Ausländer in Japan: Honne oder Tatemae?

Aufgrund der Vergreisung der Bevölkerung werden ausgerechnet von der nationalistischen Regierung mehr Ausländer ins Land gelassen, es fehlen Arbeiter, während die Akademiker-Arbeitslosigkeit hoch ist

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Ironischerweise wird es der Amtszeit des rechtskonservativen japanischen Ministerpräsidenten Shinzō Abe beschieden sein, eine soziale Revolution in Gang gesetzt zu haben, die das Selbstverständnis der Japaner erschüttern könnte. Ausgerechnet unter seiner Regierung erlebt das traditionell isolationistische und fremdenskeptische Land einen bisher nie gekannten Zustrom von Ausländern. Ihre Zahl ist seit dem Amtsantritt Abes vor fünfeinhalb Jahren geradezu explodiert.

Diese Politik entstammt weniger einer pragmatischen Einsicht oder einer plötzlichen Wandlung der regierenden rechtsnationalistischen Liberaldemokratischen Partei, kurz LDP. Vielmehr war es eine pragmatische, wenn auch desperate Entscheidung, zu der die Regierung gedrängt wurde: Japans Bevölkerung schrumpft derart rasch, dass dem Land Arbeitskräfte ausgegangen sind.

Ein immer selteneres Bild auf Japans Straßen. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

In dieser historischen Entscheidung geraten zwei unterschiedliche Interessen aneinander. Die Nationalisten halten am Mythos der ethnischen Homogenität um jeden Preis fest und befürchten eine Gefährdung der "einzigartigen Kultur Japans" durch die Fremden. Zahlreichen Aussagen zufolge wären sogar führende Politiker bereit hinzunehmen, wenn sich Japans Bevölkerung innerhalb der kommenden 100 Jahre halbieren würde. Sie argumentieren mit knappen Ressourcen, die künftig einer kleineren Bevölkerung ausreichend zur Verfügung stünden. Große international agierende Unternehmen und Unternehmerverbände drängten hingegen seit Jahren auf eine Öffnung des japanischen Arbeitsmarktes für Immigranten mit der Warnung, ohne sie würde das Land das Niveau seiner Industrieproduktion nicht halten können. Auch die nahenden Olympischen Spiele in Tokio brachten die Regierung unter Zugzwang. Es fehlen Arbeiter auf den Baustellen, viele mussten für Abes Prestigeprojekt von der durch den Tsunami von 2011 verwüsteten Nordostküste Japans abgezogen werden. Abe hat ein Naheverhältnis zur Keidanren, dem "Verband der Japanischen Wirtschaftsorganisationen", gleichzeitig muss er aber auch Stimmen der Ultrarechten von Nippon Kaigi, einer rechtsnationalistischen Organisation und seines konservativen Stammelektorates beachten. Im Februar 2018 sagte Shinzō Abe: "Während wir zu unserer Position gegen die Etablierung einer Einwanderungspolitik stehen, wollen wir Beschränkungen in Bezug auf die Aufenthaltsdauer für ausländische Spezialisten und technische Experten einführen. Indem wir uns auf Bereiche konzentrieren, wo echter Bedarf besteht - vorausgesetzt, dass wir Ausländern nicht erlauben, Familienmitglieder mitzunehmen - würden wir gerne systemische Veränderungen erwägen."

In einer für die japanische Ausdrucksweise typisch vagen Wortwahl meinte der Staatschef demnach, dass eine weitere Öffnung, vor allem für unqualifizierte Arbeiter zwar unabdingbar sei, allerdings mit der Einschränkung, dass es diesen Menschen verwehrt bleiben werde, Teil der japanischen Gesellschaft zu werden. Nach einer festgelegten Periode müssten sie wieder in ihre Länder zurück. Diese Periode wurde erst kürzlich von drei auf maximal fünf Jahre ausgedehnt, eine geplante Gesetzesnovelle wird unter bestimmten Kriterien zusätzliche fünf Jahre erlauben.

