht bloß tatemae ist, wird sich erst weisen, wenn die letzten Athleten und Gäste wieder abgereist sind.