Ausländer in Japan: Honne oder Tatemae?

Seite 3: Gerontonomics und Womenomics

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Um die Öffnung des Arbeitsmarktes für Ausländer möglichst hinauszuzögern, versuchte man zunächst die eigenen Ressourcen zu aktivieren. Dank der weltweit höchsten und vor allem behinderungsfreien Lebenserwartung der japanischen Bevölkerung ist es in Japan ein gängiges Bild, überproportional viele Senioren im aktiven Arbeitsleben zu beobachten. Für diese Generation der Japaner gilt Muße nach wie vor als schandhaft, viele wollen noch "etwas Sinnvolles" verrichten.

Viermal mehr als in Deutschland und zehnmal mehr als in Frankreich der über 65-jährigen Japaner sind erwerbstätig, über ein Viertel aller japanischen Rentner sind Vollzeitbeschäftigte. Greise Männer bedienen Bagger auf Baustellen, ältere Frauen schlichten Waren in Supermärkten ein. Auch wenn das Argument einer "sinnvollen Aufgabe" immer wieder vorgeschoben wird, viele dieser Senioren bessern sich mit diesen Jobs ihre oft kargen Renten auf, so manche müssen ihren Kindern finanziell unter die Arme greifen. Andere wiederum hatten in ihrem langen Arbeitsleben keine sozialen Kontakte oder Freizeitaktivitäten entwickelt und wissen mit der neuen Freiheit in der Rente nichts anzufangen. Für sie hat sich die abschätzige Bezeichnung ochiba eingebürgert, ein "feuchtes Herbstlaub", das hartnäckig am Schuh klebt.

Neue Akzente im Straßenbild. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

Auch die berufliche Aktivierung der Frauen, mit Abes plakativem Schlagwort womenomics beschrieben, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Der Premierminister versucht sich als "Frauenfreund" und Sozialpolitiker zu positionieren, predigt gegen die männerdominierte Arbeitskultur Japans. Doch auch hier kommt wieder tatemae ins Spiel. Dem nationalkonservativen Politiker ging es wohl kaum um Gleichberechtigung, als er von einer Gesellschaft, in der "Frauen glänzen sollen", sprach.

Viel mehr liegt Abes Ideal, so verriet er mehrmals, in der Zwischenkriegszeit, den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts: ein armes und von feudalen Strukturen geprägtes Hinterland mit reichen Großstädten, mit einer militarisierten, stramm organisierten und kontrollierten Gesellschaft, über die der gottgleiche Kaiser mit einer Heerschar von Elitebürokraten thronte. In dieser männerdominierten Gesellschaft war der Platz der Frau am Herd und bei den Kindern. Denn trotz aller Rhetorik rutschte Japan im weltweiten "Gender Gap Report" in 2017 von Platz 111 auf 114 - noch vor 10 Jahren lag Japan auf Platz 80. Diese Zahlen beweisen, dass es Abe hauptsächlich darum geht, möglichst viele Frauen ins Arbeitsleben zu holen, nicht aber deren gesellschaftliche Stellung zu verbessern.

In diesem Punkt war Abe erfolgreich, die Frauenbeschäftigungsquote Japans stieg in den letzten fünf Jahren kontinuierlich und lag 2016 bei 66.1 Prozent - höher als der OECD-Durchschnitt von 59.4 Prozent. Dennoch, nur 3.7 Prozent der Führungskräfte in japanischen Betrieben sind weiblich, fast 60 Prozent der Frauen arbeiten mit schlecht bezahlten Zeitverträgen, als Leih- oder Teilzeitangestellte. Bezeichnend auch diese Zahl: Nur 47 der 465 Parlamentsabgeordneten sind Frauen, weit weniger als in China oder Südkorea. Weibliche Angestellte sind, obwohl zumeist besser ausgebildet als Männer, im beruflichen Alltag stark benachteiligt. Zwei Drittel von ihnen landen nach ihrer Mutterschaft in einem anderen Beruf als dem, den sie davor ausgeübt hatten.

Die LDP- Regierung kündigt regelmäßig den Ausbau der Kinderbetreuung an, denn die hohen Kosten und der horrende Mangel an Kindergartenplätzen, vor allem in Ballungsräumen, hindern viele Frauen daran, einer Arbeit nachzugehen. Inzwischen warten 72.000 Kinder auf einen Betreuungsplatz. Eine Mutter machte Schlagzeilen, als sie bloggte: "Mein Kind hat keinen Platz in der Kinderkrippe bekommen. Stirb Japan!!!"

Auch hier zeigt sich der Grund für die Misere: Eine Kindergärtnerin mit über 20 Jahren Berufserfahrung kommt gerade auf 160.000 Yen, knapp 1200 Euro Monatsgehalt, ein Drittel dessen, was ein gleichaltriger Mann verdienen würde. Auch die Arbeitszeiten sind alles andere als familienfreundlich. Von Frauen wie von Männern wird erwartet, dass sie sich für die Firma aufopfern, lange, unbezahlte Überstunden schieben und auf ihren Urlaub verzichten. Teilzeitmodelle bei Festanstellung gibt es kaum. Schlaftrunkene Kinder, die von müden Eltern beim mitternächtlichen Einkauf im 24-Stunden-Supermarkt geschoben werden, sind kein seltenes Bild.

Hiroko Sakamoto ist Volksschullehrerin. Nach einem Schülersuizid, der landesweit Schlagzeilen machte, wurden alle Lehrer des Landes von der Schulbehörde angewiesen, den Wert der Familie in den Fokus ihres Unterrichts zu stellen. Sie lacht zynisch, denn sie selbst kommt meist erst gegen 21 Uhr nach Hause, muss selbst in den Sommerferien zu ihrem Arbeitsplatz und hat kaum Zeit für ihre eigenen Kinder. Wenn es einen Indikator gibt, der das Versagen der Frauenpolitik am anschaulichsten aufzeigt, so ist es die Zahl der Kinder im Land. 2017 lebten in Japan nur noch 15.5 Millionen Kinder unter 14 Jahren, der niedrigste Wert seit Aufnahme der Zählung vor knapp 70 Jahren.