Japanische Lösung

Bei der Migrationspolitik entschied man sich für eine "japanische Lösung". Das soziale Konzept von Honne und Tatemae bezeichnet in Japan den Kontrast zwischen den eigenen persönlichen Gefühlen, Wünschen und den Äußerungen und dem Benehmen nach außen, also der Fassade, die von der Gesellschaft erwartet wird. Das ist das stets freundliche japanische "Gesicht" in der Öffentlichkeit.

Im weitesten Sinne dient dieser Verhaltenskodex der Erhaltung der gesellschaftlichen Harmonie. In diesem Geiste werden nun unqualifizierte Gastarbeiter in großer Zahl ins Land geholt, ohne diese als solche zu bezeichnen und ohne sich seitens der Regierung einer öffentlichen Debatte über Einwanderung stellen zu müssen. Dass ausgerechnet nationalistische Politiker, allen voran der Premierminister Shinzō Abe, diese Diskussion unterdrücken, zeugt von der puren Not, die sie antreibt. Offiziell verbietet die Regierung Ausländern, unqualifizierte Tätigkeiten auszuüben, eingeladen werden ausschließlich hochqualifizierte Fachleute für eng definierte Industriesparten.

Neue Akzente im Straßenbild. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

Andererseits werden im Rahmen des sogenannten "Foreign Trainee Program" "technische Praktikanten", oder "Sprachstudenten" aus Entwicklungsländern, die in Japan offiziell die Sprache und einen Beruf erlernen sollen, mit einem Studenten-Visum ins Land geholt. Die Zahl dieser "Praktikanten" und "Studenten" beläuft sich derzeit auf gut eine halbe Million Menschen und soll bis 2024 um weitere 500.000 aufgestockt werden.

Die so angeworbenen Menschen sollen spätestens nach fünf Jahren in ihre Länder wieder zurückkehren - zumindest theoretisch. In Wirklichkeit haben sie in den letzten Jahren das Bild japanischer Städte nachhaltig verändert. Nepalesische Restaurants, chinesische und vietnamesische Tante-Emma Läden und nicht-japanisch aussehende Schulkinder sind für die meisten Japaner eine gänzlich neue Erfahrung. Windige Vermittlungsagenturen für Allerlei und private Sprachschulen von zweifelhafter Qualität sprießen aus dem Boden.

2017 stieg die Zahl der Ausländer im Vergleich zum Jahr davor um fast 7 Prozent auf über 2.47 Millionen Menschen an, 1.28 Millionen davon waren Gastarbeiter. Bei den Letztgenannten gab es eine Steigerung um 18 Prozent. Ausländer machen derzeit 1.95 Prozent der Bevölkerung Japans aus - im Vergleich zu anderen OECD Ländern wenig, doch allein 2015 kamen knapp 400.000 Arbeitsmigranten nach Japan. Nach Deutschland, den USA und Großbritannien war es die höchste Zahl unter allen entwickelten Ländern. Der Trend ist also eindeutig. Allerdings beinhaltet die Gesamtzahl der Ausländer auch ca. eine Million Menschen koreanischer und chinesischer Abstammung, die seit Generationen in Japan leben, teilweise japanische Namen tragen und ihre Muttersprachen verlernten, denen dennoch die Staatsbürgerschaft verwehrt bleibt. Auch bei den ca. 170.000 Brasilianern, die in Zeiten des Wirtschaftsbooms als billige Arbeitskräfte ins Land geholt wurden, handelt es sich in überwiegender Zahl um ethnische Japaner, deren Vorfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in das südamerikanische Land emigriert waren. Trotz ihres japanischen Aussehens und ihres kulturellen Hintergrunds sind sie mit Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert.

Die meisten der Neuankömmlinge stammen aus China, gefolgt von Vietnam, Philippinen und Nepal. Junge Nepalesen fallen aufgrund ihres Äußeren besonders auf. Die meisten kommen mit einem Studentenvisum ins Land. Schon in ihrer Heimat müssen sie sich verpflichten, in Japan einen Sprachkurs zu absolvieren, der aus eigener Tasche zu bezahlen ist. Nach dem Unterricht, so der Deal der Rekrutierungsfirmen, können sie sich bis in späte Abendstunden und am Wochenende in Fabriken und Betrieben als "Trainees" etwas dazu verdienen. Der Stundenlohn liegt zwischen 700 und 1000 Yen (5 bis 8 Euro). Davon sind die Sprachschule, die Wohnung und die Verpflegung zu bezahlen - keine leichte Aufgabe in einem Land mit deutlich höherem Preisniveau als in Westeuropa.

Weil sie offiziell als nicht angestellt gelten, sind sie rechtlos und auf das Wohlwollen ihrer Arbeitgeber angewiesen. Erst in April 2018 machten Fälle mehrerer Vietnamesen Schlagzeilen, die, statt wie vereinbart, bei einer Baufirma ausgebildet zu werden, zu Aufräumarbeiten an kontaminierten Orten in Fukushima oder gar am Gelände des havarierten Atomkraftwerks eingesetzt wurden. Dabei hatte die Firma ihre Gefahrenzulagen einbehalten. Andere vietnamesische Arbeiter berichteten von Misshandlungen, Zahlungsweigerung, wahllosen Kündigungen oder von vertuschten Arbeitsunfällen. Die Anzahl der Vietnamesen hat sich innerhalb von fünf Jahren vervierfacht und lag Mitte 2017 bei rund 230.000. Ähnlich ist die Entwicklung bei chinesischen Migranten. Diese tendieren allerdings dazu, selbst kleine Unternehmen, etwa Restaurants oder Geschäfte zu gründen.

Die Regierung möchte sich die "richtigen" Ausländer rauspicken. Touristen und geladene "Praktikanten" sind willkommen, denn sie bleiben nur vorübergehend. Andere Fremde sind nach wie vor unterwünscht. Wer es als politischer Flüchtling ins Land schafft, Syrer oder Rohingyas aus Myanmar etwa, hat auf japanischem Boden keine Chance. Japan erledigte 2017 nur 20 Asylanträge positiv und das bei einer Rekordzahl von 20.000 Schutzsuchenden. Seit dem Kriegsausbruch haben nur zwölf Syrer politisches Asyl erhalten.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2020 versucht sich Japan das Image einer globalisierten, toleranten Nation zuzulegen. Freiwillige mit Englischkenntnissen sollen die Besucher durch Spielstätten und touristische Sehenswürdigkeiten lotsen. Doch auch hier ist viel tatemae im Spiel. Erhebungen der OECD zeigen, dass die Anzahl der japanischen Austauschstudenten kontinuierlich sinkt. Noch 2004 studierten rund 83.000 japanische Staatsbürger auf ausländischen Universitäten, 2014 waren es nur noch 53.000, die meisten davon nahmen an kurzen Austauschprogrammen teil. Auch die Zahl der Mittelschüler, die ins Ausland gingen, fiel zwischen 2014 und 2015 um 15%.

Hauptgründe sind neben den Kosten und mangelnden Sprachkenntnissen auch der Zeitdruck an Japans Schulen, die keine außerschulischen Aktivitäten zulassen. Zudem wird, anders als früher, eine Auslandserfahrung bei der Jobsuche in Japan mittlerweile eher als Nachteil ausgelegt. In 2015 studierten nur knapp 700 Japaner länger als ein Jahr im Ausland, ganze fünf in Harvard, während die US-Eliteuniversität von chinesischen und indischen Studenten überflutet wird.

Demographisches Damoklesschwert

Eines der größten Probleme, mit dem die japanische Gesellschaft konfrontiert ist, ist die demographische Entwicklung. 2017 fiel die Bevölkerung zum achten Mal in Folge, diesmal am raschesten seit 1968, seit es dazu Aufzeichnungen gibt. Zum ersten Mal lag die Zahl der Geburten unter einer Million, während über 1.3 Millionen Menschen starben, ein Netto-Verlust von 328.312 Menschen.

Während ganze Landstriche, etwa in der nördlichen Region Tohoku oder der Präfektur Hokkaido entvölkert sind und verwahrlosen, wächst die Bevölkerung in einigen wenigen Ballungsräumen wie Tokio. In keinem anderen Land der Welt leben so viele alte Menschen wie in Japan, über 65-Jährige machen bereits 27 Prozent der Bevölkerung aus - zum Vergleich: in Deutschland und Frankreich sind es knapp 20 Prozent. Auf jeden japanischen Rentner entfielen 1965 im Schnitt neun Erwerbstätige - in 20 Jahren werden es Prognosen zufolge nur noch drei sein.

Neue Akzente im Straßenbild. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

Eine rasch alternde Bevölkerung bedeutet einen höheren Bedarf an Pflegekräften. Bereits jetzt vermag der Gesundheits- und Pflegesektor den Bedarf nicht zu decken. Allein bis 2025 sollte die Zahl der Fachkräfte bei der Altenpflege um 380.000 steigen, für 2040 wird der Bedarf an Krankenpflegepersonal auf über 10 Millionen Menschen geschätzt - somit würde jeder fünfte in diesem Sektor arbeiten.

Seit 2008 versuchten einzelne Präfekturen auf eigene Faust entgegenzusteuern und luden ausländische, vor allem philippinische, indonesische und vietnamesische Pflegekräfte ein. In Japan angekommen, mussten diese eine jahrelange Ausbildung absolvieren und eine staatliche Prüfung ablegen, denn ihre ursprünglichen Diplome wurden nicht anerkannt. Von den wenigen Krankenschwestern, die diese Hürden schafften, kehrten bald danach rund 40 Prozent wegen der schlechten Arbeitsbedingungen und langen Arbeitszeiten Japan wieder den Rücken. Mit der Ausweitung des "Foreign Trainee Program" um Pflegekräfte und einer neuen Visakategorie versucht die Regierung nun auch hier Abhilfe zu schaffen.

Es ist nicht nur der Bevölkerungsschwund, der für den Mangel an unqualifizierten Arbeitern verantwortlich zeichnet. Japan hat mit 46.6 Prozent die dritthöchste Akademikerquote weltweit. Im Vergleich dazu besitzen in Deutschland 17 und in Österreich 14 Prozent einen Universitätsabschluss. Die meisten Japaner sind für einfache Tätigkeiten überqualifiziert.

Gerontonomics und Womenomics

Um die Öffnung des Arbeitsmarktes für Ausländer möglichst hinauszuzögern, versuchte man zunächst die eigenen Ressourcen zu aktivieren. Dank der weltweit höchsten und vor allem behinderungsfreien Lebenserwartung der japanischen Bevölkerung ist es in Japan ein gängiges Bild, überproportional viele Senioren im aktiven Arbeitsleben zu beobachten. Für diese Generation der Japaner gilt Muße nach wie vor als schandhaft, viele wollen noch "etwas Sinnvolles" verrichten.

Viermal mehr als in Deutschland und zehnmal mehr als in Frankreich der über 65-jährigen Japaner sind erwerbstätig, über ein Viertel aller japanischen Rentner sind Vollzeitbeschäftigte. Greise Männer bedienen Bagger auf Baustellen, ältere Frauen schlichten Waren in Supermärkten ein. Auch wenn das Argument einer "sinnvollen Aufgabe" immer wieder vorgeschoben wird, viele dieser Senioren bessern sich mit diesen Jobs ihre oft kargen Renten auf, so manche müssen ihren Kindern finanziell unter die Arme greifen. Andere wiederum hatten in ihrem langen Arbeitsleben keine sozialen Kontakte oder Freizeitaktivitäten entwickelt und wissen mit der neuen Freiheit in der Rente nichts anzufangen. Für sie hat sich die abschätzige Bezeichnung ochiba eingebürgert, ein "feuchtes Herbstlaub", das hartnäckig am Schuh klebt.

Neue Akzente im Straßenbild. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

Auch die berufliche Aktivierung der Frauen, mit Abes plakativem Schlagwort womenomics beschrieben, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Der Premierminister versucht sich als "Frauenfreund" und Sozialpolitiker zu positionieren, predigt gegen die männerdominierte Arbeitskultur Japans. Doch auch hier kommt wieder tatemae ins Spiel. Dem nationalkonservativen Politiker ging es wohl kaum um Gleichberechtigung, als er von einer Gesellschaft, in der "Frauen glänzen sollen", sprach.

Viel mehr liegt Abes Ideal, so verriet er mehrmals, in der Zwischenkriegszeit, den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts: ein armes und von feudalen Strukturen geprägtes Hinterland mit reichen Großstädten, mit einer militarisierten, stramm organisierten und kontrollierten Gesellschaft, über die der gottgleiche Kaiser mit einer Heerschar von Elitebürokraten thronte. In dieser männerdominierten Gesellschaft war der Platz der Frau am Herd und bei den Kindern. Denn trotz aller Rhetorik rutschte Japan im weltweiten "Gender Gap Report" in 2017 von Platz 111 auf 114 - noch vor 10 Jahren lag Japan auf Platz 80. Diese Zahlen beweisen, dass es Abe hauptsächlich darum geht, möglichst viele Frauen ins Arbeitsleben zu holen, nicht aber deren gesellschaftliche Stellung zu verbessern.

In diesem Punkt war Abe erfolgreich, die Frauenbeschäftigungsquote Japans stieg in den letzten fünf Jahren kontinuierlich und lag 2016 bei 66.1 Prozent - höher als der OECD-Durchschnitt von 59.4 Prozent. Dennoch, nur 3.7 Prozent der Führungskräfte in japanischen Betrieben sind weiblich, fast 60 Prozent der Frauen arbeiten mit schlecht bezahlten Zeitverträgen, als Leih- oder Teilzeitangestellte. Bezeichnend auch diese Zahl: Nur 47 der 465 Parlamentsabgeordneten sind Frauen, weit weniger als in China oder Südkorea. Weibliche Angestellte sind, obwohl zumeist besser ausgebildet als Männer, im beruflichen Alltag stark benachteiligt. Zwei Drittel von ihnen landen nach ihrer Mutterschaft in einem anderen Beruf als dem, den sie davor ausgeübt hatten.

Die LDP- Regierung kündigt regelmäßig den Ausbau der Kinderbetreuung an, denn die hohen Kosten und der horrende Mangel an Kindergartenplätzen, vor allem in Ballungsräumen, hindern viele Frauen daran, einer Arbeit nachzugehen. Inzwischen warten 72.000 Kinder auf einen Betreuungsplatz. Eine Mutter machte Schlagzeilen, als sie bloggte: "Mein Kind hat keinen Platz in der Kinderkrippe bekommen. Stirb Japan!!!"

Auch hier zeigt sich der Grund für die Misere: Eine Kindergärtnerin mit über 20 Jahren Berufserfahrung kommt gerade auf 160.000 Yen, knapp 1200 Euro Monatsgehalt, ein Drittel dessen, was ein gleichaltriger Mann verdienen würde. Auch die Arbeitszeiten sind alles andere als familienfreundlich. Von Frauen wie von Männern wird erwartet, dass sie sich für die Firma aufopfern, lange, unbezahlte Überstunden schieben und auf ihren Urlaub verzichten. Teilzeitmodelle bei Festanstellung gibt es kaum. Schlaftrunkene Kinder, die von müden Eltern beim mitternächtlichen Einkauf im 24-Stunden-Supermarkt geschoben werden, sind kein seltenes Bild.

Hiroko Sakamoto ist Volksschullehrerin. Nach einem Schülersuizid, der landesweit Schlagzeilen machte, wurden alle Lehrer des Landes von der Schulbehörde angewiesen, den Wert der Familie in den Fokus ihres Unterrichts zu stellen. Sie lacht zynisch, denn sie selbst kommt meist erst gegen 21 Uhr nach Hause, muss selbst in den Sommerferien zu ihrem Arbeitsplatz und hat kaum Zeit für ihre eigenen Kinder. Wenn es einen Indikator gibt, der das Versagen der Frauenpolitik am anschaulichsten aufzeigt, so ist es die Zahl der Kinder im Land. 2017 lebten in Japan nur noch 15.5 Millionen Kinder unter 14 Jahren, der niedrigste Wert seit Aufnahme der Zählung vor knapp 70 Jahren.

Ist die japanische Gesellschaft bereit für Fremde?

Auch wenn die LDP es anders sieht, viele der neuen Immigranten werden in Japan Wurzeln schlagen, heiraten, Kinder bekommen. Die hierarchische, exklusive und auf Disziplin und Konformität ausgerichtete japanische Gesellschaft macht es den Neuankömmlingen nicht einfach, sich zu integrieren. Offener Alltagsrassismus ist selten, doch es gibt unzählige Verhaltensregeln und Vorschriften, die von Japanern minutiös befolgt werden. Die ausnahmslose Anpassung an gesellschaftliche Normen wird von Fremden erwartet, auch von ausländischen Schulkindern.

Vor wenigen Monaten machte der Fall einer 18-jährigen japanischen Schülerin Schlagzeilen: Sie verklagte die Präfektur Osaka auf ca. 17.000 Euro Schadenersatz, weil sie von der Schuldirektion gezwungen wurde, ihre natürlichen braunen Haare schwarz zu färben. Bei Nichterfüllen der Anordnung drohte ihr der Schulverweis. Alle paar Tage wurde sie einer Follikel-Inspektion unterzogen und zum Nachfärben aufgefordert. Die Schülerin hatte daraufhin Hautreizungen entwickelt und wurde dennoch von einer Schulveranstaltung mit dem Hinweis ausgeschlossen, sogar eine blonde Austauschschülerin hätte sich dieser Regel untergeordnet. Denn ein japanisches Schulkind muss, wie die Mehrheit der Japaner, schwarzes Haar haben.

Ein immer selteneres Bild auf Japans Straßen. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

Die Schule schob zunächst jede Schuld von sich, die Schulbehörden beschwichtigten, es würde sich um einen Einzelfall handeln, bis andere Jugendliche, viele von ihnen mit ausländischen Eltern, von ähnlichen Erfahrungen berichteten. Befragungen in Mittelschulen von Tokio und Osaka ergaben schließlich, dass rund 60 Prozent davon dieselben Regelungen haben und diese auch strikt kontrollieren.

Die Unterdrückung der Individualität und soziale Kontrolle wird in japanischen Schulen ohne Rücksicht auf ethnische Abstammung durchgesetzt. Der Mythos von einem monokulturellen und monoethnischen Land lebt fort und wird auch in den Schulbüchern kultiviert. Eine vor bereits vor 10 Jahren durchgeführte Umfrage der Zeitung Asahi Shimbun ergab, dass 20 bis 30 Prozent aller Kinder der damals größten Ausländergruppe der brasilianischen Gastarbeiter keine Schule besuchten. Das waren über 10.000 Kinder, die entweder die Schule verließen oder den Schulunterricht nie aufgenommen haben. Wie sich die Situation heute darstellt, seit Hunderttausende neue Migranten ins Land geströmt sind, war bislang in den Medien kein Thema.

kanko kogai oder "Tourismusverschmutzung

Die antichinesische und antikoreanische Rhetorik, der sich die Abe-Regierung regelmäßig bediente, hinderte Millionen Touristen aus diesen beiden Ländern nicht daran, Japan zu besuchen. Dank dem billigen Yen, Visa- und Einreiseerleichterungen für Festlandchinesen und einer massiven Ausweitung des Streckennetzes asiatischer Billigfluglinien, erlebt Japan einen bisher nie gekannten touristischen Boom.

Allein 2017 kamen mit 28.7 Millionen ausländischer Gäste um 17 Prozent mehr als im Jahr davor, das war das sechste Wachstumsjahr in Folge - 2012 waren es noch 8.3 Millionen Besucher. Dabei kommt jeweils ein Drittel aus China und aus Südkorea, gefolgt von Taiwan und Hong Kong. Das macht den Tourismus zu einem der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige. Die Regierung peilt bis 2020 sogar 40 Millionen ausländische Gäste an. Um noch mehr Menschen, vor allem vom chinesischen Festland anzulocken, soll nun das Glücksspiel in Casinos legalisiert werden.

Auch hier gab die Regierung dem Druck seitens der Wirtschaftsverbände nach. Die einheimische Tourismusindustrie erlebte seit dem Platzen der Immobilienblase Anfang der 1990er Jahre einen steten Niedergang. Wer einst boomende Kurorte an Thermalquellen, sogenannten Onsens, im Landesinneren besucht, steht nicht selten vor verlassenen Betonburgen und notdürftig geflickten Familienhotels, die sich nur an Wochenenden und an staatlichen Feiertagen ein wenig beleben.

Japanischen Gästen fehlt es entweder an Zeit oder Geld, die Babyboom-Generation vergreist und die Branche hat die Anpassung an die neue Realität verabsäumt. Einheimische Touristen verbringen traditionell nur eine bis zwei Nächte in Hotels, dafür sind sie auch bereit, kräftig in die Tasche zu greifen (wobei im Preis zumeist zwei opulente Mahle inkludiert sind). Ob die ausländischen Besucher diese Orte nun mit einem neuen Leben erfüllen werden, bleibt abzuwarten.

Vorerst steht Japan vor Problemen ganz neuer Art. Die Tourismus-Infrastruktur in den Hauptdestinationen ist durch den Ansturm schlicht überfordert. Einwohner Kyotos und anderer bekannter Orte stöhnen bereits unter den neuen Massen. Wie in Japan üblich wurde dafür rasch ein neuer Begriff kreiert: kanko kogai, etwa "Tourismusverschmutzung".

Wie die Zeitung Asahi Shinbun berichtete, wird Kyoto von ausländischen Touristen geradezu überrannt und die Stadtbewohner lehnen sich, trotz des Geldflusses, zunehmend dagegen auf. Busse und Restaurants seien überfüllt, vor allem stoßen sich die Japaner am Verhalten der Fremden: essen in der Öffentlichkeit, fehlende Manieren, Lärm und Abfall (in Japan gibt es keine Mülleimer, jeder trägt seinen Müll nach Hause, um ihn dort zu entsorgen). Es gibt Berichte über Hotelbesitzer, die ihre Internetseiten nur noch auf Japanisch anbieten und Reservierungen am Telefon nach der Herkunft der Gäste selektionieren. In Tokio wurden rassistische Aufschriften auf Geschäften registriert. Der bekannte Schauspieler Takeshi Kitano merkte dazu in einer Fernsehshow zynisch an, Japan habe seine kulturelle Integrität dem Geld geopfert. Umfragen zufolge haben mittlerweile 80 Prozent der Japaner eine negative Meinung über Menschen aus China.

Und wieder wird an den Premierminister der Vorwurf erhoben: Quantität vor Qualität. Abe gehe es nur um Zahlen. Außerdem würden die Besucher nur an wenige bekannte Hotspots geführt: Tokio, Kyoto, Osaka, Berg Fuji, während andere Teile des Landes vom Boom und dem Geld kaum profitieren würden. Um die entlegenen Orte zu erreichen, mangelt es an der nötigen Infrastruktur und Information. Doch selbst wenn Reisende hinkommen, werden sie veraltete Hotels vorfinden, in welchen keiner mit ihnen in Fremdsprachen kommunizieren kann, sie werden sich vielerorts strikten Regelungen unterordnen müssen (z.B. Frühstück pünktlich um 7 Uhr), sie werden nicht mit Kreditkarte bezahlen und auch nicht Fahrpläne lesen können. Das soll sich laut der Regierung bald ändern. Um die nötigen Geldmittel für Investitionen zu bekommen, soll ab 2019 eine Ausreisegebühr von Besuchern eingehoben werden.

Gegenwärtig konzentriert sich das Land auf die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2020. Wieviel von der neuen, vermeintlichen Offenheit eine schleichende Revolution, also mehr honne und nicht bloß tatemae ist, wird sich erst weisen, wenn die letzten Athleten und Gäste wieder abgereist sind.